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Für meine Kinder und Enkelkinder .... enttäuscht und traurig, als wir in dieses Dorf hinein fuhren: Wir sahen ungepflegte Häuser, viel Unkraut und nur weni-.
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Christa Enchelmaier

Unterwegs geboren Eine heimatlose Kindheit Autobiografische Erzählung

Für meine Kinder und Enkelkinder

Inhalt 2000: REISE IN DEN UNBEKANNTEN OSTEN .................... 5 PROLOG ........................................................................... 8 UNTERWEGS GEBOREN ... .............................................. 19 GNADENTAL – LEB WOHL ... ......................................... 42 ZWISCHENLAGER PRACHOWO ..................................... 47 IM UMSIEDLUNGSLAGER BÖHMISCH-LEIPA ................. 57 ANSIEDLUNG IM WARTHEGAU ..................................... 77 DAS BABY HÖRT NICHT AUF ZU SCHREIEN .................. 86 DIE FLUCHT VOR DEN RUSSEN ...................................... 95 VATERS GEFANGENSCHAFT ......................................... 103 KZ IN HOHENSALZA ..................................................... 113 ARBEITSLAGER ›GUT MARKOWO‹ ............................... 122 ANKUNFT IN BERLIN .................................................... 138 GOLDENE HOCHZEIT DER GROßELTERN..................... 144 ANKUNFT IN ELMELOH ................................................ 158 WIR SUCHEN EINE WOHNUNG ................................... 160 BEI MAYERS .................................................................. 166 ICH GEH IN DIE SCHULE ............................................... 177 HANNA HEIRATET ........................................................ 187 UNSER SCHWEIN .......................................................... 192

VATER KOMMT HEIM .................................................. 196 EIN SCHLAFZIMMER BEIM NACHBARN ....................... 199 NEUE FREIHEIT .............................................................. 203 VATER ARBEITET IN DER FABRIK .................................. 213 UNSER HAUS ................................................................ 216 EINE HÜTTE AUS QUECKEN ......................................... 220 PARAGUAY ................................................................... 233 ALBTRAUM SCHULE ..................................................... 235 TRÄUME ....................................................................... 244 NOCH EIN KIND ........................................................... 256 DER KNOTEN PLATZT ................................................... 262 ANHANG ...................................................................... 267 NACHWORT ................................................................. 275 NACHWORT VON S. HASENFUSS UND D. JAQUEMOTTE ...................................................................................... 281 IMPRESSUM .................................................................. 295 LESEEMPFEHLUNG ... ................................................... 297 LESEEMPFEHLUNG ... ................................................... 299

2000: REISE IN DEN UNBEKANNTEN OSTEN

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ch hatte viel von Gnadental gehört, von dem weiten Land, der fruchtbaren Erde, dem guten Klima. Von dem Zusammenhalt der Dorfbevölkerung. Vom Schwarzen Meer und der heilenden Erde. Auch von den pietistischen Werten wie Frömmigkeit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Wo war dieser ›Garten Eden‹ meiner Vorfahren? Ich wusste, dass er irgendwo im Osten am Schwarzen Meer liegen sollte. Ich fing an, mich für die Geschichte und das Land zu interessieren. Mit eigenen Augen wollte ich es sehen und erleben – das Land, in dem meine Eltern und Großeltern gelebt hatten. Das Land, von dem sie mir so viel erzählt hatten. Anfang September 2000 meldeten meine zwei Jahre jüngere Schwester Helga und ich uns zu einer Studienreise in die ehemaligen Heimatdörfer Bessarabiens an. Der Flughafen in Odessa war grau in grau. Wir waren im Ostblock. Die Koffer wurden rasch ausgeladen und standen in der Halle bereit, und nach kurzer Begrüßung durch unseren Reiseleiter ging es weiter in die ehemalige Kreisstadt Akkerman – heute heißt sie Belgorod-Dnestrovski. Schon am nächsten Morgen fuhren wir mit einem Taxi in das etwa 30 Kilometer entfernte Dorf Gnadental, das heutige Dolinovka. Wir sahen riesige Felder und die schwarze Erde, von der unser Vater immer so geschwärmt hat. Wir konnten nachempfinden, wie schwer es unseren Eltern damals gefallen sein musste, dieses schöne Land, ihre Heimat, 5

