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Mit zag- hafter Freude bemerkte er die vielen Pferde und traf verwundert auf eine Gruppe altertümlich gekleideter. Leute, die ein Feuer umringten und monotone ...
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Susanne Kronenberg

Susanne Kronenberg

Der dritte Hella-Reincke-Krimi

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© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75/20 95-0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2006 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von pixelquelle.de und Autorin Gesetzt aus der 10,4/13,6 Punkt GV Garamond Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda Printed in Germany ISBN 13: 978-3-89977-695-9 ISBN 10: 3-89977-695-X

Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Prolog Der Süntel im Jahr 782 Das Schweigen hallte in seinem Kopf wider wie zuvor der Klang der Hörner. Ihm war, als hätten sich alle Tiere des Waldes, die Vögel und Insekten und sogar der Wind davon gestohlen und diese tiefe Stille hinterlassen. Er kniete erschöpft am Boden und kämpfte gegen das Verlangen an, der Länge nach auf den Felsen zu sinken. All die erschlagenen Sachsen kamen ihm in den Sinn. Die Männer, die ihren fränkischen Feinden nicht entkommen konnten. Die unglückseligen Verwundeten, deren Sterben eben begonnen hatte. Zugleich fragte er sich staunend, was das Schicksal mit ihm vorhaben mochte. Er war unverletzt. Ein Geräusch ließ ihn hochschrecken: ein entferntes Rascheln zwischen den Bäumen. Er richtete sich auf und suchte nach Schatten hinter den Eichen, die die Lichtung umgaben. Sollten die Feinde nur kommen. Er war ungeübt im Kampf, doch trotzdem bereit, für diesen heiligen Ort zu kämpfen und sich die Felswand hinab zu stürzen, bevor er den Feinden in die Hände fiel. Doch es waren keine Franken, diese Männer, die sich nun in eine kleine Gruppe zusammen schlossen und ihm entgegen schritten: an der Spitze der oberste Priester und zugleich engster Vertrauter des Heerführers. Sein Gehilfe führte einen Schimmel am Zügel. Die Männer hielten die Blicke gesenkt. Nur die Wachen, die den Trupp begleiteten, spähten in das Unterholz ringsum und horchten angespannt. Sie hatten ihn bemerkt, und er trat den Männern entgegen. Der Schimmel prustete und rieb seine Nüs6

tern sanft an der Schulter des Jungen, der die Zügel hielt. Sein Fell schimmerte so rein wie Neuschnee. Nicht der geringste Fleck trübte seine Schönheit. Der Priester berichtete vom Sieg über die Feinde. Die Genugtuung überspielte seine Erschöpfung. »Deine Vorhersage war falsch. Haben die Götter dich in die Irre geführt? Oder hast du uns belogen?« »Die Götter täuschen mich nicht«, entgegnete der Schamane. »Genauso wenig, wie ich euch belüge. Warum sollte ich das tun?« »Um den Männern den Mut zu rauben«, antwortete der Priester, »und damit den Franken und ihrem Christengott in die Hände zu spielen.« Der Schamane blickte zu dem heiligen Felsen hinüber. Er wusste seit langem, dass der Priester nur nach einer Gelegenheit suchte, ihn aus dem Weg zu schaffen. Konnte es eine bessere Rechtfertigung dafür geben als einen Verrat? Er wandte sich wieder dem Priester zu und sagte, jedes Wort abwägend, mit fester Stimme: »Die Götter haben mir eine Vision geschickt. Darin habe ich sie gesehen: die Heerscharen fränkischer Soldaten, die das Kreuz in unser Land bringen. Ich gebe nur weiter, was die Götter mir zugetragen haben. Willst du an ihrer Wahrheit zweifeln?« »Die Zweifel sind auf deiner Seite«, entgegnete der Priester zornig. »Du glaubst nicht an den Sieg der Sachsen.« Der Schamane hielt dem Blick seines Widersachers stand. »Diese eine Schlacht mögen wir gewonnen haben. Trotzdem wird der Kampf vergebens sein. In den Schlachten, die auf diese folgen, werden die Franken siegen. Überall im Land werden sie ihre Kreuze 7

