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Dieser war doppelt kurios, denn der Weinhändler selbst war es gewesen, der die Num- mern gedrückt hatte. Am anderen Ende wurde geschnauft und gestöhnt.
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Norbert Klugmann

Norbert Klugmann

Kriminalroman

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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© 2004 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75/20 95-0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 3. Auflage 2006 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart Gesetzt aus der 9,5/13 Punkt Stempel Garamond Druck: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany ISBN 3-89977-615-1

1 Heute stieß er sich nicht den Kopf. Daran erkannte er, dass er im Begriff war, sich im Keller wie zu Hause zu fühlen. Ein Keller ohne elektrisches Licht – man konnte das Loblied auf die goldene Vergangenheit auch übertreiben. Vier Wochen hatten sie das altmodische Spiel gehorsam mitgespielt und dann für 5,99 Euro eine Stablampe aus dem Baumarkt geholt. Seitdem mussten sie mit den Flaschen nicht jedes Mal zum nächsten Kerzenleuchter pilgern. Verblasste Tintenschrift, abgeblätterte Kreide, alles in den Schriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zuerst war Grünfeldt mitgekommen, um die jungen Helfer einzuweisen. Aber wer 70 Jahre seines Lebens dem Wein und dem Handel mit Wein gewidmet hat, ist nicht fähig, sich vorzustellen, was man alles nicht wissen kann. Unter der Wucht der Persönlichkeit des Patriarchen waren sie in die Knie gegangen, hatten sich klüger gegeben, als sie waren. Seitdem stiegen sie zweimal pro Woche in die Katakomben hinab. Sie standen nicht unter Zeitdruck, bis zum Jubeltag würde es noch ein halbes Jahr dauern. Alles, was jünger war als 1950, lagerte in Holzkisten oder Regalen und gehorchte einem Ordnungsprinzip, das sich auch dem begriffsstutzigsten Archivar erschloss. Eine Wissenschaft für sich waren nur die Kostbarkeiten. Weine, die älter als 80 Jahre waren. Ein Lafite, der den 7

Geschützdonner des Ersten Weltkriegs gehört hatte; ein Yquem, der schon das Pensionsalter erreicht hatte, als sich Deutsche und Franzosen 1870 die Kugeln um die Ohren schossen; feinste Rieslinge vom Rhein, man hätte mit ihnen auf die Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests anstoßen können. Die älteste Kostbarkeit stammte aus dem Jahr 1834, und sie waren mit der Inventur erst halb fertig. Mittlerweile hatte ihn der Ehrgeiz gepackt. Was zuerst nur wie ein Job ausgesehen hatte – mit acht Euro pro Stunde nicht gerade fürstlich entlohnt – wuchs sich zu einer Beschäftigung aus, der er gerne nachging – und Philipp auch. Manch ein Weinfex hätte eine Kiste seiner besten Vorräte hergegeben, um sich eine Stunde in diesen Räumen aufhalten zu dürfen. Schade, dass sich keine Flasche aus dem Jahr 1804 finden würde. Aber der alte Weinhändler hatte betont, dass der Gründer des ehrwürdigen Lübecker Weinhauses in den ersten Jahren von der Hand in den Mund gelebt hatte. Kein Gedanke daran, einzulagern und dem Wein beim Altwerden zuzusehen. Heute war der neue Raum dran. Niedrig wie alle anderen Keller, aber noch verstaubter. Spinnennetze so dick, dass die Faust nach halbherzigen Schlägen wie von einer elastischen Wand zurückprallte. An den Wänden die obligatorischen Kerzenleuchter. Schwarzes Eisen mit oberschenkeldicken Kerzenstumpen. In der Ecke eine uralte Maschine zum Verkorken. Die Regalbretter ausgetrocknet und durchgebogen, die Flaschen fast unsichtbar unter dem Staub. Lampe aufgestellt, Laptop auf einem Holzfass aufgeklappt, Hemdkragen gegen zwölf Grad Celsius hochgeklappt. Dann begann er zu arbeiten. 8

