Wie leben wir in Zukunft?

Dieser Wechsel des „Betriebssystems“ wird eine neue Phase der Zivilisation einleiten, die mit ähnlich einschneidenden Veränderungen einhergeht, wie der ...
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Wie leben wir in Zukunft? Dessauer Thesen zur Energielandschaft 3.0 Dass die fossilen Energieressourcen zur Neige gehen, ist bereits absehbar. Doch ihren Ge­ brauch sollten wir wegen des Klimawandels ohnehin längst einstellen. Die Menschheit steht vor der Herausforderung, ein neues, nachhaltiges Energiesystem auszubilden. Dieser Wechsel des „Betriebssystems“ wird eine neue Phase der Zivilisation einleiten, die mit ähnlich einschneidenden Veränderungen einhergeht, wie der Beginn der Sesshaftigkeit oder der des fossilen Zeitalters. Neue Siedlungsformen und -muster werden entstehen. Wir müssen das Gewohnte hinter uns lassen und uns dem Unbekannten stellen. Im Sommer 2011 trafen sich am Bauhaus Dessau im Rahmen der internationalen Sommerschule „Energy Landscapes 3.0“ Gestalter, Ingenieure und Wissenschaftler, Experten und Stu­ dierende aus 25 Ländern, um sich ein Bild von einer möglichen Zukunft zu machen. Die folgenden „Dessauer Thesen“ fassen die Resultate zusammen.

1. Power by the people: Jeder Konsument wird Produzent

2. Die Welt wird flach und mobil: Ein Lob der Oberflächlichkeit

Seit mehr als hundert Jahren basiert die Energieversorgung auf einer klaren Trennung zwischen Produktion und Verbrauch: Wenige große, hochzentralisierte und machtvolle Energieversorger organisieren Herstellung und Vertrieb von Energie top-down, ihre passiven, zahlenden Abnehmer sind letzt­ endlich abhängige Verbraucher. Das fossile Energiesystem mit seiner hohen Energiedichten ermöglichte und bedingte dieses hierarchische Modell, das nun an sein Ende gekommen ist.

Das fossil-nukleare Zeitalter ist eine Ausnahmeerscheinung. Es verbrauchte nicht nur die energetischen Speicher von Jahrmillionen, es nahm auch Hypotheken für künftige Jahrzehntausende auf. Dieser Übergriff in Vergangenheit und Zukunft – die zeitliche Entgrenzung – geht mit einer räumlichen Entgrenzung einher: Für die Nutzung der Kohlen­ stoffe griff der Mensch mit Bohrungen bis zu zehn Kilometer tief in die Erdkruste ein und erzeugte Kohlenstoffverbindungen, die die Atmosphäre noch in 50 Kilometern Höhe wesentlich verändern. Ob der Unfall der Deepwater Horizon im Jahr 2010 oder die seit den Achtzigerjahren beobachte Beschädigung der Ozonschicht: Es zeigt sich, dass der Mensch Prozesse entfesselt, die er selbst nicht mehr kontrollieren kann. Er agiert jenseits des von ihm gestaltbaren Raumes – sowohl zeitlich wie räumlich.

Die Etablierung erneuerbarer Energien erfordert nicht nur eine technologische Umstellung, sondern setzt auch andere Formen von Produktion, Verteilung, Inter­ aktion und Konsumption voraus. Jeder Kon­ sument wird in den Energielandschaften 3.0 selbst zum Produzent, jedes Haus zum Kraftwerk. Verteilungsnetze werden zu Tauschnetzen, an denen sich unzählige „Prosumenten“ beteiligen, die je nach Bedarf in den gemeinschaftlichen Energie­ pool einspeisen oder Energie entnehmen. Weder Produktion noch Konsumption sind zentralisiert, wohl aber gibt es ein zen­ trales Netzwerk, das den Austausch aller ermöglicht. Nicht Autonomie, sondern aktive Teilhabe ist das Ziel.

3. Immateriell und beschleunigt Dass fossile Zeitalter ist atavistisch: Enorme Stoffmengen müssen bewegt werden, um unseren Energiehunger zu befriedigen. Die postfossile Ära wird hingegen zunehmend immaterieller: Strahlungen und Strömungen werden in Energieströme verwandelt, ohne Materie zu bewegen. Zugleich setzt eine ungeahnte Beschleunigung ein: Während Jahrmillionen vergehen mussten, um die Ressourcen für unsere heutige Energieversorgung anzusparen, werden wir in Zukunft Just-in-time die Energie gewinnen, die wir benötigen.

