Vertreibung aus dem Paradies

es gäbe nur das Traumland, aus dem ich kam: mein schwereloses Leben im ... Einige von ihnen rettete der Feind. Weshalb ... Was hatte mein Schlaraffenland plötzlich .... ich es im Bett nicht mehr aus, kletterte vor Angst zitternd heraus, um bei.
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Karl Schlösser

Vertreibung aus dem Paradies Eine Kindheit in Demmin

Lukas Verlag

Prolog

Ich stand, umgeben von Leichen. Um mich herum brannten Häuser. Stürzten in sich zusammen. Frauen schrien. Kinder … In welche Zeit war ich hineingefallen? Ohne Vorbereitung. Ich dachte bisher, es gäbe nur das Traumland, aus dem ich kam: mein schwereloses Leben im großelterlichen Paradies…

Ich blättere in den Aufzeichnungen aus meiner Jugend. Hatte geglaubt, sie würden nicht mehr existieren, diese Erinnerungen, die ich jetzt, im Alter, finde beim Aufräumen und Sichten alter Schriftstücke. Erschrocken schiebe ich sie beiseite. Warum soll ich noch einmal eintauchen in die Welt dieses Kindes? Was geschah, liegt ein dreiviertel Jahrhundert zurück. Es war eine Zeit, die mich geprägt hat wie keine andere. Das wohl … Wenn ich mich richtig erinnere, mit einundzwanzig, vielleicht zweiund­ zwanzig Jahren begann ich, das Erlebte aufzuschreiben. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich es damals tun musste. Vermutlich hielt ich es in diesem Stadium der Bewusstwerdung über alle möglichen Fragen des Lebens für wichtig, die einschneidenden Ereignisse festzuhalten, die ich damals als Kind nicht hatte artikulieren können. Was ich hier vor mir habe – es hat so lange im Vergessenen, Verdrängten gelegen –, soll es vergessen bleiben? Warum nicht? Es gibt für mich nicht mehr viel, das wirklich noch wert wäre, bewahrt, über­ liefert zu werden. Ich kann keine Altersweisheit an mir feststellen, wohl aber Gelassenheit, die mit Alter zu tun hat. Nur mit Alter. Doch dieser Anfang kommt mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf: Ich stand, umgeben von Leichen. Ich ziehe die Aufzeichnungen wieder vor. Habe es plötzlich eilig. Das Leben des Knaben von einst steht auf. Ich lese.

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Der Fluss war eingehüllt in Rauch. Meine Augen brannten und tränten. So viel sah ich noch, verschleiert, unscharf: Die Brücke vor mir lag zerstört. Oft bin ich über sie gegangen, mit den Großeltern, in den Wald, der mir vertraut wurde bis ins Letzte. Das ging jetzt nicht mehr. Es gab kein Vorwärtskommen. Russische Panzer überall, zerstörte deutsche Geschütze, fluchende, grölende Soldaten, Schnapsflaschen, die die Runde machten. Flüchtlingstrecks aus dem Osten. Alles unentwirrbar ineinander verkeilt. Der träge fließende Strom. Menschen, die im Wasser trieben. Leblos. Und die, die sich noch bewegten. Einige von ihnen rettete der Feind. Weshalb? Auf andere schoss er. Warum? Unbegreifliche Willkür. Ich schrak jedes Mal zusammen, wenn die Kugeln an mir vorbeipfiffen. Die Angst schnürte mir den Hals zu. Begann, mich zu beherrschen. Zitternd umklammerte ich die Hand meiner Mutter. Die Mutter, das spürte ich, sie hatte keinen Trost für mich. Wo sollte er herkommen in diesem Untergangsstrudel, der wie ein Sog alles mit sich riss? Was mir widerfuhr, konnte ich nicht benennen. Nicht das leiseste Begreifen keimte auf in meinem wirren Kopf. Was hatte mein Schlaraffenland plötzlich mit den Bergen von Toten zu tun in einer gestern noch heilen Stadt? Wie war das zu verstehen für ein Kind von zehn Jahren? Gar nicht.

