Verbesserung der Arbeitssituationen im Leitstand ... - Semantic Scholar

Eugen Reiswich, Universität Hamburg, [email protected]hamburg.de. 13. Januar 2012. 1 Einleitung. Unternehmen mit etablierten und über Jahre bewährten ... Anlagenteile einem Typ zugeordnet werden z.B. mehrere Temperaturfühler zu PT100. ... Diese Aufgabe stellt nach wie vor die größte Hürde dar, nicht die ...
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Verbesserung der Arbeitssituationen im Leitstand durch Anlageninformationsmodelle Eugen Reiswich, Universität Hamburg, [email protected] 13. Januar 2012 1

Einleitung

Unternehmen mit etablierten und über Jahre bewährten Leitstandlösungen stellen sich die Frage, wie sie von neuen Entwicklungen in Wissenschaft und Praxis profitieren können, ohne dabei ihre bestehenden Systeme abzulösen oder massiv zu verändern. Dabei müssen sie stets Nutzen und Integrationsaufwand gegeneinander abwägen. Aktuell wird im Bereich Leitstandentwicklung der neue Standard OPC Unified Architecture (OPC UA) häufig diskutiert. Dieser bietet einen verbesserten Datentransport sowie ein semantisch reichhaltiges Informationsmodell, das Operateure besser beim Leiten technischer Prozesse unterstützen soll. Unternehmen, die neue Informationsmodelle in bestehende Leitstände integrieren möchten, stehen jedoch vor einer großen Hürde, da ihre Leitstände keine geeigneten Schnittstellen für neue Modelle aufweisen und bislang nicht ausreichend geklärt ist, wie bestehende und neue Modelle zusammenwirken sollen. In diesem Beitrag fassen wir die Ergebnisse unserer dreijährigen F&E-Arbeit in Kooperation mit Industriepartnern zusammen und ergänzen aktuelle, häufig technologielastige Modell-Diskussionen um eine anwenderorientierte Sichtweise. Dabei zeigen wir, welche Modelleigenschaften aktuelle Ansätze verbessern sowie neue Leitstandlösungen ermöglichen. Ergänzend stellen wir einen evolutionären Ansatz vor, mit dem neue Informationsmodelle in bestehende Leitstände integriert und mit existierenden Modellen kombiniert werden können.

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Informationsmodelle aus anwenderorientierten Sicht

Bei der Einführung neuer Technologien können zwei grundsätzliche Herangehensweisen unterschieden werden: technologiezentrierte und anwenderorientierte Ansätze [1], [2]. Aktuelle Diskussionen um OPC UA konzentrieren sich primär auf Webtechnologien, Sicherheit, Plattformunabhängigkeit und Datentransport [3], [4]. Dagegen bietet das Informationsmodell vor allem neue Möglichkeiten Leitstandaufgaben auf einer fachlichen Ebene zu unterstützen. „Bei der Integration soll man mit Naheliegendem beginnen, dort wo die stärksten Effekte zu erwarten sind“ [5, S. 32]. In diesem Beitrag beschränken wir uns auf die Integration von Informationsmodellen und dem Entwurf darauf aufbauender Funktionalität für die Verbesserung der Arbeitsplätze von Operateuren, Ingenieuren und Leitstand-Softwareentwickler. Informationsmodelle bieten semantisch reichhaltigen Informationen wie beispielsweise Typinformationen für Anlagenteile, hierarchische Anlagenstrukturen und Sichten auf Anlagen [3], [4]. Während unserer Arbeit mit Kooperationspartnern in Industrie und Wissenschaft haben wir immer wieder festgestellt, dass wir neben den semantisch reichhaltigen Anlageninformationen weitere Vorteile der Informationsmodelle aufzeigen müssen, um den notwendigen Integrationsaufwand zu rechtfertigen. In zahlreichen Interviews und Workshops mit Operateuren und Ingenieuren haben wir verschiedene Szenarien erarbeitet, wie Arbeitssituationen durch ein Informationsmodell unterstützt werden können. Diese Szenarien haben wir in einem Prototypen umgesetzt und daran untersucht, welche Modelleigenschaften neue Leitstandlösungen ermöglichen und wie sie mit etablierten Ansätzen kombiniert werden können. Die Ergebnisse unserer Arbeit haben wir den elementaren Leitstandaufgaben zugeordnet: • Datenzugriff: Operateure interagieren mit der Anlage, in dem sie u.A. Messwerte in Prozessbildern ablesen und manipulieren. Diese Prozessbilder werden in vielen Leitständen noch manuell durch Copy & Paste-Operationen erstellt. Dies ist sehr aufwändig, fehleranfällig und erschwert eine nachträgliche Rekonfiguration. Aktuelle Ansätze versuchen die Erstellung der Prozessbilder zu automatisieren und nutzen hierfür Daten aus früheren Planungsphasen der Anlage [6], [7]. In unserem Ansatz verfolgen wir eine teilautomatisierte Projektierung, die das Typkonzept der Informationsmodelle nutzt. Dabei können ähnliche Anlagenteile einem Typ zugeordnet werden z.B. mehrere Temperaturfühler zu PT100. Die überwiegenden Konfigurationsaufgaben werden anschließend auf der Typebene erledigt und automatisch auf die zugehörigen Anlagenteile übertragen. Dies reduziert den Konfigurationsaufwand und ermöglicht eine nachträgliche Rekonfiguration an einer zentralen Stelle. Diesen Ansatz haben wir zusätzlich um Validierungsfunktionen