zu verlassen. Gnadental wurde 1830 von schwäbischen Kolonisten gegründet und musste 1940 wieder verlassen werden. Es liegt sehr schön in einem sanften Tal. Dennoch waren wir sehr enttäuscht und traurig, als wir in dieses Dorf hinein fuhren: Wir sahen ungepflegte Häuser, viel Unkraut und nur wenige Menschen auf den Straßen. Die einstmals stattliche Kirche mitten im Ort ist als solche nicht mehr zu erkennen. Die Bewohner haben einen Versammlungsraum daraus gemacht. Wir liefen durch die Obergaß zum Haus unseres Großvaters Friedrich. Dort wohnt inzwischen ein rumänisches Ehepaar mit zwei halbwüchsigen Söhnen und der Oma – gastfreundliche Leute, die uns ins Haus einluden und zum Abschied Trauben schenkten. Zwei Häuser weiter, am Ortsrand, stand der Hof unserer Eltern. Nur ein Erdhügel erinnert noch daran. Wir bedauerten sehr, dass von der mühevollen Arbeit unserer Eltern nichts übriggeblieben ist außer einem Haufen Erde. Helga sagte: »Komisch, ich habe das Gefühl, als sei ich schon einmal hier gewesen. Mir ist alles so vertraut!« Aber hier waren wir noch nie. Sie ist zwei Jahre nach der Umsiedlung im Warthegau geboren. Haben die vielen Erzählungen der Eltern dieses Heimatgefühl entstehen lassen? Danach suchten wir das Haus unseres Großvaters Daniel Hermann in der Mittelgaß. Doch außer einem verwilderten Grundstück haben wir nichts finden können. Auf dem Friedhof wollten wir daher wenigstens die Grabsteine unserer Verwandten aufsuchen. Aber wieder hatten wir kein Glück: Nur russische und rumänische Gräber fanden wir, 6

keinen einzigen Grabstein, der an Deutsche erinnert. Maria, eine Frau aus dem Dorf, stand plötzlich vor uns. Sie sprach Deutsch und von ihr erfuhren wir, dass die Grabsteine zum Bau der Kolchose genommen und das Gelände danach eingeebnet worden war. Ein Grabstein sei dabei übersehen worden und der steht nun als einziger auf dem ehemaligen Gelände des deutschen Friedhofs. Er erinnert an einen der ersten Kolonisten in Gnadental, an Johann Christian Kappler. Er kam als 8-Jähriger 1831 mit seinen Eltern aus Kochersteinsfeld in der Nähe von Heilbronn.

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PROLOG 1833 AUSWANDERUNG DES JOHANN DANIEL HERMANN

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ein Vorfahre, Johann Daniel Hermann, ist mit seiner Frau Wilhelmine Katharina, geborene Gall, und vier Kindern am 24. September 1833 von Kleinheppach (Remstal bei Schorndorf) nach Gnadental in Südrußland– Bessarabien ausgewandert. Von Beruf war er Weingärtner und seit 1809 auch Richter, d.h. Gemeinderat in Kleinheppach. Der Grund für seine Auswanderung ist schnell erzählt. Die Bewohner von Kleinheppach führten ein karges Leben. Vorausgegangen war die Französische Revolution, die in den Jahren 1790 bis 1815 in der Gemeinde große Opfer gefordert hatte. Durchziehende Truppen plünderten und raubten den Einwohnern ihr Eigentum. Brandschatzungen standen auf der Tagesordnung. Hinzu kam, dass der Herzog in Stuttgart Rekruten aushob und Geld für die Rüstung eintrieb. Unter Napoleon mussten württembergische Truppen 1805 gegen Österreich, 1807 gegen Preußen und 1812 gegen Russland ins Feld ziehen. Das war ein furchtbares Drama: Von 15.800 Württembergern kehrten nur 300 zurück. Aus Kleinheppach kam kein einziger aus den Kriegen zurück. Dann war Frieden. Aber welche Tragik! 1816 war ein 8