Es trifft mich, was ich hier nach sechzig Jahren lese. Mir wird wieder der un­ geheure Bruch in meinem kindlichen Leben bewusst, der mich als Zehnjährigen mit aller Wucht erfasste, aus der behüteten Bahn riss und niederwarf. Noch heute empfinde ich meine frühe Kindheit als Paradies, aus dem ich so unvermittelt vertrieben wurde. Plötzlich verspüre ich das unwiderstehliche Bedürfnis, mich zu erinnern, die Kinderjahre auferstehen zu lassen …

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Kindheit

Ich suche nach Bildern. Welche ersten Augenblicke meines Lebens hat die Erinnerung für mich auf­ bewahrt? Kaum nennenswerte, wie es mir heute, im Alter, scheint. Ist das so? Immer? Wahrscheinlich ja. Ich bin trotzdem enttäuscht, dass vieles unwiederbringlich verloren gegangen sein muss. Wozu hab ich gelebt, wenn ich mich an das meiste nicht mehr erinnern kann? Das ist, als hätte Leben nicht stattgefunden. Oder ist es so, dass das Überwiegende nicht wichtig war, gespeichert zu werden? Warum sich mit Belanglosem belasten? Und was ist belanglos? Was nicht? Wie soll ein Kind das unterscheiden? Bleibt nur Zufälliges in der Erinnerung? Wertloses? Meine Mutter erzählte mir, dass ich als halbjähriger Säugling in einem Pappkarton liegend auf dem Boden des elterlichen Faltbootes über den Verchener See gefahren worden sei. Auf dieser meiner vielleicht ersten Reise kann es also gar nicht anders gewesen sein, setzt sich meine Phantasie in Bewegung: Ich habe mit der Muttermilch die Liebe zur Natur früh eingesogen. Das ist für mich ausgemacht. Natürlich riefen neben mir die Haubentaucher, unter mir stießen die Zander gegen die Gummihaut des Bootes und über mir kreiste ein Seeadler, der alles im Auge hatte. Sie suchten alle meine Bekanntschaft zeitig. Sie mochten mich. War ich ein Auserwählter? Oder geht das zu weit? Es geht zu weit. Eindeutig. Und es ist nicht meine Erinnerung. Sie kommt aus zweiter Hand. Mühsam sind die Versuche, das Vergangene wieder aus mir heraufzuholen ans Licht des Tages. Ich frage mich, wozu soll ein über Achtzigjähriger diesen Knaben nochmals ins Leben befördern? Für wen? 5

Möglicherweise ist mir das Kind längst abhandengekommen. Was hat das zu sagen? Ich bin, wie auch immer, das Kind. Dies das Wider­ sinnige: Ich bin mein eigenes Kind! Schließlich, was ich hier aus der Versunkenheit auferstehen lasse, es hat mit dem Anfang meines Daseins zu tun. Das sollte mich nicht interessieren? Der Vorteil meiner jetzigen Lage: Als Danebenstehender, nicht mehr Be­ teiligter, sehe ich deutlicher. Meine Stadt ist klein. Immer klein gewesen. Großes kommt nicht aus ihren Mauern. Wer mehr will, der muss über den Ort hinaus. Ich habe das niemals geschafft. Nie gewollt, ist richtiger gesagt. Ich habe hier tiefe Wurzeln geschlagen. Die konnte keiner ausgraben und woanders wieder einpflanzen. Sie wären nur abzuhacken gewesen und dann verdorrt. Meine Vaterstadt sucht mich mit ihren Gesichtern heim, seit ich diese Blätter wieder in der Hand halte. Wann begann mein Leben, an das ich mich erinnere? Eine Mutter kann es nicht wissen. Ich muss schon selber drauf stoßen. Viel ist es nicht, was sich erhalten hat. Da sind unscharfe, schemenhafte Lichtgebilde, mit viel Wärme durchtränkt. Aus kleinen, schachtelartigen Gehäusen strömten sie und kitzelten mich überall. Es war ein unbezwingbares Lachen in mir … Kann sich ein Mensch an so etwas erinnern? Warum nicht? Die Welt, in die ich hineinwuchs ohne mein Zutun, war ein Stück Märchen­ land, das ich durchträumte. Das mich auch erschreckte. Mit dem ich mein Glück und auch meine Not hatte. Mach die Augen auf, hat meine Mutter oft gesagt, wenn ich gegen die Wand zu laufen drohte. Es wird noch ein schlimmes Ende mit dir nehmen. Das nun gerade nicht. Ich erfreue mich noch einer hinreichenden Gesund­heit. Ich stolperte blindlings durch meine frühen Tage, wie mir scheint. Ein Kind mit semmelblonden Haaren und wunderschönen großen blauen Augen sei ich gewesen, schwärmte meine Mutter manchmal, wenn sie etwas Günstiges über mich sagen und mich vor den Leuten, wie sie gerne betonte, in ein gutes Licht rücken wollte. Mehr fand sie nicht heraus. Denn sie hatte wohl immer ihre Not mit mir. Ich war so anders als mein nur elf Monate jüngerer Bruder. Immer trieben Träume und seltsame Ideen 6