errichten und ihrem Gott huldigen. Die Freiheit der Sachsen ist verloren. Du willst den Göttern zum Dank für den Sieg jetzt und hier diesen Schimmel opfern? Das Schicksal wirst du damit nicht wenden können. Eines Tages wird selbst unser Heerführer den Franken und ihrem Christengott Gefolgschaft schwören.« Die Männer erstarrten. Nur einer riss sein kurzes Schwert hoch. »Wie kannst du es wagen, ihn zu beleidigen!« Der Priester hielt den zornigen Mann mit einem Wink zurück. »Töte ihn nicht mit dem Schwert. Dadurch sollten nur Krieger sterben. Keine Verräter.« Er zischte einen Befehl, und der Schamane wurde von zwei Männern an den Armen gepackt. Der Priester zog die Axt aus seinem Gürtel. Der Gefangene heftete seinen Blick auf den Schimmel. In dessen schwarzen Augen las er die Gelassenheit und Zuversicht eines den Göttern geweihten Wesens. Er würde nicht allein in den Tod gehen.

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1 Als der Hof in Sicht kam, fiel der Schimmel aus dem Galopp in den Schritt. Er streckte den Hals aus und schüttelte sich die Fliegen aus dem Gesicht. Der Hengst trug nur ein leichtes Halfter und einen hineingeknüpften Strick, der dem Mann auf seinem Rücken als Zügel diente, und statt eines Sattels ein lose aufgelegtes Schaffell. Sein Reiter schloss die Augen und ließ sich blind am Parkplatz vorbei und durch das Hoftor tragen. Wenn er sich eins mit dem Pferd fühlte, vergaß er alle Bedenken. Es war richtig, was er tun wollte, und er durfte sich in seinem Weg nicht beirren lassen. Weder von Valerie noch von Toralf. Vor allem nicht von Toralf. Er sah ihn, als er die Augen aufschlug. Im Schatten der hohen Kastanien stand dieser mitten auf dem Hof, als hätte er nach ihm Ausschau gehalten: eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt in einem blauen Arbeitskittel. In jeder Hand hielt er einen Eimer. Toralf ließ es sich nicht nehmen, die Hunde in den Zwingern zu füttern, wann immer es seine Zeit erlaubte. Der Reiter glitt vom Pferd und legte den Arm über den Pferderücken, während er Toralf herankommen ließ. Toralfs hohe Stirn im schmalen Gesicht war, wie so oft, wenn sie unter sich waren, in skeptische Falten gelegt. Das gewinnende Lächeln, das ihm die Sympathien aller zutrug, verschwendete Toralf nicht an die engsten Vertrauten. 9

»Rudmar, du musst Valerie zur Vernunft bringen«, zischte er halblaut, obwohl niemand sonst in der Nähe war. Die Frauen und Schülerinnen, die sich um die Pferde kümmerten, waren nach Hause gegangen. Um diese frühe Abendstunde war es auf dem Hof ruhig geworden. Die Pferde auf den Weiden standen dösend beieinander. Aus den Zwingern drang kein Laut herüber. Selbst die Katzen ließen sich nicht blicken. Eine schwüle Gewitterluft drückte auf das Tal. Toralf stellte sich dem Schimmel in den Weg. Der Hengst blähte die Nüstern und wich zurück, als scheute er vor dem rohen Fleisch und den zersägten Knochen in den Eimern. Doch es konnte auch Toralfs offensichtlicher Zorn sein, der ihn ängstigte. »Sorge dafür, dass sie die Schreiberei sein lässt!«, fauchte Toralf. »In dem Umfang war das nicht abgesprochen.« Gemächlich ließ Rudmar seine Hand über Monsuns Hals wandern. »Beruhige dich! Bisher recherchiert sie die Hintergründe. Zum richtigen Schreiben ist sie noch gar nicht gekommen.« Toralf musterte Rudmar mit finsterer Miene. Die Falten auf seiner Stirn vertiefen sich. »Reicht dir das nicht? Sie will das Material einem Experten vorlegen, einem Spezialisten für Schamanismus.« Rudmar wandte sich dem Schimmel zu; der Andere sollte seine Überraschung nicht bemerken. Von einem solchen Experten hatte er nichts gewusst. Außerdem reizte ihn, wie so oft in letzter Zeit, Toralfs herrisches Auftreten. Noch waren sie Freunde. Was hatte er ihm nicht alles zu verdanken. Toralf hatte ihn aufgefangen, als ihm der Boden unter den Füßen entglitten war. 10