Mendel Grünfeldt musste 86 Jahre alt werden, bevor er seinen ersten obszönen Anruf erlebte. Dieser war doppelt kurios, denn der Weinhändler selbst war es gewesen, der die Nummern gedrückt hatte. Am anderen Ende wurde geschnauft und gestöhnt. Grünfeldt blickte auf das Display und sagte: „Kann ich unter dieser Nummer den Marchese erreichen?“ Stöhnen. „Sie wissen, wer der Marchese ist?“ Dann verstand er die ersten Worte: „Zahnarzt. Gerade zurück. Wünschte, ich wäre tot.“ „Ein verständlicher, aber vorschneller Wunsch, mein Lieber. Komm sofort her. Dann reden wir weiter über das Thema.“ Der Körper lag zwischen zwei Fässern. Ein drittes Fass lag auf seinem Oberkörper, bis vor kurzem hatte es auf seinem Kopf gelegen. „Was wiegt so ein Koloss“, sagte der Marchese. „Ein paar Zentner werden es schon sein.“ „Und wie hast du das Fass bewegt?“ „Ich habe mir vorgestellt, es liegt auf einer meiner guten Flaschen. Das verleiht mir Bärenkräfte.“ Sie hatten Felix einen Kerzenleuchter ins Gesicht gestoßen. Alle anderen Leuchter befanden sich an den Wänden, alle Kerzen brannten. Der Schädelknochen war geborsten, aus der Wunde war nicht nur Blut ausgetreten. „Warum das Fass“?, fragte der Marchese, um selbst fortzufahren: „Vielleicht hat er den Anblick nicht ertragen.“ „Wie geht es deinen Zähnen?“ „Lass uns über etwas Schöneres reden, ja?“ 9

„Ich sollte bei Gelegenheit die Polizei benachrichtigen.“ „Heißt das etwa, du hast noch nicht …?“ „Siehst du hier irgendetwas, das Eile nötig macht?“ Der Marchese blickte den Freund an, so lange, bis Grünfeldt sagte: „Sie werden nichts finden, weil sie nicht danach suchen werden.“ Der Marchese ging, die Polizei kam. An ihrer Spitze Kommissar Waldmeister, seine ersten Worte lauteten: „Mach mal einer Licht an!“ „Das ist wegen dem Wein“, gab ein Kollege zu bedenken. „Geiz ist das“, murmelte der Kommissar. „Wo steckt unser orientalischer Freund? Zählt wahrscheinlich gerade seine Goldstücke. Was ist“, bellte er den Kollegen an, dessen Gesichtsausdruck er nicht zu deuten verstand. „Er will Ihnen mitteilen, dass der Orientale hinter dem Krabbenfresser steht“, sagte eine Stimme hinter Waldmeister. Der Kommissar drehte sich zu Grünfeldt um. „Humor muss sein“, sagte er und reichte dem alten Mann die Hand. „Ich habe bei 666 Goldstücken eine Pause gemacht“, sagte Grünfeldt. „Wenn ich nachher weiterzähle, muss ich nur an Sie denken und mir fällt die Zahl 666 wieder ein. Raffiniert, nicht wahr?“ Waldmeister lächelte matt und nahm sich vor, in einem Lexikon nachzuschlagen. „Wo haben Sie Ihren Lichtschalter versteckt?“, fragte Waldmeister. 10

„Ich spare, wo ich kann“, sagte Grünfeldt. „Verstehe“, sagte Waldmeister, „von nichts kommt nichts.“ „Es gibt Ausnahmen. Sehen Sie sich an.“ Waldmeister wurde das Gefühl nicht los, dass ihm die Sache aus den Händen zu gleiten drohte. Erneut forderte er Licht, als Grünfeldt versicherte, dass in diesem Keller kein elektrisches Licht zur Verfügung stehen würde, rief der Kommissar nach Scheinwerfern und Verlängerungskabeln. Als der Raum in gleißendem Licht schwamm, gab es niemand, der sich der Atmosphäre entziehen konnte. Kommissar Waldmeister schritt die Regale ab und sagte: „Gibt es irgendeine geheime Regel, die es verbietet, in einem Weinkeller Staub zu wischen?“ „Ja, eine einzige, die Liebe zum Wein“, sagte Grünfeldt. Der Kommissar musterte den Hausmantel des alten Mannes. Grünfeldt teilte den Beamten mit, was sie wissen mussten – und kein Wort mehr. „Mal sehen, ob ich alles verstanden habe“, sagte Waldmeister und übersah, wie die Kollegen die Augen verdrehten. Er fasste nun mal für sein Leben gern zusammen. „Ihre Firma feiert bald den Zweihundertsten. Zur Feier des Tages wollen Sie endlich mal aufräumen und heuern zwei Knaben an, um hier unten Staub zu wischen und alles auf Vordermann zu bringen. Korrigieren Sie mich, falls ich etwas falsch verstanden habe, was ich allerdings für kaum möglich halte.“ Grünfeldt hob den Arm. 11