Zeit meiner Kindheit ihr Wesen – Unwesen – mit mir und narrten mich mit Wiederspiegelungen ganz eigener Art. Heute weiß ich: Ich war ein Kind mit sehr viel, vielleicht zu viel Phantasie, das alles tatsächlich Erlebte mit den Bildern in seinem Kopf vermengte. Ich lernte nie unterscheiden, was das Wirkliche war, wenn es das überhaupt gab, was Traum. Traum war Wirklichkeit! Das war sicher für mich. Ich glaube es ganz deutlich vor mir zu haben, dies Bild, das sich erhalten hat als frühestes Zeugnis meines bewussten Lebens: Ich schwebte über dem Dach des Hauses, in dem wir wohnten und suchte nach dem Platz, an dem ich mich ungesehen niederlassen konnte, denn was ich da vorhatte, so was macht keiner ungestraft. Also habe ich mich hinter dem Schornstein versteckt. Ich wollte mich rächen. Das konnte ich niemandem sagen. Sie hätten es nicht verstanden. Meine Mutter hätte mir in den Arm gekniffen – das machte sie oft, es war sehr schmerzhaft – und gesagt: Red nicht son’n Unsinn. Dröhm nich all wedder. Wen sollte meine Rache treffen? In dem Mehrfamilienhaus, in dem ich lebte, gab es zwei junge Mädchen. Regelmäßig trieben sie ihr Spiel mit mir. Das lief so ab: Auf dem engen, dunklen Hof stand ein großer Birnbaum, ihn ganz und gar einnehmend. Ihr besonderes Vergnügen war es, wenn sie meiner habhaft werden konnten – denn nicht immer gelang es mir, ihnen zu entwischen –, mich um den Baum herumzutreiben. Nach einer gewissen Zeit gaben sie das Kommando: Halt. Dann drückten sie mir eine aus Zeitungspapier gefaltete Mütze auf den Kopf, zogen sie mir so tief ins Gesicht, das ich kaum aus den Augen sehen konnte. Das Marschieren begann von vorn und wollte kein Ende nehmen. Ich fand nie eine Möglichkeit, mich zu wehren. Immer hatte ich Angst, dass ihnen noch Ärgeres einfallen könnte. Und was dann? Was blieb mir übrig? Wenn sie mir befohlen hätten, mir die Hose herunter­ zuziehen, ich hätte es getan. Ich wäre auch nackt um den Baum gehastet, ge­ stolpert, hingeschlagen. Wie sollte ich mich ihrer Anordnung widersetzen? Ausgeliefert war ich solchen Situationen immer. Hilfe fand ich nur in meinen Träumen. Meine Phantasiegebilde waren mein vorherrschendes Leben. Da kannte ich mich aus. Da wusste ich genau, was 7

