Unzustellbar - DocCheck

scher Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund. Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psycho-.
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Unzustellbar

Wolfgang Hegener

Unzustellbar – gemeint sind unerhörte Botschaften, die nie ihren Adressaten erreicht haben und doch darauf warten, irgendwann einmal erhört, angenommen und in einem konstruktiven Prozess verwandelt zu werden. Der Psychoanalyse geht es genau in diesem Sinne um das, was nicht ankommt, kaum oder gar nicht sagbar, gar unsäglich ist, durchfällt und nicht repräsentiert werden kann.

Unzustellbarkeit prägt nicht nur die klinische Situation der Psychoanalyse, sondern liegt auch ihren zentralen Theorien zugrunde. Ausgehend von diesem Gedanken untersucht der Autor im Spannungsfeld von Philosophie, Kulturwissenschaft und Psychoanalyse Konzepte des Unbewussten, des (Todes-)Triebes und kulturelle Tradierungsprozesse.

Wolfgang Hegener

Unzustellbar Psychoanalytische Studien zu Philosophie, Trieb und Kultur

Wolfgang Hegener, Dr. phil., ist Psychoanalytiker (DPG/IPV) in eigener Praxis und habilitiert sich zurzeit für das Fach »Psychoanalytische Kulturwissenschaft« an der HU Berlin. Seine Interessenschwerpunkte sind Kulturtheorie, Antisemitismus sowie das Verhältnis von Philosophie und Psychoanalyse.

www.psychosozial-verlag.de

ISBN 978-3-8379-2287-5

Psychosozial-Verlag 408 Seiten, Rückenstärke: 27 mm · Majuskel

Wolfgang Hegener Unzustellbar

D

as Anliegen der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft sowie als klinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und der kritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden. Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert: Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wie beispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, Siegfried Bernfeld, W. R. D. Fairbairn, Sándor Ferenczi und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der von Zersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen weiteren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung. Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahren hat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Bezüge vernachlässigt. Indem der Dialog mit den Nachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Die Psychoanalyse steht in Konkurrenz zu benachbarten Psychotherapieverfahren und der biologisch-naturwissenschaftlichen Psychiatrie. Als das ambitionierteste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich die Psychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer Therapie-Erfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigene Kriterien und Verfahren zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse. Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigen kann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potenzial besinnt.

Bibliothek der Psychoanalyse Herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth

Wolfgang Hegener

Unzustellbar Psychoanalytische Studien zu Philosophie, Trieb und Kultur

Psychosozial-Verlag

Diese Arbeit wurde 2013 zur Erlangung der Lehrbefähigung im Fach »Psychoanalytische Kulturwissenschaft« an der Humboldt-Universität zu Berlin (Philosophische Fakultät III) unter dem Titel »Unzustellbar. Psychoanalytische Studien zu Philosophie, Trieb und Kultur« vorgelegt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. E-Book-Ausgabe 2014 © der Originalausgabe 2013 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung & Layout: Hanspeter Ludwig, Wetzlar www.imaginary-world.de ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2287-5 ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6645-9

Für Rosa Joséphine

Inhalt

Einleitung

11

Teil  I

Psychoanalyse und poststrukturalistische Philosophie

1.

Zwischen Gegenwissenschaft und Unterwerfungsmacht



Foucault, das Unbewusste und der Platz des Psychoanalytikers

33

Freud – ein transdiskursiver Autor

33

Das Cogito und der Wahnsinn

36

Die Psychoanalyse als ›Gegenwissenschaft‹

46

Zur Kritik der politischen Technologie

57

Psychoanalyse als Begehrenshermeneutik

61

Kritik und Ausblick:  Foucault und der Ödipus-Komplex

65

2.

»Die Schrift ist ursprünglich die Sprache des Abwesenden« (Freud)



Derridas dekonstruktive Lektüre Freud’scher Schriften

71

Wie man Hegel entkommen kann

71

Dekonstruktion und dekonstruktive Lektüre

72 7

Inhalt

Grammatologie – Derridas Philosophie der Schrift

82

Derridas Freud-Lektüre – ein Überblick

89

1. Zur Grammatik psychischer Schrift: »Freud und der Schauplatz der Schrift« (1966)

89

2. Diesseits und Jenseits des Todestriebes: »Spekulieren – über/auf ›Freud‹« (1980)

105

3. Von archontischen Mächten: »Dem Archiv verschrieben – Eine Freudsche Impression« (1997)

163

Teil  II Zur Psychoanalyse des Triebes 3.

Sexualität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit



Zu den historischen Voraussetzungen und zur Aktualität der Freud’schen Sexualtheorie

189

Einleitung

189

Die ›Erfindung‹ der (männlichen) Homosexualität

190

Von der Psychopathia Sexualis zur Sexualwissenschaft

197

Vom Allianz- zum Sexualitätsdispositiv

203

Klone und Mannequins

215

4.

