Wahrheit, Zeit und Freiheit

Hildegard Mühlemeier, Maresa Mühlemeier und Mike Stange haben das. Manuskript gelesen .... und Objektivität. 2 Vgl. Moore, »A Reply to My Critics«, S. 543.
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ISBN 978-3-89785-601-1

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Koch · Wahrheit, Zeit und Freiheit

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Anton Friedrich Koch

Wahrheit, Zeit und Freiheit Einführung in eine philosophische Theorie Zweite, durchgesehene und korrigierte Auflage

mentis MÜNSTER

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706 © 2006, 2013 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstr. 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses W erk sowie einzelne T eile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz und Druck: Druckhaus Plöger, Borchen ISBN 978-3-89785-601-1

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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Wahrheit und Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Designation und Prädikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

III.

Voraussetzungen der Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

IV.

Wahrheit und Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

V.

Diskurs und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI.

Die Antinomie des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

VII. Transzendentale und personale Subjektivität . . . . . . . . . . . . . .

98

VIII. Die Subjektivitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

IX.

Zeitlichkeit als nichtsukzessive Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130

X.

Zeit und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XI.

Die Aporie der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die Philosophie ist eine alte Wissenschaft, doch ihre Lehren sind immer wieder neu. Allerdings sind sie im Unterschied zu mathematischen Sätzen nicht in Lehrbüchern fixierbar. Ihr Sinn verflüchtigt sich, wenn man sich nicht unablässig um ihren Gegenstand bemüht und sie statt dessen nur dem Wortlaut nach tradiert. Ist aber eine philosophische Lehre erst einmal aus ihren Formulierungen gewichen, so muß sie von Grund auf neu erarbeitet werden, als gäbe es auch den Wortlaut der Überlieferung nicht mehr. Da dies jeweils unter veränderten Bedingungen geschehen wird, bedarf es tiefer sachlicher Einsicht und großer hermeneutischer Findigkeit, um die alte Lehre im nunmehr neuen Begriffsgewand wiederzuerkennen. Oft merken die Späteren gar nicht, wie nahe sie den Fr üheren sind. Auch damit hängt zusammen, daß alle wesentlichen philosophischen Lehren stets umstritten bleiben. Dies hängt ferner mit der schwierigen Nachbarschaft zusammen, in der die Philosophie zu Hause ist. Nur mit anhaltender intellektueller Mühe und Redlichkeit läßt sich eine Gr enze zwischen ihr und den intellektuellen Moden des Tages ziehen (und gegen diese übergriffigen Nachbarn verteidigen). Ganz gelingt dies nie, sosehr wir uns auch bemühen mögen, unsere politischen, religiösen, weltanschaulichen Vorlieben aus unserem Philosophieren herauszuhalten. Gerade da übrigens, wo sich das Philosophieren am wissenschaftlichsten gibt, ist oft ein weltanschaulicher Furor am Werk, der seinesgleichen sucht und den Blick f ür theoretische Alternativen wirkungsvoll eintrübt. So kommt es, daß den Streit um die philosophischen Grundlehren auch die Schübe der Verwissenschaftlichung, Professionalisierung und Ausdifferenzierung nicht mildern können, denen die Philosophie periodisch – und heute wieder besonders – ausgesetzt ist. Einerseits muß sie stets von neuem »scholastisch« werden. Die Philosophen müssen für die »Schule«, für ein kleines studentisches und wissenschaftliches Fachpublikum, forschen, lehren und schreiben, und die Texte, die sie so produzieren, sind ungenießbar für die allgemeine Öffentlichkeit. Andererseits gehen die philosophischen Fragestellungen und Antworten alle an, denn sie gelten der Grundproblematik des menschlichen Daseins, die wir als des Lebens Last und Lust genießen und ertragen, bis wir sterben. Daher muß die Philosophie auch stets von neuem aus der Schule heraus- und in die allgemeine Öffentlichkeit eintreten.