zu machen sei, da lief alles nach meinem Dafürhalten. Niemand konnte mir dreinreden. Ich saß also auf dem Dach und musste nur die Mädchen, die mich so piesackten, zu mir herauf locken. So einfach war das, und bevor sie es sich versehen konnten, hätte ich sie mir geschnappt und in den Schornstein ge­ stopft. Schreiend und fluchend wären sie durch den engen Zug geplumpst und verrußt unten im Keller angekommen, wo ich sie grinsend in Empfang genommen hätte … Die Tauben, die neben mir auf dem Dachfirst saßen, gurrten ihr Wohlgefallen, und die Schwalben zwitscherten Beifall über diesen Plan meines Rachefeldzuges. Meine Welt war wieder in Ordnung. Ich winkte zufrieden den Vögeln zu. Der blaue Himmel öffnete sich, und auf einer weißen Wolke erschienen ein Geigenspieler, ein Chor singender Marienkäfer, tanzende Pferde und pfeifende Hunde, die auf einem Seil herumsprangen und Rad schlugen: eine Extravorstellung für mich allein! Chagallhafte Bilder, wie ich heute weiß. So war ich. So vergingen meine Tage: mit von mir erfundenen Geschichten, die ich für unantastbare Wahrheiten hielt. Ich konnte nicht verstehen, dass die Erwachsenen es nie sahen wie ich. Sich vielmehr amüsierten auf meine Kosten. Das verübelte ich ihnen sehr. Ich wollte früh ernst und wichtig genommen werden. Kann ich diesem frühen Erinnerungsbild trauen? Wahrscheinlich gehen auch Erinnerungen unter, muss ich mir sagen, oder sie verändern sich bis zur Unkenntlichkeit. Ist das nicht erschreckend? Kann es doch ebenso gut möglich sein, dass ich mich fest an etwas zu er­ innern glaube, das so nicht stattgefunden hat! Worauf kann ich mich verlassen? Vorsichtig gesagt, auf nicht viel. Das aber weiß ich: Der Schrecken wollte nie ein Ende nehmen. Abends noch, im Bett liegend, aus dem geblümten Tapetenmuster und der Maserung des Schrankes traten im Halbdunkel die Gespenster heraus und überfielen mich. 8

Meinen kleineren Bruder behelligten sie niemals: er schlief. Und sie waren nicht in der Lage, ihn zu wecken? War ihre Macht so begrenzt? Nur auf mich ausgerichtet? Nur zu mir kamen sie regelmäßig und ließen mich nicht ein­ schlafen. Einmal, als sie schon nach mir griffen, meinen Hals umfassen wollten, hielt ich es im Bett nicht mehr aus, kletterte vor Angst zitternd heraus, um bei meiner Mutter Schutz zu suchen. Zu meinem Entsetzen fand ich sie nicht in der Wohnung. Ab hier, denke ich heute, verlor ich das Vertrauen zu ihr: Sie hat mich an diesem Abend im Stich gelassen, wo ich sie doch so sehr gebraucht hätte. Bis heute habe ich Albträume, in denen ich allein, plötzlich von allen verlassen, in unbekannter Umgebung, in fremdem Land stehe und nicht weiß, wie ich wieder nach Hause kommen soll. Das ist geradezu lächerlich in meinem Alter, aber ich kann es nicht ändern und bin jedes Mal unendlich erleichtert, wenn ich aufwache. Ich machte in allen Zimmern Licht. Stand in meinem weißen Nachthemd im dunklen Treppenhaus. Ging von Etage zu Etage. Klingelte überall Sturm. Aus keiner Tür, die sich öffnete, kam mir meine Mutter entgegen. Die Hausbewohner liefen zusammen. Umringten mich. Das war mir sehr unangenehm. Hier hat meine Erinnerung eine Lücke. Wann nämlich meine Mutter wieder auftauchte, weiß ich nicht mehr. Doch die beiden unvermeidlichen Mädchen sehe ich deutlich vor mir in dem jetzt hellerleuchteten Treppenhaus. Grinsend über meinen lächerlichen Aufzug tanzten sie um mich herum und zerrten immer wieder an meinem Hemd, so dass ich fürchten musste, sie würden es mir vom Leibe reißen. Eine andere Episode taucht aus dem Dunkel auf: Meine Mutter hatte die Absicht, mich in den Kindergarten zu schicken. Sie wollte, dass ich nicht tagaus tagein allein mit meinem kleineren Bruder zu Hause in der Stube hockte, wie sie mir erklärte. War das der alleinige Grund? Ich glaube nicht. Sie wusste vielleicht nichts Rechtes mit mir anzufangen. Überforderte ich sie?