„Das Weinhaus Grünfeldt besteht 200 Jahre. Wir werden feiern, da werdet ihr steifen Nordlichter euch die Augen reiben. Meine Weinvorräte sind in der Stadt an zwei Orten untergebracht. In einer banalen Lagerhalle steht das Gesöff für alle Tage …“ „Beispielsweise für welchen Anlass?“ „Beispielsweise für Ihre Beerdigung. Darf ich fortfahren? Danke. Die andere Hälfte liegt in diesen Kellern, sie sind das Älteste und Beste, was die Stadt zu bieten hat. Sagt Ihnen die Jahreszahl 1452 etwas?“ „Kam die nicht ziemlich bald nach 1451?“ „Acht Gewölbe. Sieben habe ich leidlich im Kopf. Ins achte wurde jahrelang alles geschoben, was zu gut war, zu alt, zu selten, auch zu bizarr.“ „Verstehe“, sagte Waldmeister. „Wäre ich eine Flasche, würde ich hier gelandet sein.“ Er las die Entgegnung im Gesicht des alten Mannes. Sag es, geiferte Waldmeister. Sag es endlich. Es wird dir sonst die Kehle zuschnüren. Aber Grünfeldt sagte: „Ich habe diesen Raum im Verdacht, dass hier einige Schätzchen lagern. Deshalb waren die Jungen mit der Inventur in den vorderen Gewölben schnell fertig. Letzte Woche ging es hier los.“ „Ohne Licht.“ „Kerzenlicht schont den Wein. Es ist das Licht, das ihm angemessen ist. Seit tausend Jahren.“ „Tausend! Mann! So alt wird kein Polizist.“ „Und wer weiß, wofür das gut ist.“ „Also hat der Killer Wein geklaut“, sagte der Kommissar. „Wo ist die Inventarliste?“ 12

„Im Computer.“ „Computer! Guter Mann, ist das nicht zu modern für Ihren Wein?“ „Mir würde Papier reichen. Aber die Jungen hielten es für eine gute Idee.“ „Okay, das erleichtert die Sache.“ Der Laptop fand sich auf dem Fußboden. Er war zerkratzt, aber funktionsfähig. Der Arzt lieferte ein Zwischenergebnis: Tod durch mehrfachen Schädelbruch. Tatinstrument vermutlich der Kerzenleuchter oder ein anderer schwerer Gegenstand. Tatzeitpunkt: vor etwa vier Stunden. Keine Spuren eines Kampfes. Keine Gegenstände, die nicht dem Opfer zuzurechnen wären. Alles weitere nach Obduktion und Spurensicherung am Tatort. „Der viele Staub ist ein Glücksfall“, sagte der Spurensicherer. „Wenigstens einer, der glücklich ist“, knurrte Waldmeister. „Wo steckt der Zweite?“ Grünfeldt sagte: „Ich verstehe nicht.“ „Der zweite Staublecker. Sie sagten doch, dass Sie zwei …“ „Ich habe Philipp heute nicht gesehen. Felix auch nicht. Die beiden arbeiten selbstständig. Meine Frau lässt sie nur ins Haus.“ „Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Kinder ohne Kontrolle an Ihre Superflaschen lassen?“ „Ich verbürge mich für die beiden.“ „Würde ich nie machen. Wenn ich dann mal um Namen und Adressen bitten dürfte.“ 13

„Philipp Bernstorff und Felix von Oldenburg.“ „Witzig. Bernstorff heißt unser Vize-Bürgermeister. Oldenburg heißt der Reeder. Und wo kommen Ihre Kandidaten her?“ „Der eine aus einer Bürgermeisterfamilie. Der andere aus einer Reederfamilie.“ Der Kommissar ließ sein Notizbuch sinken. „Auf Wiedersehen, Durchschnittsfall“, sagte er leidend. „Arbeiterleichen gehen besser“, sagte Grünfeldt vollkommen ernst. „Klar. Zur Not tut es auch ein Türke. Da weißt du gleich: Familien-Rache oder Rauschgift und das war’s dann. Und wer ist nun das Opfer?“ Eine halbe Stunde später brach eine Mutter zusammen. Kommissar Waldmeister wollte zwar noch zupacken, aber Ann-Kathrin von Oldenburg fiel schneller. Um 19 Uhr ließ die Wirkung der Tablette nach. Eine Minute später war er wach. Er schwankte ins Badezimmer. Was er im Spiegel sah, deprimierte ihn zutiefst. Vier Tabletten hatten sie ihm mitgegeben, die Notfallration bis zum nächsten Termin. Er nahm sich vor, den Schmerz auszuhalten. Aber er besaß nicht das Talent, sich abzulenken. Fernsehen kam nicht in Frage. Das Angebot an Büchern war atemberaubend, aber es erforderte einen Geist, der bereit war, auf Entdeckungsreisen zu gehen. Vor dem Haus parkten keine Polizeiwagen mehr. Trotzdem wartete er noch eine weitere Stunde, bevor er hinunterging. Er wollte in den Wohnraum, aber aus der Küche wehten Düfte, die ihn anzogen wie das Licht die Motte. Jadwiga buk Teigspezialitäten aus der Heimat. 14