zwischen Modell und Prozessbilder erweitert, um die Qualität der Leitstandsoftware zur Entwicklungsund Laufzeit zu erhöhen. • Alarmierung: In kritischen Situationen müssen Operateure oft in kurzer Zeit ganze Alarmfluten verarbeiten oder sie müssen auf überflüssige Alarme reagieren, die z.B. von Anlagenteilen im Wartungszustand verschickt werden. Etablierte und ausgereifte Alarmphilosophien reduzieren diese Probleme bereits bei ihrer Entstehung [8], gleichwohl sind sich die meisten Experten einig, dass auch die beste Alarmphilosophie und Konfiguration Alarmfluten oder Wartungsalarme nicht gänzlich verhindern können. Informationsmodelle mit hierarchischen Anlagenstrukturen unterstützen Operateure beim Umgang mit Alarmen, in dem sie Alarme entsprechenden Anlagenteilen zuordnen, um bei Alarmfluten die Übersicht zu erhöhen. Die hierarchische Struktur bietet dazu die Möglichkeit, ganze Anlagenteile in einen Wartungszustand zu versetzen und damit die entsprechenden Alarme zu filtern. Informationsmodelle mit einem Sichtenkonzept helfen zusätzlich den Operateuren sich auf relevante Teile der Anlage zu konzentrieren. Verknüpfungen zu historischen Alarminformationen erlauben den Ingenieuren kritische Situationen zu einem späteren Zeitpunkt direkt in den Alarmierungswerkzeugen nachzufahren und damit ihre Entstehung besser zu analysieren. • Historischer Datenzugriff: Gespeicherte Messwerte sind häufig sehr feingranular. Sie erschweren damit Operateuren in großen Anlagen diese Werte in einem größeren Zusammenhang zu betrachten und zu verstehen. In vielen Leitständen werden daher für die historische Datenanalyse diverse Diagramme für aggregierte, berechnete oder Rohdaten eingesetzt. Informationsmodelle mit Attributen zu Anlagenteilen wie z.B. Schwellwerte, können mit historischen Messwerten kombiniert werden, um vergangene Situationen direkt in den Prozessbildern nachzufahren. Dadurch werden die Zusammenhänge und Auswirkungen auf andere Anlagenteile besser sichtbar.

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Informationsmodelle aus softwaretechnischer Sicht

„The ultimate purpose of software is to serve users. But first, that same software has to serve developers.“[9, S. 243]. Für Softwareentwickler ist die Modellierung der Anwendungsdomäne das zentrale Konzept, um fachliche Anforderungen in einer Software umzusetzen [1], [9]. Diese Aufgabe stellt nach wie vor die größte Hürde dar, nicht die Technik. Informationsmodelle werden auf der softwaretechnischen Ebene durch Metamodelle formalisiert und bieten somit Beschreibungsmittel zur Modellierung der Eigenschaften von Anlagenteilen sowie deren Zusammenhänge [10]. Obwohl Metamodelle eine zusätzliche Abstraktion der Domänenmodelle darstellen, können sie Softwareentwickler bei den folgenden Aufgaben unterstützen: • Anwendungsbereich verstehen: Modelle können dabei unterstützen implizites Anlagenwissen über Strukturen und Eigenschaften von Anlagenteilen, explizit für Entwickler sichtbar zu machen [11]. Modelle mit einer hohen Strukturähnlichkeit zur Anwendungsdomäne bilden eine Brückenfunktion zwischen Realität und Softwaresystem und bieten somit Softwareentwicklern und Anlagenexperten eine gemeinsame Sprache, die ein gegenseitiges Verständnis fördert und Missverständnisse reduziert [12], [1], [9]. • Änderungen in der Anwendungsdomäne schneller umsetzen: Leitstandsoftware gehört zu den E-Programmen, die menschliches Handeln mechanisieren [13]. Sie unterliegen dabei ständigen Änderungen, die von Anwendern aber auch durch äußere Umstände angestoßen werden. Modelle mit einer hohen Strukturähnlichkeit unterstützen Entwickler Änderungen in der realen Anlage schneller in der Software zu lokalisieren und die damit verbundenen Auswirkungen besser einzuschätzen.