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Sie sagte jedenfalls: Du bist da unter vielen Kindern. Das wird dir gefallen. Wirst sehen. Das sollte mich locken. Aber mir gefiel es überhaupt nicht. Woher wollte sie wissen, dass ich mich unter schreienden und tobenden Kindern wohlfühlen könnte? Allein fühlte ich mich wohl. Sogar mein Bruder war mir meistens im Wege. Ich wollte da nicht hin. Auf gar keinen Fall. Meine üblichen Einwände verpufften schnell. Um sie umzustimmen, musste ich zu Härterem greifen. Mir fiel nichts Besseres ein: Ich bepinkelte mich schließlich im Kindergarten unausgesetzt. Das führte zum Ziel. Das sahen sich nämlich die Kindergärtnerinnen nur eine kurze Zeit mit an, dann er­ klärten sie meiner Mutter, dass ihr Kind nicht stubenrein sei und somit in diese Einrichtung nicht gehöre: Tut uns Leid. Meine Mutter musste mich zurücknehmen. Mich, das unmögliche Kind! Das war ich wohl in ihren Augen längst, doch wie peinlich, es sich von irgend­ welchen Kinderaufbewahrerinnen ins Gesicht sagen lassen zu müssen! Sie hatte es schon schwer mit mir. Meine kleine Stadt, wie ich sie kennenlernte – also die Jahre vor dem Krieg – war alles in allem ein vollkommener Ort. Über Jahrhunderte organisch gewachsen, Fachwerk an Fachwerk gereiht, Harmonie schaffend, verwurzelt mit dem Umfeld, aus den Wiesen steigend, von Wäldern umgeben, Flüssen und Seen. Ein Bild, das unauslöschlich von mir Besitz nahm. Wenn Friedrich der Große die mittelalterliche Stadtmauer nicht hätte schleifen lassen, wäre wahrscheinlich die Stätte meiner Kindheit noch ganz und gar von ihr umgeben gewesen. Sie wäre allmählich von einer schwer überwindbaren Dornenhecke überwuchert worden und hätte dafür gesorgt, dass das beschauliche Leben seiner Bürger vollends abgeschlossen und unbe­ helligt geblieben wäre. Es macht mir keine besondere Mühe, mir vorzustellen, wie die Bewohner die Hauptstraße auf und ab stolziert wären in selbstgefäl­ liger Zufriedenheit. Mit sich und der Stadt im Einklang. Daran überhaupt nicht interessiert, was woanders sich ereignete. Draußen aber zog Krieg herauf. Das drohende Unglück schienen die meisten nicht wahrzunehmen. Ich wusste sowieso nicht, worum es ging.

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Was war schon Krieg für mich? Er spielte in meinen Träumen und Vor­stel­ lungen keine Rolle. Im Sommer 1939 war ich viereinhalb Jahre alt und saß im Dienstwagen meines Vaters. In einem Auto überhaupt zum ersten Mal. Die Familie fuhr in den Urlaub. Nach Prerow. Ans Meer. An den weißen Strand. In die Wärme. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Das flache, lauwarme Wasser, vor dem ich mich nicht fürchten musste wie sonst vor Wasser – und vor vielem anderen. Immer. Ich schaufelte Sand um. Unermüdlich. Baute mit meinem Bruder Burgen, die keinen Bestand hatten. Das Erlebnis dieser Tage jedoch: den kleinen Mädchen, die neben mir spielten, nackt, fehlte Entscheidendes, das Zipfelchen, mit dem sie pinkeln konnten! Das war etwas, das mich beschäftigte, beunruhigte geradezu: Wie machen sie das? Niemand hat mir erklärt, warum es so war. Ich habe aber auch nicht nach­ gefragt. Meine Mutter schon gar nicht, und meinem Vater war ich nicht ver­ traut genug. Meistens hab ich Entscheidendes, oder was ich dafür hielt, mit mir selber auszumachen versucht. Die schöne Zeit am Strand war jedenfalls ganz plötzlich vorbei. Nach wenigen Tagen schon. Das konnte ich nicht verstehen. Doch auch danach habe ich nicht gefragt, warum wir Hals über Kopf abfahren mussten, weg aus dem warmen Sand … Die armen Mädchen, die nicht pinkeln konnten, sah ich nie wieder. Das war für mich das Erlebnis dieser Tage. Ich trug das Gesehene noch lange in mir herum, warum Mädchen nicht wie Jungs sind! Es wollte mir nicht in den Kopf. Mein Vater fuhr indessen in den Krieg, ohne dass ich es wahrnahm. Wo war dieser Krieg? Was war er? Warum musste ausgerechnet mein Vater da mitmachen? Er war plötzlich so weit weg für mich, da brauchte ich mich nicht mit ihm zu befassen. Er ging mich nichts an. Ich lebte ungestört und umhegt weiter wie immer. Ohne ihn. Ich vermisste den Vater nicht.

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