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Kommissar Martin Pohl- mann, nach zweijähriger Auszeit und .... Hing schlaff, weit nach hinten über die Lehne gelehnt und sah an die Decke. An der Wand ...
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Jörg S. Gustmann

Rassenwahn

D i e L e b e n s b o r n k i n d e r Eine ungewöhnliche Mordserie erschüttert Hamburg. Fünf Menschen, die 70 Jahre zuvor in einem Lebensbornheim der SS zur Welt kamen, werden einer nach dem anderen ums Leben gebracht. Zwei Jahre zuvor waren sie Teilnehmer eines medienwirksamen Prozesses, in dem nicht nur der Kampf um Identität und Anerkennung im Vordergrund stand, sondern auch ein Erbe stattlichen Ausmaßes. Kommissar Martin Pohlmann, nach zweijähriger Auszeit und erfolgloser Burn-Out-Therapie zurück in Hamburg, nimmt die Ermittlungen in einer Anstalt für psychisch kranke Menschen auf. Die Spur führt zu zwei hochbetagten Nazis, die bereits seit 60 Jahren hätten tot sein müssen: verurteilt und hingerichtet als Kriegsverbrecher und Massenmörder. Kann Kommissar Pohlmann den Serienmörder stoppen und wird die Justiz am Ende für Gerechtigkeit sorgen?

Dr. Jörg S. Gustmann, geboren 1961 in Dortmund, lebt seit 1996 in Herdecke und arbeitet mit seiner Frau in einer eigenen Zahnarztpraxis in Dortmund. Seit 1998 verfasst Gustmann als Fachjournalist zahnmedizinische Artikel für nationale und internationale Verlage und schrieb drei Kinderbücher, einen Jugendroman sowie einen Mysterythriller und einen Reliquienthriller für Erwachsene. Gustmann war 2009 nominiert für den Sternengreifer Award, Bereich Kultur. »Rassenwahn« ist als Auftakt zu einer Serie sein erster Kriminalroman. www.JoergGustmann.com

Jörg S. Gustmann Rassenwahn

Original

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75/20 95-0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2012 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Herstellung: Julia Franze Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von Getty Images Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-8392-3985-8

Für meine Mutter (1931 – 1986) Ich erinnere mich daran, dass du immer einen guten Krimi auf dem Nachttisch liegen hattest. Danke für die Jahre, die du bei uns warst.

God gave me travelling shoes, God gave me the wanderer’s eye, God gave me a few gold coins to help me to the other side.Looked around and said: be careful how small things grow, God gave me travelling shoes and I knew that it was time to go. Sent in the ship at night to take me to the hidden port. Found me the key at last to open up the prison door. Brought down the blackbird’s wings, gifted me with beggar’s eyes. Sent in the jackals to tell me I should say bye, bye, bye. I’m home, home, Home, home, home And I’m home, home, Home, home, home But I’m miles and miles and miles and miles and miles away Where can I hide? God gave me one last chance, gave me one last reprieve. Jah gave me hunger, gave me the air to breathe. Gave me one suitcase, gave me one last goodbye Gave me travelling shoes, without them I would surely die, die, die. Home, home Home, home, home Miles and miles and miles and miles and miles away Where can I go? Where can I hide? Simple minds

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P r o lo g

Die Zeit des Wartens kam ihr so lang vor wie die Ewigkeit, in deren Schlund sie sich stürzen wollte. Sie hatte keine konkreten Vorstellungen von dem, was sie hinter dem Vorhang erwarten würde, und doch sehnte sie sich mit jeder Faser ihres Seins danach, dieses Leben zu verlassen. Ganz still lag sie da, atmete tief und ruhig. Die Turmuhr der nahegelegenen Kirche hatte wenige Minuten zuvor drei kräftige Schläge getan. Man konnte davon ausgehen, dass alle anderen im Haus mit Sicherheit schliefen. In dieser Nacht wollte Emilie Braun ihre seit einiger Zeit gehegten Gedanken erneut in die blutige Tat umsetzen. Noch einmal sterben, diesmal aber richtig. Behutsam, beinahe zärtlich, glitt die linke Hand zu dem Messer, das sie in der Ritze zwischen Bettkante und Matratze verbarg. Das Mondlicht schien friedlich durch die Gitterstäbe hindurch. Die Klinge, die sie hervorzog, blitzte kurz auf. Ein Käuzchen unweit ihres Fensters hielt Wache so wie sie, doch dieses würde den nächsten Morgen lebendig erleben. Vorsichtig führte sie ihren Zeigefinger an der Schneide entlang und schien zufrieden. Am Abend, als die Geräuschkulisse des Hauses es zuließ, hatte sie das Küchenmesser an einer Fliesenkante scharf geschliffen. Ehe sie nun die Decke von ihrem ausgemergelten Körper schob, dachte sie an das bevorstehende Ereignis, an das Gefühl, wenn das warme Blut die Adern verließ und am Unterarm entlangkroch. Sie kannte diese Empfindung: Es kitzelte bisweilen leicht, bevor eine wohltuende bleierne Schwere das Bewusstsein einhüllte. Mit diesen Gedanken erhob sie sich von ihrem Bett. Sie schob die knochigen Füße in blaue Hausschuhe aus Frottee, die eine grotesk verzerrte rosa Blüte auf der Oberseite trugen. Dann schlurfte sie in ihrem Zimmer zu einem Tisch, der ihr als Schreibtisch gedient hatte. 7

