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Der Stromausfall war ein herber Rückschlag, aber Jen machte sich mehr Sorgen um das, was draußen an der Kreu- zung geschah. Dennoch wagte sie nicht, ...
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Hansjörg Anderegg

Shutdown Wir schalten euch ab Thriller © 2012 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2012 Umschlaggestaltung: Hansjörg Anderegg Fotos: ©dreamstime.com/hjanderegg Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0423-8

AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt .

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Kapitel 1

San Leandro, Kalifornien Die Landescheinwerfer über dem Flughafen von Oakland zündeten Jen einen Augenblick direkt ins Gesicht, dann gingen in der Stadt die Lichter aus. Auf einen Schlag, als hätte jemand den ganz großen Schalter umgelegt. Nur die Lichterketten der Autos schlängelten sich auf unsichtbaren Pfaden durch die schwarze Nacht. Noch einmal strich der Kegel der Scheinwerfer über die Bildschirme, Platinen, Server Racks, ausgeweideten Computergehäuse und Telefone, die zerknüllten Cola-Büchsen, Müsliriegel und das Kabelgewirr in der alten Fabrik. Das Flugzeug raste genau auf sie zu. Die Triebwerke der durchstartenden Maschine ließen Fenster und Wände erzittern, dass Jen unwillkürlich den Kopf einzog. »Fuck!«, fluchte Jezzus hinter seiner Mauer aus Monitoren. Antonio Juarez, wie Jezzus mit bürgerlichem Namen hieß, sprang behände, wie sie es seiner 3

plumpen Gestalt nie zugetraut hätte, zu ihr ans Fenster, riss den Filzhut vom kahlen Schädel, was sonst nie geschah, und wiederholte seinen Fluch mit dem Zusatz: »Madonna!« Jen blieb keine Zeit, sich über den alten Freund zu wundern. Dumpf drang der Klagelaut einer Lkw-Hupe durch die dünne Scheibe. Reifen quietschten in der Finsternis zu ihren Füssen. Sie starrte wie gebannt auf die Stelle, wo sich ihre Straße mit dem Doolittle Drive kreuzte, sah den Blitz Sekundenbruchteile bevor der Knall des Aufpralls wie ein Gewehrschuss an ihr Ohr peitschte. Metall fraß sich in Metall. Das letzte Licht eines sterbenden Scheinwerfers spiegelte sich in einer öligen Lache. Funken sprangen über. Im nächsten Augenblick brannte die Flüssigkeit lichterloh. Die Kabine des Lkw, verkeilt im zerbeulten Tank des Tanklastwagens, leuchtete auf. Jen schlug die Hände vor die Augen. Ihr ganzer Körper begann zu zittern. Sie sank in die Knie, kauerte sich am Boden zusammen wie ein Igel, der sich tot stellt, gerade noch rechtzeitig, bevor die Explosion den stählernen Tank in tausend Stücke riss. Die alte Fabrikhalle rüttelte und 4

ächzte, irgendwo splitterte Glas, als hätte das gefürchtete große Beben begonnen. Jen hielt die Augen geschlossen, bemerkte nichts vom flackernden, blutroten Lichtschein, den die Flammen ins Haus warfen, während sie gnadenlos Fahrzeuge und hilflos eingeklemmte Menschen fraßen. In ihrem Kopf wüteten andere Flammen, die sie nur mit äußerster Konzentration wieder eindämmen konnte. Die Anstrengung kostete ihre ganze Kraft. Kalter Schweiß brach aus allen Poren. Zu schwach, auch nur einen Laut von sich zu geben, blieb sie zitternd sitzen und wagte kaum zu atmen, aus Angst, sie könnte das Feuer weiter anfachen. »Jen?« Die Stimme ihres alten Freundes drang gedämpft an ihr Ohr, als schlummerte sie in einem schützenden Kokon. Sie wusste nicht, wie lang das Löschen ihres inneren Feuers gedauert hatte. Zaghaft schlug sie die Augen auf. Das kühle Licht der Leuchtstoffröhren brannte wieder. Die Gebläse der Computer rauschten wie gewöhnlich. Die Finsternis war dem Alltag gewichen, als hätte der Blackout nur in ihrem Kopf stattgefun5

