welt und person

Peter Furth hat ... 1 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Suhrkamp Theorie Werkausgabe ... Siehe G.W.F. Hegel: Jenaer Schriften (Suhrkamp.
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Welt und Person

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Rahel Jaeggi

WELT UND PERSON Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts

Lukas Verlag 3

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Jaeggi, Rahel: Welt und Person : zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts / Rahel Jaeggi. – Berlin : Lukas Verl., 1997 ISBN 3–931836–04–5

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage 1997 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D–10405 Berlin Umschlag und Satz: Verlag Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf umweltverträglich hergestelltem und absolut alterungsbeständigem Papier Printed in Germany ISBN 3–931836–04–5

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Inhalt

Einleitung

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I. Gesellschaft

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»Ein merkwürdiges Zwischenreich«: Die bürgerliche Gesellschaft bei Arendt und Hegel Konformismus: »Die Tyrannei der Mehrheit« als »Herrschaft des Niemand« Arendt und Heidegger: »Diktatur des Man«

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II. Politik

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»Einen Anfang machen«: Hannah Arendts Begriff des Politischen» »Die im Dunkeln sieht man nicht«: Hannah Arendt und die sozialen Bewegungen

III. Welt »Bedeutsamkeit« und »Offenbarkeit«: Heideggers Weltbegriff Der »Zwischenraum«: Hannah Arendts Weltbegriff Die Weltlichkeit der Politik und die Unweltlichkeit der Gesellschaft Arendt und Heidegger: Monologische vs. intersubjektive Konstitution von Welt

IV. Person Die Person: das »Wer-einer-ist« Flucht ins Selbst: Die bürgerliche Innerlichkeit Pathologien des Selbst und der Welt: Weltlosigkeit und Selbstlosigkeit

V. Weltentfremdung Weltentfremdung: Dimensionen des Begriffs Marx und Arendt: Selbstentfremdung vs. Weltentfremdung

Anhang Siglen Literatur

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Einleitung Hannah Arendts Philosophie läßt sich als Gesellschaftskritik verstehen. Gesellschaft gilt ihr von der Varnhagenbiographie bis zur Totalitarismusanalyse als Ort konformisierender Herrschaft, als Deformation der Sphäre politischer Öffentlichkeit, als gefährliche Einschränkung der Verwirklichungsbedingungen menschlicher Freiheit. Insoweit dürfte unter den Interpreten Einigkeit bestehen. Fraglich sind dagegen die Maßstäbe der Kritik. Hier wird ihr gemeinhin eine antimoderne und elitäre Haltung unterstellt, eine Prägung von »hellenistic nostalgia« wie vom Zeitgeist der 20er Jahre. Zu nahe scheint ihr Anliegen der konservativen Kulturkritik an der modernen »Massengesellschaft« verwandt, um als »emanzipatorische« Kritik gelten zu können. Gegen eine solche Einschätzung sprechen allerdings bereits die radikaldemokratischen Implikationen ihrer Idee politischen Handelns. Und tatsächlich bleibt Ihre Modernekritik orientiert am Ideal der Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung autonomer Individuen. Ich möchte Hannah Arendts Gesellschaftskritik für eine sozialphilosophische Analyse der Pathologien des Sozialen fruchtbar machen. Das ist nur möglich, wenn ihre Gesellschaftskritik vor den kritischen Maßstab ihres Politikbegriffs gehalten wird. Und das wiederum erfordert, sich die spezifische Mischung zu vergegenwärtigen, die eine von Aristoteles kommende Orientierung an einer gemeinsamen Praxis der Selbstregierung freier Bürger und das von der Philosophie Martin Heideggers inspirierte Ideal der »Authentizität« in Arendts Denken eingegangen sind. Die Frage nach dem Politischen ist die Frage nach den Bedingungen für ein gelingendes Welt- und Selbstverhältnis. So lautet denn auch Hannah Arendts zentrale Diagnose: die modernen Gesellschaften sind geprägt vom Phänomen der »Weltentfremdung«. Wie aber ist diese Diagnose zu verstehen? Was bedeutet hier »Welt«, wie ist das Subjekt zu beschreiben, das sich von der Welt »entfremdet«, und wie sieht im Gegensatz dazu ein gelingendes Selbst- und Weltverhältnis aus? Nachdem in den ersten beiden Kapiteln das Theorem von der Verdrängung des Politischen in der Gesellschaft der Moderne rekonstruiert wurde, sollen mit der Ausarbeitung des Begriffs der »Welt« – eine Transformation des Heideggerschen Weltbegriffs – und mit der Darstellung des Konzepts der »Person« – ein Gegenentwurf zur bürgerlichen Innerlichkeit – die philosophischen und anthropologischen Hintergrundannahmen, auf denen Arendts Kritik an der Gesellschaft beruht, erhellt werden. Fluchtpunkt dieser begrifflich-systematischen, nicht werkgeschichtlich-philologischen Analysen ist die Erarbeitung einer aktuellen und das heißt nicht mehr essentialistischen Theorie von Entfremdung.