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Evolutionäre Integration

Softwareprojekte werden heute nur selten auf der grünen Wiese entwickelt. In den meisten Fällen existieren bereits oft heterogene Systeme, die mit neuen Ansätzen kombiniert werden müssen. In bestehenden Leitständen existieren bereits Modelle in z.B. CAE-Werkzeugen, Engineering-Datenbanken und als Abbild der Anwendungsdomäne in der Leitstandsoftware. Viele aktuelle Ansätze versuchen bestehende Leitstände und die darin enthaltene Modelle durch softwaretechnische Konstrukte wie Wrapper, Proxies und Gateways so zu kapseln, dass sie weitgehend erhalten bleiben. Diese Ansätze schränken jedoch neue Möglichkeiten ein und bieten Operateuren trotz des Integrationsaufwandes kaum Verbesserungen bei ihrer Arbeit [14]. Andere Ansätze ersetzen in einem iterativen Prozess bestehende Clients und Server, was eine tiefgreifende Veränderung der Anlage bedeutet, auch wenn dies etappenweise geschieht. In diesem Beitrag streben wir ein evolutionäres Vorgehen an, mit dem Ziel, bestehende Clients und Server sowie darin gekapselte Modelle zu erhalten und mit neuen Informationsmodellen zu ergänzen. Diese werden ausschließlich im Client integriert, dort wo Operateure und Ingenieure einen direkten Nutzen und Unterstützung bei ihrer Arbeit erfahren. Damit schränken wir die Umbaumaßnahmen auf einen begrenzten Teil des

Gesamtsystems ein, um Risiken zu minimieren. Um die Entwicklung neuer Modelle zu vereinfachen, nutzen wir Informationen vorhandener Modelle, importieren und ergänzen diese wenn nötig. Modelle verändern sich im laufenden Betrieb, was zu einer schleichenden Datenerosion führen kann. Um Abweichungen zwischen bestehenden und neuen Modellen zu vermeiden, sorgen wir im laufenden Betrieb für deren Synchronisation und bieten Ingenieuren geeignete Werkzeuge, um Modellabweichungen zu analysieren und zu beheben.

Literatur [1] H. Zuellighoven, Object-Oriented Construction Handbook. dpunkt.verlag, 2005. [2] M. Endsley and E. Connors, “Situation awareness: State of the art,” in Power and Energy Society General Meeting - Conversion and Delivery of Electrical Energy in the 21st Century, 2008 IEEE, pp. 1 –4, july 2008. [3] W. Mahnke, S.-H. Leitner, and M. Damm, OPC Unified Architecture. Springer, 2009. [4] J. Lange, F. Iwanitz, and T. J. Burke, OPC von Data Access bis Unified Architecture, 4. Aufl. VDE Verlag, 2010. [5] K. F. Früh, U. Maier, and D. Schaudel, Handbuch der Prozessautomatisierung, 4. Aufl. Oldenbourg Industrieverlag, 2009. [6] S. Schmitz and U. Epple, “Automatisierte projektierung von hmi-oberflächen,” VDI-Berichte Nr. 1980, pp. 1–12, Apr 2007. [7] L. Urbas, S. Hennig, H. Hager, F. Doherr, and A. Braune, “Towards context adaptive hmis in process industries,” Industrial Informatics (INDIN), 2011 9th IEEE International Conference on, pp. 244 – 249, 2011. [8] B. Hollifield and E. Habibi, Alarm Management: Seven Effective Methods for Optimum Performance. ISA, 2007. [9] E. Evans, Domain-Driven Design. Addison-Wesley, 2004. [10] C. Diedrich and M. Mühlhause, “Modellansätze für die digitale fabrik,” Automatisierungstechnik 1/2011, 2011. [11] M. Aboulsamh and J. Davies, “A metamodel-based approach to information systems evolution and data migration,” Fifth International Conference on Software Engineering Advances (ICSEA), pp. 155 – 161, 2010. [12] W. Hesse and H. C. Mayr, “Modellierung in der softwaretechnik: eine bestandsaufnahme,” InformatikSpektrum, Jan 2008. [13] M. Lehman, “Programs, life cycles, and laws of software evolution,” Proceedings of the IEEE Special Issue on Software Engineering, vol. 68, pp. 1060–1076, Jan 1980. [14] T. Hannelius, M. Salmenpera, and S. Kuikka, “Roadmap to adopting OPC UA,” IEEE International Conference on Industrial Informatics (INDIN 2008, DCC, Daejeon, Korea July 13-16), 2008.