Hungerjahr, wie das Land es seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr erlebt hatte. So viel geregnet hatte es im Sommer noch nie und es war kalt wie im Winter. Weder Korn, noch Kartoffeln, noch Wein gediehen. Grund dieser Katastrophe war der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien. Gigantische Massen Asche und Staub wurden 50 Kilometer hoch in die Luft geschleudert und verteilten sich um den ganzen Erdball und verursachten eine Abkühlung des Weltklimas. Der folgende Sommer ging in die Geschichte als ›Schneesommer‹ ein, weil keine Sonnenstrahlen durch diesen Dunstschleier dringen konnten. Scharen von Bettlern irrten auf den Straßen. Die Gemeindeverwaltung war auf solche Katastrophen nicht vorbereitet. Sie tat das Menschenmögliche, um die Not zu mildern und die Menschen durch den Winter zu bringen. Doch die Gemeinde war verarmt. Die meisten Magazine waren leer, Saatgut fürs kommende Jahr gab es nicht. Die wenigen verbliebenen Zugtiere versanken im Morast oder verhungerten. Die allgemeine Stimmung war düster.

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1816 wurde das bestehende Auswanderungsverbot aufgehoben. Zar Alexander von Russland schickte Anwerber aus, um Bauern und Handwerker aus Württemberg für eine Ansiedlung in Russland zu gewinnen. Er versprach jedem Bauern 66 Hektar Land, 10 Jahre Steuerfreiheit, eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit und freie Glaubensausübung. Und – was sehr wichtig war – keine Pflicht zum Militärdienst, und das auf ewig, außerdem den Status eines Kolonisten, das heißt ein russischer und ein deutscher hoher Beamter waren für die Belange dieser Volksgruppe zuständig. Sie sollten als Vermittler (Fürsorgekomitee) dafür sorgen, dass bei der Ansiedlung alle Versprechen eingehalten werden. Dieses Angebot kam für die verarmten Menschen im richtigen Augenblick. Viele machten sich wenig Hoffnung, dass es in Württemberg in nächster Zeit besser werden würde. Scharenweise verließen sie ihre Heimat. Die Ersten, die sich auf den Weg machten, besaßen weder Pferd noch Wagen. Mit der legendären ›Ulmer Schachtel‹, einem primitiven Floß, fuhren sie die Donau abwärts. Sie hatten Ausbeutung, Armut und Unterdrückung im absolutistisch regierten Württemberg satt. Hinzu kam noch die unsägliche Kirchenzucht, wo zum Beispiel ein Fehlen beim sonntäglichen Gottesdienst schon ein Vergehen war und streng bestraft wurde. Viele kehrten der Kirche den Rücken und schlossen sich separatistischen Bewegungen an. Auch die Anhängerzahl der Pietisten wuchs. Sie trafen sich in Privathäusern zur ›Stund‹ und legten dort in Eigenregie die Bibel aus. 11