den. Sie zitterte nicht mehr, richtete sich auf und blickte in die besorgten Gesichter ihrer Freunde: Jezzus, dessen schmieriger Hut wieder auf seinem alten Platz saß, Emma Bentson, das norwegische Mathematikgenie mit Nasenring, rabenschwarzen Augenringen und ebensolchen Secondhandklamotten, die stets penetrant nach Kampfer rochen und Mike Davenport, der riesige Engländer, der sich ›Proxy‹ nannte, weil er am meisten davon verstand. »Alles O. K. mit dir?«, fragte Jezzus besorgt. Sie stand auf, schüttelte sich wie ein Pudel nach dem Regen. »Was war das?«, murmelte sie benommen, statt zu antworten. »Das möchten wir auch verdammt gern wissen«, brummte Mike. »Wir haben alle Verbindungen verloren, müssen den ganzen Scheiß neu tracen.« Emma lachte verächtlich. »Was hast du erwartet nach einem solchen Blackout? Wie es aussieht, sind unsere Server nicht die Einzigen, die booten.« Der Verlust des Kontakts zum Netzwerk der vermuteten Hacker war ärgerlich und konnte ihre kleine Truppe Tage kosten. Die Gegner wa6

ren vorsichtig und keine Anfänger. Sie versteckten sich hinter stets wechselnden Rechnern, die sie nur als Relaisstationen benutzten, Proxies, über die man den Weg zu den Systemen der Hacker nur mit viel Geduld fand. Mikes Spionageprogramm hatte eine Woche gebraucht, um den richtigen Zeitpunkt zu erwischen und sich einen Port zu schnappen, ein Loch in der Firewall, das nur wenige Minuten offen war. Der Stromausfall war ein herber Rückschlag, aber Jen machte sich mehr Sorgen um das, was draußen an der Kreuzung geschah. Dennoch wagte sie nicht, hinauszublicken. »Wie sieht's draußen aus?«, fragte sie Jezzus leise. Der füllige Mann zuckte die Achseln. »Schlachtfeld«, meinte er, die Stirn runzelnd. »Schaust besser nicht hin. Hat eine Ewigkeit gedauert, bis Feuerwehr und Ambulanz eingetroffen sind.« Plötzlich fiel Jen ein, dass die Fünfte in ihrer Truppe fehlte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Wo ist Linda?« Den andern schien Lindas Abwesenheit erst jetzt aufzufallen. 7

Mike sah sie mit großen Augen an. »Verdammt, sie ging hinaus auf eine Zigarette, kurz bevor es ...« Mit großen Sätzen hetzte er zum Ausgang. Linda Liu, oder ›Troll‹, wie sie sich in ihren Kreisen nannte, weil sie während des Studiums in der Buchhaltung einer Bank gejobbt hatte, war sozusagen die Nabelschnur ihrer Truppe. ›Grey Hat‹ Hacker wie sie alle, hatte sie sich auf Computernetzwerke spezialisiert. Sie kannte sich mit den Netzwerkkomponenten auf Computerplatinen und in Telefonen genauso gut aus wie in der Steuersoftware, die für die Verbindung zu jedem offenen oder vermeintlich geschlossenen Netz sorgte. Ohne Troll hätte Jen ihre Spionagesoftware höchstens zum eigenen Ergötzen im lokalen Netz ihrer Kommune einsetzen können. Ein wenig schämte sie sich, dass ihr erster Gedanke an Linda sie mit einer Nabelschnur assoziierte. Sie spürte, wie sie errötete, wandte sich ab und ging zu ihrem Pult, um sich den Schaden anzusehen, den der Blackout angerichtet hatte. Der Computer forderte sie freundlich auf, Benutzername und Passwort einzugeben. Mit einer leisen 8

