Untitled

bewegte er den Vorhang einen Spalt zur Seite. Das weiße Mondlicht erhellte die Winterland- schaft wie eine Filmkulisse. Der Schnee be- deckte einfach alles.
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Max Pechmann

Rauhnacht Roman

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© 2014 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2014 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: fotolia, 26810134 - Nightmare woman in black dress© KoMa Printed in Germany

AAVAA print+design Taschenbuch: ISBN 978-3-8459-1323-0 Großdruck: ISBN 978-3-8459-1324-7 eBook epub: ISBN 978-3-8459-1325-4 eBook PDF: ISBN 978-3-8459-1326-1 Sonderdruck: Mini-Buch ohne ISBN AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Prolog: 25. Dezember 1981 Tim Bardin öffnete die Augen. Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten wenige Minuten vor Vier. Der Wind heulte um das Haus. Das war es jedoch nicht, was ihn aus seinem Schlaf gerissen hatte. Ein anderes Geräusch drang an seine Ohren, ein Geräusch, das es um diese Uhrzeit überhaupt nicht geben durfte. Anna lag neben ihm und atmete gleichmäßig. In dem hereinfallenden Mondlicht wirkte seine Frau wie eine Figur aus Alabaster. Er hatte ihre Schönheit schon immer bewundert. Und seit ihrer Hochzeit vor sieben Jahren hatte sie davon kein bisschen eingebüßt. Er rüttelte sie sanft an der Schulter. Anna murmelte irgendetwas und drehte sich um. „Anna“, sagte er. Seine Stimme klang um diese frühe Stunde überraschend laut. Endlich wachte sie auf. „Was ist?“ „Draußen ist etwas.“ 4

Anna drehte sich auf den Rücken und schaute ihn skeptisch an. „Es ist mitten in der Nacht. Was soll draußen schon sein?“ Tim warf die Bettdecke zurück und stand auf. „Das Läuten. Jemand läutet die Friedhofsglocke.“ Anna schaute auf die Anzeige des Radioweckers. „Es ist nicht einmal vier Uhr früh.“ Tim schlich ans Fenster. „Wir sollten die Kinder wecken.“ „Bist du jetzt völlig durcheinander?“ Er blieb ihr die Antwort schuldig. Vorsichtig bewegte er den Vorhang einen Spalt zur Seite. Das weiße Mondlicht erhellte die Winterlandschaft wie eine Filmkulisse. Der Schnee bedeckte einfach alles. Die Straße, die zwischen seinem Haus und dem gegenüberliegenden Friedhof verlief, schlängelte sich einsam bis zum Ortseingang. Von den Bewohnern des Ortes schien bisher noch niemand den Klang der Totenglocke wahrgenommen zu haben. Die dunklen Konturen des Friedhofs wirkten wie das Negativ einer bizarren Fotographie. 5

Sein Augenmerk richtete sich auf die windschiefe Kapelle. Er konnte nicht erkennen, ob sich die Glocke in dem schmalen Turm bewegte, aber das Läuten musste dort seinen Ursprung haben. „Siehst du etwas?“, fragte Anna. Steinfiguren, Grabsteine und steinerne Kreuze warfen längliche Schatten auf dem glitzernden Schnee. Nichts regte sich. Aber aus welchem Grund ertönte die Glocke? „Nichts.“ „Dann ist es bloß der Wind“, versuchte Anna, ihn zu beruhigen. Ihre Besonnenheit hatte schon immer im vollen Gegensatz zu seinen eigenen Charaktereigenschaften gestanden. Tim war derjenige, der leicht außer sich geriet. Auch dieses Mal hatte Anna wohl Recht. Er wollte soeben den Vorhang zuziehen, als er auf der Friedhofsmauer einen seltsamen Schatten wahrnahm. Eine Steinfigur, die er übersehen hatte? Die Konturen besaßen Ähnlichkeiten mit einer Eule, die auf der Mauer hockte. Die 6

Schwärze des Umhangs absorbierte das Mondlicht. An eine solche Figur konnte sich Tim beim besten Willen nicht erinnern. Vielleicht hatte Gustav, der Friedhofswärter, eine neue Statue aufgestellt. Möglich wäre es. Sein Blick blieb an dem eigenartigen Ding haften. Irgendetwas stimmte daran nicht. Plötzlich wusste er auch, warum. Die Figur bewegte sich. Zuerst erzitterte der schwarze Umhang, so als erwecke eine kräftige Windböe ihn zum Leben. Dann richtete sich die Gestalt unerwartet auf. Die Kapuze rutschte von ihrem Kopf. Tim öffnete seinen Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Das Blut in seinen Adern gefror zu Eis. Das bleiche Mondlicht beschien einen runzeligen Kopf, von dessen Schädel wirres, graues Haar abstand. Das Gesicht glich einer Fratze, deren verstörendes Aussehen durch eine Hakennase und spitze Zähne, die zwischen den Lippen herausragten, verstärkt wurden. Grünlich schimmernde Augen starrten direkt zu ihm empor. 7