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Vorwort

Das Recht, dieser Pflicht nachzukommen, müssen ihre Fachvertreter sich aber hart erarbeiten, und das macht sie zögerlich. Es droht eine Pflichtenkollision: Wir sollen uns, als Philosophen, an die allgemeine Öffentlichkeit wenden, aber dann fällt uns ein, daß wir noch nicht dürfen, weil wir noch nicht hinreichend vorbereitet sind und die Hausaufgaben im Fach noch nicht erledigt haben. Was immer also wir tun werden, wird verkehrt sein, und dieses wohlfeile Wissen nehmen wir gern zum Vorwand, im inneren Trott des Faches zu verharren. Irgendwann aber hilft kein Entschuldigen mehr, sondern gilt es, in Angriff zu nehmen, wof ür wir ewig noch nicht gut genug ger üstet sind. Warum also nicht gleich jetzt? Derlei erwägend lege ich hiermit dem allgemeinen Publikum eine Einführung in eine philosophische Theorie vor, die ich dem Fachpublikum ausführlich in meinem Versuch über Wahrheit und Zeit vorgetragen habe. Leser, denen das Netz der nachfolgenden Ar gumentation zu weitmaschig oder zu wenig belastbar vorkommt, sind eingeladen zu überprüfen, ob sie dort finden, was sie hier vermissen. Es handelt sich, so würde ich gerne sagen können, nicht um meine Theorie, sondern um eine konzise Darstellung der philosophischen Er rungenschaften seit den Tagen des Parmenides. Aber so einfach ist das nicht. Nicht jede bedeutende philosophische Lehr e paßt mit jeder ander en widerspruchsfrei zusammen, und überhaupt gibt es mehr philosophische Lehren, als in einer Einführung berücksichtigt werden können. Sowohl um der darstellerischen Ökonomie als auch um der Widerspruchsfreiheit willen mußte ich daher selektiv vorgehen, und so konnte das Ergebnis meines Vorgehens nicht neutral ausfallen. Ich habe affirmativ in die Darstellung aufgenommen, was in die Argumentation paßt. Diese nimmt ihren Ausgang von dem Sachverhalt, daß wir im Denken und Sprechen Wahrheitsansprüche erheben, und ist ein Versuch (a) zu erkunden, was wir dabei stillschweigend voraussetzen, und (b) zu zeigen, daß wir zu Recht voraussetzen, was wir voraussetzen. Über die Methode, der ich folge, gebe ich zu Beginn des letzten Kapitels kurz Rechenschaft. Gleich jetzt davon zu sprechen, hätte den Nachteil, daß es in abstracto, ohne Rekurs auf Beispiele geschehen müßte, und den weiteren N achteil, da ß die Fachausdr ücke, mit denen ich die Aspekte der Methode bezeichne (»sprachanalytisch«, »phänomenologisch«, »metaphysisch«), noch nicht eingeführt sind und aus dem Stand auch nur mit erheblichem Aufwand eingeführt werden könnten. Da ich also das, was ich für philosophische Errungenschaften halte, in einen systematischen, argumentativen Zusammenhang und somit in die Form einer halbwegs geschlossenen Theorie zu bringen bem üht war, konnte es nicht ausbleiben, daß jene Errungenschaften zu »meiner« philosophischen Position zusammengewachsen sind, mit der ich immer wieder

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Vorwort

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in Widerspruch zu konkurrierenden Positionen gerate. In der Philosophie sind, wie gesagt, selbst die Grundlehren nach wie vor umstritten. So ger n ich daher nichts als eine kleine Einführung in die Philosophie geschrieben hätte, mußte daraus doch eine Einführung in eine unter vielen konkurrierenden philosophischen Theorien werden. Eine solche Einführung kann im übrigen keine leichte Lektüre sein. Sie wird langsames Voranschreiten, angestrengtes Nachdenken, viel Zurückblättern und wiederholtes Lesen erfordern. Aber ich habe mir große Mühe gegeben, keinerlei philosophisches Fachwissen, sonder n nur die übliche Allgemeinbildung vorauszusetzen, ohne die man kein Sachbuch und kei nen Roman verstehen kann. Mein Ziel war es, ein Buch für geduldige Leser zu schreiben, die sich zum Nachdenken über Fragen und Antworten anregen lassen möchten, die in der Philosophie seit 2500 Jahren und heute noch gestellt bzw. gegeben werden. Zugleich sollte ein Buch für Studierende des Faches entstehen, das in konziser Form eine historisch und systematisch nach vielen Seiten hin anschlußfähige philosophische Theorie präsentiert und das auf diese Weise exemplarisch in die Philosophie einführt. Damit es von ihnen als Arbeitsbuch benutzt werden kann, habe ich es mit Anmer kungen, Literaturverzeichnis und Registern versehen. Hildegard Mühlemeier, Maresa Mühlemeier und Mike Stange haben das Manuskript gelesen und zahlreiche Korrekturvorschläge gemacht. Wichtige Anregungen zur Verbesserung der Darstellung ver danke ich Käthe Trettin. Aus Diskussionen, die ich mit Alexandra Newton, Matthew Chrisman und Mike Stange zu Themen und Thesen meines Versuchs über Wahrheit und Zeit führen konnte, habe ich zusätzliche Klarheit in der Sache gewonnen, die dem vorliegenden Buch, wie ich hoffe, zugute gekommen ist. Hildegard Mühlemeier und Mike Stange haben das Personenregister und Mike Stange hat das Sachregister vorbereitet. Allen Genannten gilt mein herzlicher Dank.