Verwünschung loggte sie sich ein. Sie verwendete dieses Notebook der vorletzten Generation nur, um unabhängig vom Stromnetz arbeiten zu können, aber der alte Akku war offenbar endgültig gestorben. Sie hatte es gewusst, hätte längst einen Neuen besorgen müssen. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als zu versuchen, die heiklen Änderungen an ihrem Code seit der letzten Datensicherung aus dem Gedächtnis nachzuvollziehen. »Dauert wohl etwas länger, als ich dachte«, knurrte sie. Jezzus sah von seiner Arbeit am Spezialdrucker auf. »Was soll das heißen?«, fragte er gereizt. »Dir ist schon klar, dass uns die Zeit davonläuft.« »Gut, dass du mich daran erinnerst.« Es blieben ihnen noch genau fünfzig Stunden und dreiundzwanzig Minuten, um den Auftrag zu erfüllen, der sie wieder ein paar Monate über Wasser halten würde. Die Uhr mit dem unübersehbaren Countdown–Zähler hatte den Stromausfall unbeschadet überstanden. Jezzus fixierte sie weiter mit seinen undurchdringlichen Knopfaugen. 9

»Keine Sorge«, beruhigte sie. »Ich schaffe meinen Teil schon. Der Trap war testbereit vor dem Stromausfall. Jetzt brauche ich eben nochmals zwei Stunden. Konnte ja niemand mit so etwas rechnen.« »Du bist gut!«, rief Mike lachend, der mit Linda im Arm zurückkehrte. »Genau um solche Blackouts zu verhindern geht es doch bei diesem Auftrag.« »Du meinst, das war ein Hack?«, fragte Emma, die noch immer am Fenster stand, gefesselt von Tod und Verwüstung, die in zwanzig stromlosen Minuten über die langweilige Gegend hereingebrochen waren. Linda löste sich von Mike. Seine zur Schau getragene Fürsorge war ihr peinlich. Wie üblich verfolgte sie die neusten Nachrichten auf ihrem Handy. »Ich glaube, davon können wir ausgehen«, antwortete sie nüchtern. »Wieso?« »Das war kein gewöhnlicher, lokaler Stromausfall, wenn man den News glauben kann. Ihr habt’s ja gesehen. Die ganze Umgebung wurde auf einen Schlag dunkel. Geschäftshäuser, 10

Wohnhäuser, Verkehrssignale, der Flughafen, die hängen nicht alle am selben Stromkreis oder Transformator, und doch fiel alles gleichzeitig aus. Nicht nur hier und in Oakland, sondern in der ganzen Bay Area bis hinunter nach San Jose und hinauf ins Napa Valley. Da hat jemand gezielt die Hauptpfade ausgeschaltet.« »Das ist nur mit Software möglich«, gab Emma zu. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass das Netz nach kurzer Zeit wieder da war.« Jezzus verzog das Gesicht zu einer Miene, als kaute er auf einer seiner geliebten, höllisch scharfen Habanero–Schoten, und sonderte eine weitere rhetorische Frage ab: »Ihr wisst schon, von welchem Netz wir hier reden?« Achtzig Prozent der Stromleitungen des nördlichen Kalifornien lagen in der Verantwortung einer einzigen Organisation. ›CGO‹, ›California Grid Operator‹ mit Hauptsitz in Sacramento. Von dieser Organisation stammte der Job, der sie seit bald zwei Monaten Tag und Nacht beschäftigte. Kein gewöhnlicher Auftrag, von Firma zu Firma, mit Ausschreibung, Offerte Powerpoint– Präsentation und Projektplan. Es war ein Under11

covereinsatz, den sie unter totaler Geheimhaltung direkt für den Geschäftsführer, den COO des größten kalifornischen Netzbetreibers durchführten. Ihre kleine Truppe, die sich um Jezzus versammelt hatte, war keine Firma. Sie existierten gar nicht. Sie operierten in vollkommener Anonymität, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie waren die guten Hacker, die mit Geduld und technischer Raffinesse in Computersysteme der Konzerne und Verwaltungen eindrangen, nur um die Schwachstellen und Löcher in den scheinbar sicheren Netzen zu entlarven. Manche Firmen ließen sich diese verdeckten Ermittlungen einiges kosten. Abgerechnet wurde über anonyme Schecks und häufig wechselnde Anschriften. Zugegeben, das war streng genommen illegal, aber hin und wieder musste man Grenzen überschreiten, um ans Ziel zu kommen. Es geschah zu einem guten Zweck. Das galt auch für die Badges, Kreditkarten und Ausweise, die Jezzus so meisterhaft fälschte. Er schien jedes Material zu kennen und zu beherrschen, ein Magier in Jens Augen, der Blei in Gold und Wasser in Wein verwandeln könnte, wenn er nur wollte. Viel12