„Anna“, hauchte Tim. Seine Frau stand endlich auf. Sie trat zu ihm ans Fenster. Kaum hatte sie das grässliche Wesen bemerkt, taumelte sie entsetzt zurück. „Eine Lamia“, flüsterte Tim. „Hast du dich nicht an den Brauch gehalten?“ Anna funkelte ihn zornig an. „Natürlich habe ich das! Das Essen steht unten auf dem Küchentisch.“ Als er wieder aus dem Fenster schaute, packte ihn das schiere Grauen. Nun waren es zwei dieser Kreaturen. „Die Kinder! Wir müssen die Kinder in Sicherheit bringen!“ Er lief zur Kommode und öffnete die oberste Schublade. Anna verwahrte darin ihre Halstücher. Er hob ihr Lieblingstuch an. Darunter erschien der Lauf eines Revolvers. Schnell nahm er die Waffe und suchte zugleich nach der Schachtel, in welcher er die Silberpatronen aufbewahrte. Als er sie gefunden hatte, lud er damit den Revolver und steckte sich eine weitere Handvoll in die Hosentasche seines Pyjamas. 8

Eine Fensterscheibe klirrte. Anna schrie auf und stürzte aus dem Zimmer. Tim folgte ihr, wobei er den Revolver entsicherte. Das Zimmer, in dem Lisa und Thomas schliefen, lag am anderen Ende des Flurs. Anna riss die Tür auf. Ein eisiger Windhauch wehte ihr entgegen. Thomas, ihr zweijähriger Sohn, kreischte, dass es in den Ohren schmerzte. Irgendetwas wirbelte auf sie zu. Ein kräftiger Schlag traf sie ins Gesicht. Sie stolperte zurück. Tim kam sich vor, als wäre er von einer Sekunde auf die andere in einen krankhaften Alptraum geschlittert. Eines der Wesen, das zuvor noch an der Friedhofsmauer gelauert hatte, packte Thomas und zerrte ihn aus dem Bett. Ein plötzlicher Gedanke hinderte ihn daran, etwas zu unternehmen. Wo war Lisa? Er konnte sie nirgendwo sehen. Stattdessen erblickte er die zweite Lamia. Sie ließ von sei9

ner Frau ab und stürzte mit wehendem Gewand auf ihn zu. Reflexartig hob er den Revolver und schoss. Die Kugel zerschmetterte ihren Schädel. Sogleich zielte Tim auf die andere Hexe. Mit einem gackernden Kichern hielt sie ihm seinen Sohn entgegen. Thomas wimmerte. Auf einmal packte das Unwesen den kleinen Kopf und biss gierig in seinen Hals. Ein Knacken ertönte, so als würde jemand einen Ast entzweibrechen. Thomas fiel wie eine Marionette aus ihren Händen. Tim brüllte wie ein wild gewordener Stier. Er betätigte den Abzug und schoss die ganze Trommel leer. Bei jedem Treffer stolperte die Lamia weiter zurück. Der letzte Schuss schleuderte sie aus dem Fenster. Tim eilte zu seinem Sohn. Um Gotteswillen! Er schaute sich im Zimmer um. „Lisa?“ Keine Antwort. Anna lag benommen am Boden. Blut rann aus ihrer Nase. „Lisa? Wo bist du?“ 10

Statt eines Lebenszeichens von ihr, vernahm Tim das gackernde Kichern weiterer Hexen. Es erinnerte an das unrhythmische Klappern von Kastagnetten. Der Boden knarrzte, als sich drei Lamien durch die Tür ins Zimmer schlichen. Zwei weitere hingen wie Fledermäuse vor dem Fenster. Er wich zurück. Mit zitternden Händen griff er in seine Hosentasche und holte eine Handvoll Silberpatronen heraus. Die Alptraumwesen beobachteten ihn dabei. Ihr höhnisches Grinsen verhieß nichts Gutes. Tim schwitzte, obwohl der eisige Wind durch das zersprungene Fenster blies. Er lud den Revolver. In seiner Aufregung fielen ihm zwei Patronen aus der Hand. Das Gackern der Lamien wurde lauter. Er wusste, dass sie nur die Vorhut waren von dem, was noch kommen werde. Seine Frau kam langsam wieder zu sich. „Bleib wo du bist, Anna!“