»Wovor hast du Angst?«, fragte Rudmar freundlich. »Befürchtest du, Valerie will mich als Schwindler entlarven? Glaubst du nicht mehr an mich?« Toralf stellte abrupt die Eimer ab. Monsun blähte die Nüstern. Rudmar vermied den Blick auf den Inhalt der Eimer. Das Pferdefleisch kam geradewegs aus der gut gefüllten Kühltruhe im Keller. Toralf bückte sich nach einer Rippe, die beim Abstellen heraus gerutscht war, und warf sie in den Eimer zurück. »Es geht hier nicht nur um dich und deinen Ruf als Pferdeheiler, Rudmar«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. »Mag sein, dass du dich neuerdings berufen fühlst, die Tätigkeiten der Gemeinschaft in die Welt hinaus zu posaunen. Und Valerie soll dir dabei behilflich sein. Aber ich lasse nicht zu, dass die Gemeinschaft verraten wird.« Die Glaubensgemeinschaft war Toralfs Lebenswerk. Darauf ließ er nichts kommen. Die Gemeinschaft stand über jeder Freundschaft. Rudmar behielt sein sanftes Lächeln bei. »Es stimmt, du und Valerie, ihr seid oft nicht einer Meinung. Aber in einem Punkt steht sie fest auf deiner Seite. Nicht auf meiner.« Toralf schnaubte zornig. »Was deinen irrsinnigen Plan angeht, würde jeder Mensch mit einem Hauch von Verstand zu mir halten. Du stehst damit einsam und allein, du Wahnsinniger.« Nicht Wahnsinn, sondern Wahrheit, dachte Rudmar. Aber Toralf war noch nicht so weit, das zu akzeptieren. Ebenso wenig wie Valerie. Toralf stemmte die Arme in die Seiten. »Habe ich 11

dein Wort, dass du nichts gegen meinen Willen unternimmst?« Rudmar versprach, dass beim nächsten Vollmond nichts außer der Reihe zu erwarten wäre. Versöhnlich und zuversichtlicher, als ihm zumute war, sagte er: »Mach dir keine Gedanken wegen Valerie. Ich kläre das.« Valerie verhielt sich zunehmend unberechenbarer, und das gab auch ihm zu denken. Toralf sollte seine Zweifel nicht spüren. »Du weißt, was auf dem Spiel steht«, knurrte Toralf und nahm die Eimer auf. Die Zwinger lagen hinter der Scheune: lange Reihen von Käfigen, in denen die von den Behörden beschlagnahmten Bullterrier, Staffordshire Terrier, Dobermänner und allerlei Kreuzungen bis an ihr Lebensende ausharren mussten. Einige waren friedlicher gestimmt und ließen sich von Toralf anfassen und an die Leine nehmen, doch die meisten gebärdeten sich wie rasend, wenn man sich den Zwingern näherte. Toralf war kaum hinter der Scheune verschwunden, als sich ein ohrenbetäubendes Kläffen und Heulen erhob, doch es gab in Hörweite keine Nachbarn, die sich daran gestört hätten. Rudmar blieb noch einen Augenblick stehen und schaute auf die Felswand des Hohensteins, der sich in der Ferne aus dem bewaldeten Hang des Süntels erhob. Turmartige Gewitterwolken bauschten sich darüber auf. Jedes Mal, wenn er den Felsen betrachtete, dachte er an seinen ersten Tag auf dem Pferdeschutzhof. Mit allen Gefühlen zwischen Angst und Hoffnung hatte er im Morgengrauen das Hotel in Hameln verlassen und 12