Mit einem leisen Klicken erwachten 60 Watt aus der Stehlampe zum Leben. Sie zog bedächtig die oberste Schublade des hellgrauen Tisches auf und betrachtete mit Stolz eine dicke, braune Kladde. Die Finger ihrer linken Hand umkrallten das Messer, als hätte sie Angst, man könne es ihr vor der Zeit wieder entreißen. Mit der rechten Hand schrieb sie einige Sätze auf einen glatt gestrichenen Papierbogen, den sie ebenfalls aus der Schublade hervorgezogen hatte. Ob die Zeilen wie ein Brief aussehen sollten oder eher wie ein Tagebucheintrag, war ihr vollkommen gleichgültig. Wichtig war nur, dass man sie fand, um denen, die sie lesen würden, eine Menge Probleme zu bescheren: Hans ist tot. Gestorben. Hat sich in den Kopf geschossen. Verflucht. Hing schlaff, weit nach hinten über die Lehne gelehnt und sah an die Decke. An der Wand neben ihm klebte Blut aus seinem Kopf, mit dem er gedacht, studiert und mit uns geredet hat. An der Seite des Gesichtes, dort, wo früher ein herzförmiger Leberfleck saß, war nun ein Loch, groß wie eine Walnuss. Warum hat er das bloß gemacht, mein Hans? Vielleicht haben sie ihn ja auch umgebracht, die Schatten aus der Vergangenheit. Haben ihn dazu getrieben, ihn nicht in Ruhe gelassen all die Jahre. Werd ihn gleich fragen, wenn ich ihn treffe, wo immer das sein wird. Vor einer Woche schon haben sie ihn abgeholt. Vorgestern war Beerdigung, doch keiner von uns war eingeladen, nicht mal ich. Würde ja auch niemand machen, Menschen wie uns einzuladen. Selbst wenn ich nicht viel rede – hab ich nie getan, deswegen bin ich ja hier –, hab ich jeden Tag in meinem Buch geschrieben. Hab immer viel gelesen und viel geschrieben. Hab alles ganz von Beginn an festgehalten. Hab auch aufgeschrieben, wen der Hans umgebracht hat. Sogar in Schönschrift, damit man, wenn 8

ich nicht mehr da bin, es gut lesen kann. Hab mir Mühe gegeben beim Schreiben, damit man mir glaubt, dass ich nicht verrückt bin. Jedenfalls nicht bekloppter als die meisten Leute da draußen. Die meisten von denen da draußen gehören hier rein, die wissen’s nur noch nicht. Emilie Nachdem die letzte Zeile vollendet war, legte sie das Blatt ordentlich auf den Tisch und gleich daneben die vollgeschriebene braune Kladde. Danach ging sie zu Bett und machte ihrem Leben ein Ende.