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Einleitung

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Magisterarbeit, die ich im Sommer 1995 am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin eingereicht habe. Wie immer gibt es viele Menschen, die auf die eine oder andere Weise an einer solchen Arbeit beteiligt sind. Axel Honneth verdanke ich mehr als ihre interessierte und aufmerksame Betreuung. Die besondere Verbindung von sachlicher Intensität und Offenheit der Auseinandersetzung, die seinen Zugang zu philosophischen Themen auszeichnet, hat mir geholfen, in einer schwierigen Phase die Lust an der philosophischen Arbeit wiederzuentdecken. Peter Furth hat schon zu Beginn meines Studiums mein Interesse an Hannah Arendt geweckt. Mein Freund Werner Konitzer ist seit langer Zeit wichtiger Gesprächspartner bei der Reflexion politischer Erfahrungen wie philosophischer Fragen. Seine Inspiration findet sich in vielen Aspekten meiner Überlegungen. Dasselbe gilt für Gustav Falke. Ohne ihn wäre auch die Veröffentlichung dieser Arbeit nie zustande gekommen: Sein kaum noch behutsam zu nennendes Drängen und seine intensive Hilfe bei der Überarbeitung des Manuskripts haben das Projekt erst Gestalt annehmen lassen. Die Geduld meines Verlegers Frank Böttcher war grenzenlos. Ihnen allen sei hier gedankt. Die »Staatsbibliothek preussischer Kulturbesitz« in Berlin war während meines gesamten Studiums der für mich entscheidende Arbeitsplatz: »öffentlicher Raum« wie Rückzugspunkt in einem. Ich danke all denen, die diesen Ort als solchen konstituiert haben. Andreas Fischer verdanke ich mehr, als ich an dieser Stelle zum Ausdruck bringen könnte. Berlin, Herbstanfang 1997