war an der Weser entlang gefahren, bis er ihn wahrhaftig erblickte: den Felsen aus seinen verstörenden Visionen. Einen Tag hatte er dort oben verbracht, war abends durch Felder und Wiesen geirrt und irgendwann erschöpft auf den Schutzhof gestoßen. Mit zaghafter Freude bemerkte er die vielen Pferde und traf verwundert auf eine Gruppe altertümlich gekleideter Leute, die ein Feuer umringten und monotone Sprüche raunten. Ein Mann in einem hellen bodenlangen Gewand warf einen Büschel weißer Pferdehaare in die Flammen. Das Ritual des Mannes war stümperhaft, aber Rudmar wollte nicht kleinlich sein. Er trat an die Leute heran, fühlte sich in ihren Kreis aufgenommen und verlor sich in der Erleichterung, angekommen zu sein. Seit dieser Zeit war Toralf ein guter Priester geworden, mit überzeugenden Gesten für das einfache Glaubensvolk und kraftvollen Ritualen für die Eingeweihten. Die meisten Brüder und Schwestern, die sich in aller Naivität den Wahren Erben Widukinds angeschlossen hatten, wären hoffnungslos überfordert, hätte man sie mit den wahren Zeremonien konfrontiert. Nur eine Hand voll Menschen, sorgfältig ausgewählt und geprüft, bildeten den engsten Kreis der Gläubigen. Valerie war eine von ihnen. Er führte Monsun in den Paddock und hängte das Halfter über einen Zaunpfosten. Das Schaffell rollte er mit den weißen Zotteln nach innen auf und trug es unter dem Arm zum Haus hinüber. Das zweistöckige Fachwerkhaus war genauso heruntergekommen wie der gesamte Pferdeschutzhof: eine dürftige Zuflucht für Verfolgte und Gestrandete, für Pferde, Hunde, Katzen und den ein oder anderen Menschen; 13

er nahm sich selbst davon nicht aus. Die Pferde standen in düsteren und stickigen Boxen. Das Dach der Scheune war von Löchern durchstoßen. Toralf, der selbst in einem schmucken Haus am Klüt wohnte, suchte seit Monaten nach einem neuen Domizil für den Tierschutzverein und steckte keinen Cent mehr in die Anlage. Der ersehnte Umzug war ein Dauerthema für die Leute vom Schutzhof. Keines der einfachen Mitglieder konnte wissen, dass es Toralf kaum um den Tierschutzverein selbst ging. Mit den Tierfreunden hätte gleichzeitig die Glaubensgemeinschaft eine neue Heimat gefunden. Toralf stand beiden Gruppen vor und wusste dieses zum Vorteil der Brüder und Schwestern bestens zu nutzen. Ein abtrünniger Glaubensbruder hatte einmal behauptet, der Pferdeschutzverein wäre der Wirt und die darin hausende Organisation der blutsaugende Schmarotzer. Kein schmeichelhaftes, aber durchaus zutreffendes Bild, wie Rudmar zugeben musste. Sorgfältig putzte er die Stiefel ab, bevor er den Flur betrat. Der unübersehbaren Baufälligkeit zum Trotz verlangte Toralf Ordnung im Erdgeschoss. Hier befanden sich der Seminarraum, zwei einfache Gästezimmer und das Büro des Schutzhofes. Den meisten Leuten, die zu Rudmars Seminaren auf den Hof kamen, waren die Gästezimmer zu primitiv, und sie übernachteten lieber in einer Pension. Deshalb hatte Toralf das größere Zimmer vor kurzem an einen Jungen aus Frankfurt vermietet. Björn war nicht im Haus, jedenfalls hing seine Lederjacke nicht an der Garderobe. Vielleicht hatte er endlich eine Arbeit gefunden. Als einfacher Glaubensbruder gehörte er zu den 14