Das postfossile Zeitalter wird dagegen ein weitgehend flaches sein: Energie wird auf der Erdoberfläche gesammelt und ohne Schadstoffausstoß verbraucht. Dennoch geht es nicht um die schlichte Rückkehr zum präfossilen Zeitalter – die postfossile Ära profitiert von einem essentiellen Entwicklungsschritt der fossilen: der Mobilisierung von Energie. Das präfossile Zeitalter war flach und statisch, Energie wurde ausschließlich dort verwandt, wo Sie gewonnen wurde: an Wäldern, Flüssen, Feldern. Das fossile Zeitalter mobilisierte die Energie zum ersten Mal: Mit Erfindungen wie der Dampfmaschine und der Eisenbahn, Elektrizitätsnetzen, Pipelines, flüssigem Gas, Batterien usw. wurde Energie allgegenwärtig. Diese Mobilität der Energie wird auch das postfossile Zeitalter prägen, denn dieses wird Energietechnologien und -infrastrukturen aus der fossilen Epoche weiterentwickeln. Die Welt wird flach und mobil.

4. Ende der Anomalie: More with less

5. Lokal spezifisch, global vernetzt

Durch die Plünderung der über Jahr­ millionen angesparten Energievorräte haben wir uns an einen unmäßigen Energie­ verbrauch gewöhnt. Die Menschheit ver­ braucht gegenwärtig in einem einzigen Jahr soviel fossile Energie, wie in 18 Millionen Jahren entstanden ist. Würden die Menschen weltweit den amerikanischen Lebensstil übernehmen, wäre es sogar das Äquivalent von 81 Millionen Jahren. In Zukunft werden wir mit Energie effizienter und intelligenter umgehen müssen und Mehr mit Weniger machen (Richard Buckminster Fuller). Das fossile Zeitalter war ein Strohfeuer, eine Starthilfe, die es uns ermöglichte, neue Materialien und effizientere Technologien zu entwickeln. Das postfossile Zeitalter wird dieses Wissen zu einer Effizienzrevolution nutzen und weiterentwickeln.

Soweit wie möglich wird Energie in Zukunft dort erzeugt, wo sie tatsächlich benötigt wird. Dies wird entsprechend der jeweiligen Potenziale geschehen. Das Energiesystem wird sich räumlich ausdifferenzieren und weniger homogen sein. Zugleich sind überregionale und transnationale Energie­ netze notwendig, um lokale Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage auszu­ gleichen. So wird auch die Versorgung städtischer Agglomerationen möglich, da diese mehr Energie verbrauchen, als sie erzeugen können.

6. Ein künstliches, selbstlernendes Ökosystem Das postfossile Energiesystem ist nicht konstant, sondern intelligent und dynamisch. Es reagiert auf Veränderungen von Angebot und Nachfrage, Kommunikation und Interaktion ersetzen fixe Standards. Die Energiesysteme werden in Zukunft weniger autonom sein, sondern stärker mit anderen Lebensbereichen integriert. Das postfossile Energiesystem wird sich evolutionär und sukzessive aus einer Konkurrenz verschiedenster Möglichkeiten entwickeln.

Die Geschichte der menschlichen Zivilisation Die Geschichte der menschlichen Zivilisation ist geprägt von der Entwicklung ihrer Energiesysteme. Von nomadischen Jägern und Sammlern ohne feste Bauten bis hin zur modernen Megacity lässt sich die Geschichte der Zivilisation als Folge von Energiesystemen lesen.

Energielandschaft 0.0: Jäger und Sammler (160.000

– 10.000 v. Chr.)