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I. Wahrheit und Objektivität Das Faktum der Wahrheit Die Philosophie muß mit einem grundlegenden Sachverhalt beginnen, den niemand bestreitet. Ein solcher Sachverhalt ist die unspektakuläre Tatsache, daß wir Wahrheitsansprüche erheben, und dies manchmal, wenn nicht mei stens, zu Recht. »Einen Wahrheitsanspruch erheben« klingt ein wenig hochtrabend für das, worum es geht. Wir halten schlicht dies und das für wahr, wir urteilen, wir bilden uns Meinungen und äußern sie mitunter in Aussagesätzen, die wahr oder falsch (und hof fentlich in den meisten Fällen wahr) sind. Diese grundlegende und unstrittige Tatsache ist das Faktum der Wahrheit. In einem gewissen Sinn sind wir selber das Faktum der W ahrheit, denn wahr (oder im ungünstigen Fall falsch) sind Sätze und Meinungen, und wir Menschen sind es ja, die artikulierte Meinungen hegen und äußern. Der Mensch ist das Lebewesen, das die Rede hat, sagt Aristoteles. 1 Aber das war nicht immer so und muß nicht so bleiben. Wir können die Rede auch wieder verlieren und sind vielleicht schon insgeheim dabei; und andere Spezies können sie gewinnen (und sind vielleicht schon insgeheim dabei). Aber solche langwierigen Prozesse müssen uns hier und heute nicht aus der Ruhe bringen. In der Folge wollen wir uns vor allem mit zwei Fragen beschäftigen: (1) Welche allgemeinen Unterstellungen oder V oraussetzungen machen wir, wenn wir einen beliebigen Wahrheitsanspruch erheben (etwas für wahr halten, ein Urteil fällen, eine Meinung äußern usw.)? (2) Lassen sich solche allgemeinen V oraussetzungen rechtfertigen, und wenn ja, wie? Unsere Aufmerksamkeit gilt zunächst der ersten Frage.

Objektivität Bisweilen täuschen wir uns. W ir sind also fehlbar . Unser schieres Fürwahrhalten verbürgt noch keine Wahrheit. Das hängt damit zusammen, daß wir für unsere Wahrheitsansprüche in der Regel objektive Geltung beanspruchen. Nehmen wir an, ich meine und sage: »Heidelberg war die Haupt1

Politik I, 1053a10.

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I. Wahrheit und Objektivität