Das unmögliche Objekt des Triebes



Zur Begründung der Triebtheorie bei Freud, Laplanche und in der kleinianischen Psychoanalyse

221

Der Trieb:  Zur Logik der Repräsentation

221

Der Trieb als entstellter Instinkt

226

Die Objektfindung als Erschaffung des Triebobjekts

230

Laplanches Reformulierung der Freud’schen Verführungstheorie

252

Ausblick und Kritik:  Gehören Aggression und Destruktion zur Triebtheorie?

271

8

Inhalt

Teil  III Psychoanalyse und Kultur 5.

Trauma, Schuld und Tradition

Die Freud’sche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses in Der Mann Moses und die monotheistische Religion

285

Zum Problem der Nachträglichkeit in der Rezeption des »Mann Moses«

285

Die Entstehungsvoraussetzung des Mann Moses:  der Antisemitismus

289

Psycho-Lamarckismus oder kulturelle Weitergabe?

293

Dynamiken kultureller Weitergabe von Traumata

298

Gesetz, Schrift und Schuld:  Zur Unterscheidung von Judentum und Christentum

302

6.

Auf dem Wege in eine vaterlose Gesellschaft



Anmerkungen zur Geschichte der ›alten DPG‹ (1908–1945) im Kontext historischer Entwicklungen

323

Epilog:  Selbstanwendung

Zur methodischen Relevanz der Psychoanalyse für die Humanwissenschaften

353

Übertragung und Gegenübertragung:  Eine kurze Konzeptgeschichte

358

Wie bedroht ist die Psychoanalyse durch ihre eigene Institution?

370

Literaturverzeichnis

379

Danksagung

403

Bibliografische Anmerkungen

405

9

Einleitung

Es gibt eine kurze, in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschriebene Novelle von Herman Melville mit dem Titel Bartleby the Scrivener, deren deutscher Titel Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall Street (Melville 2004) lautet. Die Erzählung ist schnell zusammengefasst: In einer Kanzlei wird ein rätselhafter Kopist eingestellt, eben jener Bartleby. Er fällt zunächst einerseits durch seine Zuverlässigkeit und Genauigkeit auf, andererseits aber auch durch eine rätselhafte Schweigsamkeit und abweisende Zurückhaltung. Vollends sonderlich wird es jedoch, als er beginnt, die Ausführung bestimmter Tätigkeiten konsequent mit dem Satz: »Ich möchte lieber nicht!«, im englischen Original: »I would prefer not to!«, zu quittieren und sich hartnäckig zu verweigern. Dem Rechtsanwalt, der Bartleby eingestellt hat und es nicht schafft, ihn zu entlassen, da er, neben seiner Empörung, eine Mischung aus Mitleid und verwunderter Faszination für ihn empfindet, stellt schließlich sogar fest, dass Bartleby das Kontor niemals verlässt, vielmehr darin wohnt und auch auf Aufforderung nicht bereit ist, seinen Platz zu räumen. Er hat sich hinter einem jeden Ausblick verstellenden Wandschirm eine kleine Nische geschaffen, in der er unauffällig und äußerst spartanisch, eigentlich von nichts lebt. Alle Versuche seines Vorgesetzten, Bartleby zu erreichen, scheitern kläglich. Er weiß sich schließlich gar nicht anders zu helfen, als selber auszuziehen und das Kontor zu wechseln. Bartleby kommt nach etlichen Schwierigkeiten mit den neuen Nutzern ins Gefängnis, wo er jedes Essen mit immer derselben Bemerkung verweigert und schließlich stirbt. Am Ende dieser Geschichte vermerkt der ratlose und 11