Einleitung

Rahel Jaeggi

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I. Gesellschaft

»Ein merkwürdiges Zwischenreich«: Die bürgerliche Gesellschaft bei Arendt und Hegel Die Entstehung von »Gesellschaft« ist für Hannah Arendt ein Phänomen der Moderne. Nicht überhistorisch zu verstehendes System menschlichen Zusammenlebens überhaupt, sondern historisch gewordene Form sozialer Beziehungen, läßt sich die Herausbildung der Gesellschaft in der Neuzeit als »Aufstieg des Haushalts und der ökonomischen Tätigkeiten in den Bereich des Öffentlichen« (VA 35) beschreiben. »Der Raum des Gesellschaftlichen entstand, als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlichen politischen Bereichs trat.« (VA 38) Kritisch betrachtet Hannah Arendt deshalb »die Gesellschaft« als ein »merkwürdiges Zwischenreich, in dem privaten Interessen öffentliche Bedeutung zukommt«. (VA 36) Auch wenn ihre historische Einordnung diffus bleibt, scheint es evident, daß Arendt dasselbe Phänomen meint, das in Hegels Rechtsphilosophie seine erste begriffliche Darstellung als »bürgerliche Gesellschaft« gefunden hat.1 Um die Pointe von Arendts Gesellschaftskritik zu verstehen, lohnt es sich deshalb, sie mit Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft zu vergleichen: kommen doch beide Ansätze zu erstaunlich ähnlichen Diagnosen bei ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Hegel beschreibt mit dem Terminus »bürgerliche Gesellschaft« das moderne Phänomen der Ausdifferenzierung einer Sphäre des »Systems von Eigentum und Recht«, die »zwischen Familie und Staat«2 tritt. Die bürgerliche Gesellschaft wird nach der Auflösung vormoderner Gemeinschaftsbindungen zu dem neuen, versachlichten Zusammenhang, in dem die Individuen ihr Leben führen. Dieser ist nicht nur ökonomischer Natur: Er umfaßt auch die Anerkennung des Individuums als Rechtsperson und die Gesamtheit seiner »soziokulturellen« Bezüge. Die bürgerliche Gesellschaft erscheint so als das Resultat zweier Prozesse: der Intimi1 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Suhrkamp Theorie Werkausgabe Bd. 7), Frankfurt a.M. 1989, §§ 182–256. 2 Wie es im Naturrechtsaufsatz heißt. Siehe G.W.F. Hegel: Jenaer Schriften (Suhrkamp Theorie Werkausgabe Bd. 2), Frankfurt a.M. 1986, S. 492.

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Gesellschaft

sierung und Verkleinerung der Familie zur bürgerlichen »Kernfamilie« einerseits, der Herausbildung des modernen Verfassungsstaats andererseits. Im Unterschied zur antiken Trennung des »Oikos« vom öffentlichen Leben der »Polis«3, aber auch im Gegensatz zur politischen Gesellschaft des Mittelalters mit ihren Korrelationen zwischen sozialem und politischem Status der Bürger entwickelt sich die Ökonomie hier zu einer eigenständigen Sphäre mit öffentlicher Geltung.4 So ist die Gesellschaft der Bereich unpolitischen Zusammenlebens der sich als autonome Rechts- und Wirtschaftssubjekte verstehenden Bürger. Deutlich wird, inwiefern, wie es dann bei Arendt heißt, »privaten Interessen öffentliche Bedeutung zukommt«: Die bürgerliche Gesellschaft ist privat, sofern sich in ihr die (ökonomischen) Interessen und Bedürfnisse der Personen als Privatpersonen realisieren, dagegen ist sie öffentlich, insofern die Realisierung dieser Bedürfnisse nur in einem allgemeinen, über die Familie hinausgehenden Zusammenhang (Markt, Infrastruktur überhaupt, rechtliche Institutionen) möglich ist. Dabei ist auch für Hegel die bürgerliche Gesellschaft in vielerlei Hinsicht ein »merkwürdiges Zwischenreich« – bleibt doch der allgemeine Zusammenhang, der sich zwischen den sich selber atomistisch verstehenden bürgerlichen Subjekten herausgebildet hat, defizitär, »Stufe der Entzweiung«; er ist als bloßer Zweckzusammenhang nur »Erscheinungswelt des Sittlichen«.5 Versteht Hegel die bürgerliche Gesellschaft als defizitäres, weil von besonderen Interessen dominiertes Allgemeines, so spricht Arendt von einer durch das Eindringen des Privaten deformierten Öffentlichkeit und dem Verfall des politischen Raums. Beide also setzen eine über die besonderen bzw. privaten Interessen hinausgehende Sphäre – ein übergreifendes Allgemeines – als kritischen Maßstab gegenüber der von Partikularinteressen dominierten Gesellschaft an. Die kritische Perspektive, die Arendt und Hegel miteinander teilen, beruht in beiden Fällen auf der Orientierung6 am Modell der griechischen Polisdemokratie. Allerdings ist es 3 Der »Oikos« als Wirtschaftseinheit, die Hausherr, Frauen Kinder und Sklaven umfaßt – die »Polis« demgegenüber als der öffentliche Bereich der Selbstherrschaft, an dem der freie Bürger (der Haushaltsvorstand) Anteil hat. (Vgl. Aristoteles, Politik. 1. Buch.) 4 Vgl. die begriffsgeschichtliche Untersuchung von Manfred Riedel: »Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs«, in: Ders. (Hg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd. 2, Frankfurt a.M. 1975. 5 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 181Z. 6 Damit soll weder für Arendt noch für Hegel eine rückwärtsgewandte Identifikation mit der Polis behauptet werden. Nicht nur Hegels Anerkennung der modernen Individualität schließt das aus. Auch Hannah Arendt – die vom Vorwurf der Griechenland-Nostalgie geradezu verfolgt worden ist – versteht die Polis nicht als das »goldene Zeitalter«, sondern