stadt der Kurpfalz.« Was unterstelle ich damit in allgemeiner Weise, d.h. was unterstelle ich, abgesehen von dem spezifischen Inhalt der Behauptung, der die Stadt Heidelberg und die Territorien des Alten Reiches betrifft? Damit uns der spezifische Inhalt beim Nachdenken nicht in die Quer e kommt, wollen wir ihn durch einen Schemabuchstaben, »p«, ersetzen, der einen beliebigen Satz vertritt. Möge ich also behaupten, daß p. Was unterstelle ich, indem ich dies sage? Nun, f ürs erste einen gewissen Realismus: Ich unterstelle, daß es der Fall ist, daß p (z.B. daß Heidelberg die Hauptstadt der Kurpfalz war), ganz unabhängig davon, daß ich dies meine. Ich glaube und beanspruche vielmehr, daß Heidelberg die Hauptstadt der Pfalz auch dann gewesen wäre, wenn ich es nicht wüßte und nie daran gedacht hätte. Meine Meinungen machen sich in der Regel nicht selber wahr, schaffen nicht selber die Tatsachen, von denen sie handeln, sondern sie sind wahr oder falsch je nach dem objektiven Stand der Dinge. Dies ist unsere allgemeine realistische Unterstellung oder Voraussetzung in allen unseren objektiven Wahrheitsansprüchen. (Von nicht-objektiven W ahrheitsansprüchen sehen wir vor erst ab; es gibt sie, aber sie sind den objektiven nachgeordnet.) Halten wir das erste Ergebnis unseres Nachdenkens noch einmal ausdrücklich fest: In unseren Meinungen setzen wir im allgemeinen voraus, daß die Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, unabhängig von jenen Meinungen bestehen. Diese Unabhängigkeit eines Sachverhaltes von unseren Meinungen über ihn ist seine Objektivität. Und die Meinung ihrerseits ist objektiv, sofern sie sich auf einen objektiven Sachverhalt bezieht. Freilich wissen wir, daß Unabhängigkeit meist eine Sache des Grades ist. Wir müssen also darauf gefaßt sein, daß auch die Objektivität sich als eine Sache des Grades erweisen wird und daß die Extreme vollkommener Objektivität und vollkommener Nicht-Objektivität womöglich irreale Grenzfälle darstellen.

Sachverhalte Wir wollen versuchen, den Begriff der Unabh ängigkeit (der Sachverhalte von unseren Meinungen über sie) noch ein wenig schärfer zu fassen. Was genau setze ich voraus, wenn ich in meinem Urteil, daß p, voraussetze, daß der Sachverhalt, daß p, von meinem Urteil unabhängig ist? Zunächst noch ein Wort zum Begriff des Sachverhaltes. Wir nennen so dasjenige, was einen Satz wahr machen würde, also seine Wahrheitsbedingung. Der deutsche Satz »Schnee ist weiß«, der englische Satz »Snow is white« und der italienische Satz »La neve è bianca« sind wahr dann und nur

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Fehlbarkeit

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dann, wenn Schnee wei ß ist. Da ß Schnee wei ß ist, ist ihr e gemeinsame Wahrheitsbedingung bzw. ist der Sachver halt, den jeder von ihnen aus drückt. Wenn die Wahrheitsbedingung eines Satzes erfüllt ist, sagen wir, daß der betreffende Sachverhalt besteht; wenn sie nicht erfüllt ist, daß er nicht besteht. Einen bestehenden Sachverhalt nennen wir eine Tatsache. Oft wird hinzugefügt, die Wahrheitsbedingung eines Satzes sei das, was der Satz bedeutet (sei seine sprachliche Bedeutung). Dies aber ist keine bloße Verabredung mehr, sondern eine kontroverse philosophische These. Ich halte sie für zutreffend, aber ich habe noch kein Argument für sie ins Feld geführt. Lassen wir sie also vorerst aus dem Spiel. – Gemäß unseren Verabredungen können wir sagen, da ß die W ahrheitsbedingung des deutschen Satzes »Schnee ist grün« wie auch die des englischen Satzes »Snow is green« und die des italienischen Satzes »La neve è verde« der Sachverhalt ist, da ß Schnee grün ist. Da dieser Sachver halt nicht als Tatsache besteht, ist die Wahrheitsbedingung der genannten Sätze nicht erfüllt; die Sätze sind somit falsch. Mit unserer liberalen Rede von Sachverhalten und Tatsachen wollen wir übrigens keine ontologische These verbinden. Wir wollen also keineswegs behaupten, daß es über den weißen Schnee hinaus auch noch den Sachverhalt (und die Tatsache) gibt, daß Schnee weiß ist. Auch im Fortgang werden wir keine hinreichenden Gründe finden, Sachverhalte und Tatsachen als etwas real Existierendes anzunehmen. Es handelt sich hier nur um be queme Redensarten. Sachverhalte haben ihre »Existenz«, d.h. ihr Bestehenoder-Nichtbestehen (und Tatsachen ihr Bestehen), nicht für sich, sondern nur an den Sachen oder Dingen, die in ihnen vorkommen. So hat der Sachverhalt, daß Schnee wei ß ist, sein Bestehen – und der Sachver halt, daß Schnee grün ist, sein Nichtbestehen – am weißen Schnee. Nur dieser ist das eigentlich Reale.