Einleitung

erschütterte Rechtsanwalt, er habe einige Monate nach dem Tode Bartlebys gerüchtweise eine kleine Einzelheit über den Schreiber erfahren, die er dem Leser nicht vorenthalten wolle – und man ahnt, dass diese »kleine Einzelheit« entscheidend sein könnte für das Verständnis der rätselhaften Geschichte. Der vage Bericht, von dem er zu erzählen habe, sei zwar sehr traurig, aber auch nicht ohne einen gewissen suggestiven Reiz für ihn gewesen. Er habe erfahren, dass Bartleby, bevor dieser in seine Dienste in New York getreten sei, ein untergeordneter Angestellter im »Dead Letter Office«, im, wie es in der Übersetzung heißt, Amt für unzustellbare Briefe in Washington gewesen sei. Der Erzähler vermerkt dazu: »Wenn ich über dieses Gerücht nachdenke, kann ich die Empfindungen, die mich dabei ergreifen, fast nicht ausdrücken. ›Tote Briefe!‹ klingt es nicht wie ›tote Menschen‹?« Er stellt sich vor, wie in solchen Briefen armen, bedrückten oder schuldigen Menschen Trost, Verzeihung und Hoffnung gebracht werden sollte, sie diese Botschaften aber nicht mehr erreichen. Die Geschichte endet mit dem erschütternden Satz: »Auf Botengängen des Lebens eilen diese Briefe zum Tod. O Bartleby! O Menschheit!« Bartleby ist geradezu zu einer Ikone der poststrukturalistischen Philosophie und einer globalisierungskritischen politischen Theorie geworden. Nach Gilles Deleuze ist das Faszinierende, dass die Formel »I would prefer not to« kein definiertes Objekt sowie keine Referenz habe und daher uneindeutig bleibe, sie sei »weder eine Affirmation noch eine Negation« (Deleuze 1994, S. 13). Durch die Formel werde weder etwas schlicht verweigert noch akzeptiert, denn Bartleby drücke nur eine Präferenz aus, sage aber nicht konkret, was er tun und was er nicht tun wolle, wodurch beides undeutlich, ununterscheidbar und unbestimmbar werde. Bartleby, ein Mann ohne Referenzen, Besitztümer und besondere Eigenschaften, folge der »Logik der negativen Präferenz«, einem »Negativismus jenseits jeder Negation« (ebd., S. 15). Die Kraft der sich in dieser Formel ausdrückenden Ambiguität beruhe darauf, dass Bartleby weder etwas Besonderes noch etwas Allgemeines darstelle, er sei vielmehr ein »Original« (ebd., S. 43), das sich jeder klassischen Zu- und Einordnung entziehe und die Leere und Unvollkommenheit aller logischen Gesetze offenbare. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben definiert in seiner Arbeit Bartleby oder die Kontingenz den »unerlösbaren« Kopisten Bartleby als »sein 12

Einleitung

eigenes weißes Blatt« (Agamben 1998, S. 33). Er verkörpere eine besondere Form der Potenzialität, die Potenzialität für etwas und zugleich für dessen Gegenteil sei. Das ›lieber‹ in der Formel Barlebys sei eine Präferenz, die nicht mehr dazu diene, die Vorherrschaft des Seins über das Nichts zu sichern, sondern ohne Grund in der Indifferenz zwischen Sein und Nichts verharre (ebd., S. 44). Potenzialität wird damit zu einer Form von Kontingenz und Bartleby zu einer neuen messianischen Figur, die nicht, wie Jesus, das erlöst, was gewesen, sondern gerade das rettet, was nicht gewesen ist (ebd., S. 71). Für Antonio Negri und Michael Hardt, so formulieren sie es in ihrem globalisierungskritischen Buch Empire (Hardt und Negri 2002), liegt das Geheimnis von Melvilles Erzählung in der strikten Verweigerung Bartlebys, die zu einem Modell für widerständiges Handeln in einer scheinbar sich alternativlos durchsetzenden neoliberalen Weltordnung werden könnte (immerhin schafft es Bartleby, seinen Arbeitgeber aus dessen eigenem Büro zu vertreiben). Jacques Derrida (1992b, S. 159f.) schließlich, dessen Philosophie in diesem Buch eine besondere Rolle spielen wird und der seine Interpretation der Erzählung in einen Aufsatz über das psychoanalytische Phänomen des Widerstandes eingefügt hat, ist der Ansicht, dass Bartleby eine »Figur des Todes« sei, indem er, ohne selbst zu sprechen, den Erzähler respektive den (Psycho‑)Analytiker zu sprechen zwinge und scheitern lasse. Er repräsentiere damit den eigentlichen Ort des Widerstandes, den »hyperbolischen Widerstand des Nicht-Widerstands«, der nicht in einem Ja oder Nein aufgehe und in Verbindung stehe mit dem Wiederholungszwang und dem Todestrieb. Auch ich werde im Folgenden, inspiriert durch diese Überlegungen Derridas, die tragischen und auch destruktiven Momente der Geschichte und Figur betonen,1 sie auf bestimmte Übertragungs- und Transformationsvorgänge beziehen und die Verbindung zum psychoanalytischen Prozess suchen. 1 Vermeiden möchte ich die unkritische Idealisierung Bartlebys, die sich vor allem in der Analyse von Deleuze zeigt, der in ihm geradezu einen neuen Christus sehen und in seinem Namen die Menschheit von der »Vaterfunktion befreien« (Deleuze 1994, S.  46) will. Das ödipale Modell der Abstammung wird grundlegend diskreditiert und soll ersetzt werden durch die »Gesellschaft der Brüder als neue Universalität« (ebd., S. 47) – ich werde auf diese antiödipale Tendenz in meiner Auseinandersetzung mit Foucaults Kritik der Psychoanalyse und (eher implizit) im letzten Kapitel des Buches näher eingehen.

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