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Teil 1

Kapitel 1 Steinhöring, 18. August 1944 Gegen vier Uhr nachmittags näherte sich auf der Auffahrt ein eleganter schwarzer Wagen dem imposanten Heimgebäude. Man hörte den Motor von Ferne, niemand drehte sich nach ihm um. Es war ein brandneuer Opel Kapitän mit unfassbaren 55 PS. Bisher fehlte dem Eigentümer die Gelegenheit, die Höchstgeschwindigkeit von 126 Kilometern pro Stunde zu testen. In Zeiten wie diesen waren die Straßen in einem bedauerlichen Zustand, wo es dem Fahrer nicht annähernd vergönnt war, die Kräfte des Motors auf dem Tachometer bewundern zu können. Die Reifen kamen direkt neben dem Haus zum Stehen, ohne auf dem feinen Kies eine unschöne Bremsspur zu hinterlassen. Das herrschaftliche Anwesen, vor dem dieser Wagen bei schönstem Sommerwetter parkte, hatte einst einer wohlhabenden jüdischen Familie gehört, die ihres Besitzes, nach Ansicht der SS, für höhere Zwecke enteignet wurde. Die ehemaligen Bewohner mussten ihr Haus, das sich über Generationen im Besitz ihrer Familie befand, gegen eine andere Unterkunft eintauschen. Eine Behausung, die sie nun mit Dutzenden Insassen, nach Männern und Frauen getrennt, teilten. Sie lebten fortan in Baracken voller Ungeziefer, Hunderte Kilometer von ihrer Heimat entfernt, während sie auf den Tag ihrer Befreiung oder den ihres Todes warteten. Nun beherbergte diese exklusive Wohnstatt 29 Kinder und 15 Mütter sowie acht Pflegerinnen, drei Krankenschwestern, vier Hebammen, zwei Köche und einen im angrenzenden Gästehaus wohnenden Allgemeinmediziner, der um das Wohl aller dort Lebenden besorgt sein sollte. Ein Mann um die 27, von schlanker Statur, stieg auf der Beifahrerseite des Wagens aus, während der Fahrer ungerührt sitzen 11

blieb. Der Aussteigende gab kurze Anweisungen, der Chauffeur nickte daraufhin. Der Besucher ließ die schwere Tür des Opels ins Schloss fallen. Die dritte Fahrt mit dem neuen Automobil war zu seiner vollen Zufriedenheit verlaufen. Ein letzter entspannender Blick auf das Vehikel, bevor er hineinging, um sich einem unangenehmen Gespräch zu stellen. Auf einer der untersten Treppenstufen hielt er kurz inne. Er wollte Sekunden der Unbeschwertheit heraufbeschwören und blickte sich um. Er holte tief Luft. Ein Singvogel in der Nähe pfiff auf die Befehle des Führers und trällerte dem Krieg zum Trotz. Dem Klang nach muss es ein Buchfinkenmännchen sein, überlegte er. Der Besucher suchte den Vogel mit den Augen, wollte ihn zwischen den Blättern ausmachen, doch erst als dieser aufflog, bemerkte er das blau-graue Köpfchen und die auffällig weiß gebänderten Federn. Er nickte zufrieden. Welch beneidenswerte Umgebung dieses Anwesen beherbergt, dachte er. Welch ein Segen, in dieser Abgeschiedenheit, fern allen Kriegstreibens, Kinder zu gebären und zu wertvollen deutschen Menschen heranwachsen zu sehen. Nun wandte sich der Mann den Stufen zu, die vor ihm lagen. Er trug einen grauen, zweireihigen Anzug, den er zuknöpfte, sowie blankpolierte Schuhe mit feiner Ledersohle. Ein heller Hut mit einem schwarzen Band und weiter Krempe schützte seine undurchdringlichen Augen vor der Sonne. Bei all dieser paradiesischen Anmutung täuschte die Idylle über die Wahrheit dessen, was im Inneren dieser Mauern geschah, hinweg. Nur wenige Menschen wussten in allen Einzelheiten von der wahren Bestimmung solcher Gebärstätten; sie waren zwar nicht geheim, aber äußerst exklusiv. Eine adrette Krankenschwester kam dem Besucher entgegen, eilte die sieben Stufen des Haupthauses hinunter und grüßte ihn mit einem zackigen »Heil Hitler«. Sie trug eine weiße Schürze und eine weiße Haube auf dem Kopf. Die blonden Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengesteckt, sodass die feinen Konturen ihres blassen Gesichtes zur Geltung kamen. 12