»Ein merkwürdiges Zwischenreich«

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bei Hegel die Sittlichkeit der Polis, die Orientierung der Polisbürger am Gemeinwohl, aus der sich die Herausforderung an seine Theorie ergibt: die Aufgabe nämlich, moderne Subjektivität und substanzielle Sittlichkeit, das Besondere bzw. Einzelne und das Allgemeine vermitteln zu können. Arendts Blick auf die Polis dagegen ist von einer eigenwilligen Mischung aus aristotelischen, republikanischen und existentialistischen Motiven geprägt: Das Modell der Polis steht hier weniger für substanzielle Sittlichkeit als vielmehr für ein Ideal des Politischen als der Sphäre, in der sich Freiheit als politische Freiheit erst verwirklichen kann. Zwei ganz unterschiedliche Perspektiven also: Arendt ist an der attischen Demokratie – am Modell der freien politischen Entscheidung und Selbstherrschaft der Bürger – interessiert, Hegel dagegen orientiert sich primär an Sittlichkeit – als der Einheit von allgemeinen und besonderen Interessen. Dementsprechend unterschiedlich stellt sich auch das Problem der modernen Gesellschaft für beide dar. Für Hegel spielt sich der Konflikt der Moderne zwischen substanzieller Sittlichkeit (im Sinne der Orientierung an gemeinsamen Werten, Lebensformen, Bräuchen oder einer gemeinsamen Vorstellung des »guten Lebens«) und den Forderungen individueller Freiheit (der »negativen Freiheit« der Einzelnen) ab, wobei er bei prinzipieller Anerkennung des »Rechts des Individuen auf die Entfaltung ihrer Besonderheit« dessen destruktive Auswirkungen kritisiert. Arendt dagegen steht im Namen der (im folgenden näher zu beschreibenden) »politischen Freiheit« der modernen Freiheit des Individuums kritisch gegenüber. Immanente vs. abstrakte Kritik Diese unterschiedlichen Auffassungen sind es, die dazu führen, daß Hegel zu einer immanenten Kritik der bürgerlichen Gesellschaft gelangt, zu einer Kritik, die die bürgerliche Gesellschaft an den in ihr selbst angelegten Maßstäben und Entwicklungstendenzen mißt, während umgekehrt Arendt die »rettenden« Momente niemals in, sondern immer nur außerhalb des historischen Prozesses der bürgerlichen Vergesellschaftung identifizieren kann. Im Hegelschen Sinn also eine abstrakte Kritik, sofern sie ein mit dem Bestehenden unverbundenes »ganz Anderes« zu ihrem Maßstab macht. (Hegel folgt also der Logik des »der Speer, der die Wunde schlägt, heilt sie«, Arendt dagegen denkt den »Sprung aus der Geschichte«, das Durchbrechen der historischen Kontinuität in Form der seltenen und charismatischen Momente der [Neu-]Gründung des Politischen.) als einen historischen Moment, in dem für kurze Zeit der Charakter des »Politischen« zu erkennen ist, den sie jedoch ebenso in modernen Erscheinungen – z.B. den neuzeitlichen Revolutionen – sucht.

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Gesellschaft