Hauptenergiequelle: Sonnenenergie, umgewandelt in Nahrungsmittel und Brennstoff

Energielandschaft 1.0: Präindustrielle Ära (10.000

Abstand Energiequelle – Lebensort: 0 km Energieverbrauch pro Kopf: 0,0628 toe/Jahr Maximale Siedlungsdichte: 1 Person/qkm

Hauptenergiequellen: Sonnenenergie umgewandelt in Nahrungsmittel und Brennstoffe, Wind- und Wasserkraft

Gruppengröße: 50 Personen (nicht sesshaft)

Abstand Energiequelle – Lebensort: 30 km

v. Chr. – 1800)

Energieverbrauch pro Kopf: 0,645 toe/Jahr Zu den Zeiten der Jäger und Sammler gab es noch kein menschliches Energiesystem, Menschen partizipierten wie alle anderen Lebewesen an natürlichen Energieflüssen. Dabei prägen Energiesysteme stets auch Formen der Behausung und Besiedlung: Ohne eigenes Energie­ system lebten die Menschen als nomadische Kleingruppen in Zelten.

Energielandschaft 2.0: Industrielles Zeitalter (1800

– 2100)

Hauptenergiequellen: Kohle, Erdöl, Erdgas, Atomenergie Abstand Energiequelle – Lebensort: Energie ist potenziell überall verfügbar

Maximale Siedlungsdichte: 50 Personen/qkm Maximale Stadtgröße: 500.000 Einwohner

Mit der Sesshaftigkeit emanzipierten sich die Menschen erstmals von dieser direkten Abhängigkeit. Längerfristige Planung und die Anlage von Energievorräten wurde möglich. Die Landwirtschaft erlaubte erstmals die gezielte Gewinnung von Solarenergie in Form von Biomasse und Speicherung in Form von Lebensmitteln und Brennstoffen. Dieses erste Energiesystem erlaubte größere Besiedlungsdichten – bis hin zu Entstehung von Städten. Denn erst mit der Energieemanzipation durch Landwirtschaft entstanden permanente Bauten und eine zunehmende Verdichtung wurde möglich: Es entstanden Städte mit bis zu einer halben Million Einwohnern. Die Bauten waren dem lokalen Klima angepasst, Baustoffe stammten aus der Umgebung.

Energieverbrauch pro Kopf: 4,19 toe/Jahr (Deutschland 2010) Maximale Siedlungsdichte: 1000 Personen/qkm

Energielandschaft 3.0: Postindustrielles Zeitalter

Maximale Stadtgröße: 50.000.000 Einwohner

Mit dem langsamen, aber stetigen Wachstum der Menschheit stieß die präfossile Form der Energieversorgung nach etwa 15.000 Jahren an ihre Grenzen. Siedlungsdichte und Stadtgrößen überschritten die Grenzen des Möglichen. Die Nutzung von fossilen Energieträgern bot – wenn auch nur vorübergehend – einen Ausweg: Die Mobilisierung der über Jahrmillionen in fossiler Biomasse gespeicherten Energie ermöglichte eine Vervielfältigung bisheriger Siedlungsdichten und Stadtgrößen. Fossile Energien führten zu einer weitgehenden Aufhebung bisheriger Restriktionen: Bauten konnten nun an jeg­ lichem Ort entstehen, sehr große und hohe Bauten wurden ebenso möglich, wie Megastädte mit 50 Millionen Einwohnern. Eine Phase rapiden globalen Wachstums mit Bevölkerungsexplosion und der Ausbildung von Metropolen begann, die nach 300 Jahren nun zu Ende geht.

(2100ff)

Hauptenergiequellen: Sonne, Wind, Wasser, Geothermie, Biomasse Abstand Energiequelle – Lebensort: theoretisch wird Energie überall verfügbar sein, aber aus Effizienzgründen hauptsächlich dort erzeugt, wo sie verbraucht wird Energieverbrauch pro Kopf: niedriger als heute in den industriellen Ländern Maximale Siedlungsdichte: unbekannt (höher als im vorindustriellen Zeitalter) Maximale Stadtgröße: unbekannt (höher als im vorindustriellen Zeitalter)

So schwer es heute ist, ein Bild von der postfossilen Stadt zu gewinnen, so unbestreitbar ist, dass das Ende des fossilen Zeitalters auch Formen der Besiedlung und Behausung grundlegend verändern wird – so, wie dies auch bei den früheren Wechseln des Energiesystems der Fall war.

Impressum: Stiftung Bauhaus Dessau Gropiusallee 38 06846 Dessau-Roßlau Dessau, August 2011

Energielandschaften 3.0 ist ein Projekt der Stiftung Bauhaus Dessau in Kooperation mit TD-architects Rotterdam unter Einbeziehung der Ergebnisse der gleichnamigen Sommerschule am Bauhaus Dessau im Juli 2011