Der Besucher erwiderte den Gruß pflichtgemäß und ließ sich von ihr zu den Schlafräumen der Mädchen geleiten. »Gut, dass Sie mich rechtzeitig benachrichtigt haben«, begann er steif, doch sein Ton nahm an Dringlichkeit zu. »Das Kind muss umgehend behandelt werden.« Der Besucher suchte den Blick der Schwester. »Was sagt Dr. Reuter zu diesem Problem?« Die junge Frau rieb sich verlegen die Hände. Sie schwitzte, doch nicht allein wegen der Sommerwärme. »Nun«, antwortete sie, »er ist ratlos. Er erwähnte, einen Spezialisten hinzuzuziehen, möglicherweise einen … Nervenarzt.« Der Besucher riss erneut den Kopf herum und sah die Schwester mit aufgerissenen Augen an. Seine Lippen presste er zu einem engen Schlitz zusammen, während er auf dem Absatz der Treppe stehen blieb. Solche Worte in seinen Ohren schienen ihm einen beinah körperlich spürbaren Schmerz zuzufügen. Die Schwester lenkte ein. Sie hatte Angst. Angst vor diesem Mann, vor dessen Vorgesetzten, der rechten Hand des Führers und vor Bestrafungen jeder Art. »Bitte, glauben Sie mir, wir haben uns alle erdenkliche Mühe mit diesem Kind gegeben, aber es ist anders als die anderen. Es reagiert nicht auf das, was wir ihm sagen. Es helfen keine Schläge, kein Schlafentzug, keine dunkle Einzelkammer, nichts. Das Mädchen will einfach nicht gehorchen und nicht sprechen, obwohl es schon vier ist.« Der Besucher rang nach Worten. Trotz seiner herausragenden Position, seiner erstklassigen Schulbildung und seines weltmännischen Auftretens erfasste ihn eine gewisse Hilflosigkeit – eine Sprachlosigkeit, die er als Kommandant nicht gewohnt war. In den Dingen, mit denen er nun konfrontiert wurde, fühlte er sich unsicher, und dieser Umstand ärgerte ihn. Noch mehr zu schaffen machte ihm der Inhalt jenes Disputes. Überlaut, ohne sich nach möglichen Zuhörern umzudrehen, fuhr er die Schwester an: »Dieser Zustand muss sich ändern. Es kann nicht sein, dass ausgerechnet hier solche Kinder zur Welt kommen. Sie wissen, was ich meine. Die Zukunft des deutschen Volkes hängt davon 13

ab, dass wir einwandfreies Erbgut weitergeben. Wenn dieses Kind nicht kooperiert, werden wir andere Maßnahmen ergreifen müssen, obwohl es mir leidtäte.« Die Unterlippe des Besuchers zitterte kaum merklich. Beide wandten sich nach rechts um und gingen in einen der Flure im ersten Stockwerk. Es roch nach frischer Farbe, und der Duft des einige Stunden zurückliegenden Mittagessens wehte in feinen, unsichtbaren Schwaden in Höhe seiner Nase. Nach weiteren 20 Schritten, die die Schwester eilig vor dem Hauptmann zurücklegte, blieben sie vor einer Tür stehen, die zu einem der Schlafräume führte. Sie trat beiseite. Der Offizier straffte seinen Rücken. Er kannte diesen Raum von einem Besuch, der eine Weile zurücklag. Er drückte die Klinke herunter, atmete bewusst ein und öffnete die schwere Tür. Ein Zimmer mit 30 Kinderbetten tat sich vor ihm auf. Dann, mit scheinbarem Widerwillen, sah er zu einem braunhaarigen Mädchen, das im dritten Bett an der linken Seite, direkt vor der Fensterfront, lag. Er erkannte sie wieder. Sie verharrte, steif wie ein Stock, auf ihrem Lager, hübsch anzusehen zwar, obgleich sie nicht blond war, wie es bei zwei blonden Elternteilen zu erwarten gewesen wäre. Sie trug ein weißes Kleidchen mit einer rosa Schleife am Hals. Ihre Füße steckten ebenfalls in weißen Söckchen, und die feinen Schuhe – alles zur Feier des Tages – standen nebeneinander vor dem Bett. Ihre Reaktion bestand nicht darin, von ihrem Bett aufzuspringen, um den Besucher zu begrüßen, ihn zu umarmen, sich zu freuen oder ein Hallo zu winken, sondern lediglich darin, in regelmäßigen Abständen mit den Lidern zu zwinkern. In den Zeiten dazwischen starrte sie an die weißgetünchte, mit Stuck verzierte Zimmerdecke, an der sich ein Ventilator befand. Man hätte denken können, sie sei wie in einem Spiel damit beschäftigt, die Runden der sich drehenden Blätter mit den Augen zu verfolgen. Nicht mit einem winzigen Zucken sah sie zu dem elegant gekleideten Mann auf. Nachdem der Besucher das Kind eine Weile beobachtet hatte, 14