leicht hörte sich sein Pseudonym deshalb wie der Name des Mannes an, der Letzteres vor zweitausend Jahren auch erfolgreich praktiziert haben soll. Sie waren definitiv die Guten. Nicht immer ›White Hats‹, manchmal ›Grey Hats‹ in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität, aber nie ›Black Hats‹, die nur zerstören und kassieren wollten. Jen hatte stets ein gutes Gefühl bei ihrer Arbeit. Das war das Wichtigste neben der Tatsache, dass ihr die anspruchsvollen Jobs im Dunkeln Spaß machten. Jezzus hatte seine Habanero noch nicht verdaut. »Wir müssen uns unterhalten, Leute«, sagte er säuerlich. Die Truppe rückte näher an seinen Schreibtisch, der genauso in einem Labor für Materialwissenschaft hätte stehen können. Jen schob die Krümel seines letzten Snacks beiseite und setzte sich neben den Fernseher, der 24 Stunden, sieben Tage die Woche stumme Nachrichten zeigte. »Also nehmen wir an, das Grid von ›CGO‹ wurde gehackt«, begann er. »Wie sind sie eingedrungen, welche Komponenten der Steuersoftware sind betroffen und wie wussten die Kerle 13

überhaupt, wo sie ansetzen mussten? Die Pläne des ›CGO‹-Netzes sind ja nicht gerade frei zugänglich.« »Stimmt, und die online Doc ist veraltet, wie wir festgestellt haben«, ergänzte Emma. Sie hatte die verschlüsselten Dateien aus den vertraulichen Ordnern der ›CGO‹ Server in Klartext umgewandelt und enttäuscht zur Kenntnis genommen, dass sie sich die Arbeit hätte sparen können. Statt des aktuellen Standes beschrieben die Dokumente nur, was ursprünglich geplant war. Das jüngste File war ein Jahr alt. Nutzen gleich null. Es hätte auch aus der Zeit der Gründerväter stammen können. »Insider?«, fragte Jen, obwohl sie nicht daran glaubte. Mike schüttelte den Kopf und sprach aus, was sie dachte. »Ergibt für mich keinen Sinn. Warum sollte einer am Ast sägen, auf dem er sitzt?« »Vielleicht einer, der gefeuert wurde«, schlug Linda vor. Mike widersprach. »Ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber für mich ist diese perfekt inszenierte Aktion eine Nummer zu groß für einen frustrier14

ten Rächer. Falls es ein Cyberangriff war, steckt eher eine Gruppe hoch spezialisierter Hacker dahinter ...« »Eine Truppe wie unsere meinst du?«, unterbrach Jen grinsend. Jezzus nickte mit ernster Miene. »Genau das fürchte ich. Und jetzt hat nicht nur unser Kunde ein ernsthaftes Problem, versteht ihr, Klugscheißer? Wir dringen ins Kontrollsystem der ›CGO‹ ein und zufällig bricht die ganze verdammte Stromversorgung zusammen, die genau dieses System steuert. Wie sieht das denn aus?« »Warum konnten die Ärsche nicht noch fünfzig Stunden warten?«, scherzte Jen, um die Spannung zu lockern. Niemand lachte. Sie saßen wahrhaft in der Tinte, wenn sie nicht schnell Ergebnisse produzierten, die sie entlasteten. Immer vorausgesetzt, hinter dem Blackout steckte tatsächlich ein Cyberangriff und keine zufällige Häufung von Netzproblemen. Aber daran zweifelte inzwischen keiner mehr, war Jen überzeugt. Sie setzte zu einer konstruktiven Bemerkung an, wurde aber von einer schneidenden Stimme unterbrochen. Alle 15