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Ihre Bewegung lockte die Aufmerksamkeit der Lamien auf sich. Sie durften ihr nichts tun! Wo war Lisa, verflucht? Nur vier Kugeln steckten in dem Revolver. Er hatte keine Zeit mehr, nach den anderen beiden zu suchen. Er musste seine Frau und seine Tochter vor diesen schrecklichen Kreaturen in Sicherheit bringen. „Bleib ganz ruhig, Anna!“ Doch seine Frau hörte nicht auf ihn. Sie erhob sich unsicher. Als sie die Lamia, die sich ihr näherte, wahrnahm, zuckte sie schockiert zusammen. „Nicht!“, schrie Tim. Doch es war zu spät. Die Hexe stürzte sich auf sie. Tim feuerte aus seinem Revolver. Zugleich lösten sich die übrigen Kreaturen aus ihrer abwartenden Starre. Ein heller Schrei drang unter dem Bett hervor. „Lisa!“ Und dann brach die Hölle los. 12

1 Ein schrilles Pfeifen hallte durch den Tunnel. Kurz darauf preschte der Zug aus der Dunkelheit in eine schneebedeckte Berglandschaft. Mehrere Krähen flatterten davon, so als ginge es um ihr Leben. Titus beobachtete ihre Flucht über die dunklen Tannen hinauf in den graublauen Himmel. Die Wolken hingen tief. Er konnte nur hoffen, dass er sein Ziel noch erreichte, bevor es wieder schneite. Sein Freund hatte ihn bereits davor gewarnt, dass der Zug in den letzten beiden Dezemberwochen öfters im Schnee stecken blieb und den Passagieren nichts anderes übrig blieb, als in den Wagons auszuharren. Manchmal dauerte es nur wenige Stunden, manchmal eine ganze Nacht, bis die Schienen wieder frei waren und der Zug weiterfahren konnte. Titus lehnte sich zurück und blickte auf seinen aufgeschlagenen Notizblock. Außer ei13

nem sinnlosen Gekritzel hatte er nichts zustande gebracht. Er hatte gehofft, die Zugfahrt dazu nutzen zu können, um ein paar Ideen aufzuschreiben, aber diese Hoffnung hatte sich inzwischen in Luft aufgelöst. Das schrille Pfeifen kehrte wieder. Die Winterlandschaft wich einer weiteren Schwärze, als der Zug einen anderen Tunnel durchquerte. „Nächster Halt Tiefenfall.“ Außer ihm gab es nur drei andere Fahrgäste. Keiner reagierte auf die Durchsage. Titus war wohl oder übel der einzige, der in Tiefenfall aussteigt. Bis vor kurzem hatte er überhaupt nicht gewusst, dass es einen Ort dieses Namens gab. Doch dann hatte ihn sein Freund Gregor Kranz angerufen und gemeint, ob er über Weihnachten und Neujahr nicht zu ihm kommen wolle. „Der Ort liegt mitten in den Alpen, es gibt keine lästigen Touristen und ein Tapetenwechsel wird dir sicherlich gut tun.“ 14

Gregor hielt sich seit zwei Monaten in Tiefenfall auf. Er war Professor für Volkskunde und, wie er behauptete, auf die Spur eines seltsamen Brauchs gekommen, den es anscheinend nur in Tiefenfall gab. Um seine Forschungen ungestört betreiben zu können, hatte er sich das Wintersemester über frei genommen. Er hatte ein Haus gemietet. „So ziemlich alle Zimmer stehen dir zur Verfügung. Such dir das aus, wo du am besten schreiben kannst.“ Für einen Schriftsteller gab es nichts Schlimmeres als eine Schreibblockade. Brachte man keine Sätze mehr zusammen, begannen irgendwann unweigerlich die Depressionen. Darauf folgten der Alkohol und schließlich die Schrotflinte. Titus hatte die vorletzte Stufe bereits erreicht. Und alles nur, weil er sich abhängig von einer Muse gemacht hatte. Seitdem sie ihn grundlos verlassen hatte, hatte er kein Wort mehr auf Papier gebracht. Gregor hatte gemeint, die Berglandschaft hätte bereits viele Künstler und Dichter inspiriert. Vielleicht war es so. Titus kannte jedenfalls 15