Fehlbarkeit Wir wollten versuchen, den Begriff der Unabh ängigkeit der Sachverhalte von unseren Meinungen schärfer zu fassen. Das eigentlich Reale, das von unseren Meinungen unabhängig ist, sind aber, wie gerade gesagt wur de, nicht die Sachverhalte, auch nicht die bestehenden Sachverhalte (die Tatsachen), sondern die Dinge. In ihrer Unabh ängigkeit von unseren Meinungen sind die Dinge objektiv, sind sie Objekte, und sind auf der anderen Seite auch unsere Wahrheitsansprüche objektiv, sofern sie sich nämlich auf Objekte beziehen. Dies vorausgeschickt, wollen wir dennoch weiterhin auch von Sachverhalten reden.

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I. Wahrheit und Objektivität

Was unterstellen wir nun in einem Ur teil »p«, wenn wir seine Objektivität unterstellen? Wir unterstellen die Unabhängigkeit des Sachverhaltes, daß p (und der Objekte, die in dem Sachverhalt vorkommen), von unserem Urteil, daß p. Unser Urteil macht sich nicht selber wahr. Es wäre möglich, daß wir urteilten, da ß p, und da ß der Sachver halt gleichwohl nicht be stünde, daß wir uns also in unserem Urteil täuschten. Wir unterstellen also in unseren objektiven Wahrheitsansprüchen, daß wir in ihnen fehlbar sind. Das mag seltsam klingen, nachgerade widersinnig. Pr üfen wir also, wie genau die mit der Objektivität unterstellte Fehlbarkeit zu verstehen ist. Manchmal raten wir zwar , und manchmal äußern wir Vermutungen. Aber in ihrer Grundform sind W ahrheitsansprüche Wissensansprüche. Wenn ich ernsthaft und aufrichtig behaupte, daß p, unterstelle ich also, daß ich hinreichende Gründe für die Wahrheit von »p« habe. Mit meiner Fehlbarkeit, die ich auch unterstelle, kann ich dann aber nicht meinen, da ß ich keine hinreichenden Wahrheitsgründe für »p« habe, daß ich nur rate oder eine Vermutung äußere; denn dann würde ich mir in meinen Unterstellungen widersprechen. Vielmehr wird es so sein, da ß ich, indem ich meine Fehlbarkeit anerkenne, die grundsätzliche Möglichkeit in Betracht ziehe, daß ich meine und urteile, daß p, ohne daß es der Fall ist, daß p. Wenn ich meine, daß p, ohne daß es der Fall ist, daß p, so kann ich dies freilich nicht zugleich bemerken und anerkennen. Jemand, nennen wir ihn Gu stav, möge glauben, T übingen liege am Main. W ir können dann wider spruchsfrei und sogar wahrheitsgemäß sagen: »Gustav glaubt, daß Tübingen am Main liegt, aber Tübingen liegt nicht am Main«. Aber Gustav selber kann nicht wahrheitsgemäß sagen: »Ich glaube, daß Tübingen am Main liegt, aber es liegt nicht am Main.« (Das ist das sogenannte Mooresche Paradox.2) Andererseits könnte Gustav sehr wohl sagen: »Tübingen liegt am Main«, und ohne Widerspruch hinzufügen: »Es ist möglich, daß ich meine, Tübingen liege am Main, und daß Tübingen nicht am Main liegt«, oder: »Unter bestimmten kontrafaktischen Bedingungen würde ich meinen, daß Tübingen am Main liegt, aber Tübingen läge dann nicht am Main«. Diese Möglichkeit erkennt er an, indem er mit seinem Urteil zugleich seine Fehlbarkeit anerkennt.

Mögliche Welten Möglichkeit und Notwendigkeit sind die beiden fundamentalen Modalitäten. Wir machen regen alltagssprachlichen Gebrauch von ihnen, etwa wenn wir sagen, daß dies der Fall sein könnte oder jenes der Fall sein muß. Einige Philosophen, an erster Stelle der amerikanische Philosoph W .V. Quine 2

Vgl. Moore, »A Reply to My Critics«, S. 543.