Mit der Zeit entstand eine Weltuntergangsstimmung. Und der Untergang sollte im Jahre 1836 stattfinden, denn der pietistische Prälat Albrecht Bengel aus Stuttgart hatte diesen Zeitpunkt errechnet. Er verkündete dieses in seinen Predigten: Der Heiland würde auf dem Berg Ararat erscheinen und dort im Osten entstünde das ›Tausendjährige Friedensreich‹. So spielte außer der materiellen Not auch noch die Religion eine große Rolle. Die Bereitschaft zur Auswanderung wurde dadurch verstärkt. In dieser überaus schwierigen Zeit verkauften die verarmten Kleinheppacher ihre Grundstücke, um zu überleben. Die herzogliche Kammerschreiberei nutzte die Not und erwarb sehr viele Weinberge in den besten Lagen. Dadurch waren die hiesigen Weingärtner zu besitzlosen Tagelöhnern geworden. Andere nahmen sich in ihrer Not einen auswärtigen Teilhaber, wobei die ganze Arbeit an ihnen hängen blieb. Vom Ertrag aber erhielten sie nur einen bescheidenen Teil. Kleinheppach hatte die meisten unehelich geborenen Kinder; fünfmal mehr als der Nachbarort Hanweiler. Wer nämlich damals heiraten wollte, musste dazu die Einwilligung der Obrigkeit haben. Wer kein Vermögen hatte oder keinen sicheren Erwerb nachweisen konnte, durfte nicht heiraten. Viele Mittellose, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, versuchten, als Kleinhändler und Hausierer ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wurden in Gemeindeprotokollen ›Viktualienhändler‹ genannt. 1830 zählte man in Kleinheppach dreißig solche Händler. Sie grasten die Gegend bis 12

nach Welzheim ab, um Butter, Hühner, Eier und Obst einzukaufen. Auf dem Kopf, in Körben auf dem Rücken oder auf zweirädrigen Karren schafften sie diese Waren nach Hause. Dann wurden sie für den Verkauf hergerichtet und die Frauen und Töchter verkauften sie auf einem Markt. Dabei legten sie oft große Strecken zurück, um überhaupt dorthin zu gelangen. In den Jahren 1829, 1830 und 1831 folgten drei Missernten aufeinander. Am 1. Juli 1833 richtete ein Unwetter in den Weinbergen und im Dorf schwere Verwüstungen an. Ein Haus wurde an Mauern, Fenstern und Türen schwer beschädigt. Auch sämtliche Gerätschaften waren in Mitleidenschaft gezogen. Eine Kuh ertrank. Große Mengen herunter geschwemmte Erde musste wieder nach oben geschleppt werden. Auch sehr viele Weinstöcke waren herausgerissen; neue mussten gepflanzt werden. Am 6. Juli wurde die ins Dorf herab geschwemmte Erde dann sogar verkauft! Schon am 8. Juli kam eine neue Sintflut, die von den Weinbergen in die Heppach schoss und drei Häuser unter Schlamm und Dreck begrub. Das am schlimmsten betroffene Haus gehörte Andreas Hermann. Er ist dadurch in Not und Elend gekommen. Bestimmt war er ein Verwandter meines Vorfahren, denn dieser und ein Georg Hermann standen später als Bürgen für das ›Prädikats & Vermögens Zeugniß‹ im Ratsprotokoll zu Kleinheppach. Zwei Monate später ist mein Ur-Ur-Urgroßvater ausgewandert. Er war 56 und seine Frau 54 Jahre alt. Am 22. September sind sie losgefahren. Entweder mit Pferd und 13

Wagen oder mit einem Ochsengespann. Aus alten Unterlagen geht hervor, dass die Familie sehr beliebt und geachtet war und zum Mittelstand gehörte. Auch war er seit über zwei Jahrzehnten Mitglied im Gemeinderat und wurde von diesem und dem Bürgermeister immer wieder gewarnt, nicht nach Russland auszuwandern. Sie wollten ihn nicht gehen lassen. In Kleinheppach sind von ihren acht Kindern im Laufe der Jahre vier gestorben. Die fünfjährige Elisabetha Katharina starb 1815. Das fünfte Kind hatte ebenfalls den Namen Elisabetha Katharina und ist 1819 im Alter von nur einem Jahr gestorben. Die beiden letzten Kinder waren Buben: 1828 starb Johann Wilhelm im Alter von sieben Jahren und 1823 verstarb Richard mit einem Jahr. Es war sicher nicht leicht, sich von den Kindergräbern zu verabschieden, ebenso von vertrauten Nachbarn, lieben Freunden und Verwandten. Mit auf die Reise gingen die beiden Töchter Johanna Wilhelmine, 29 Jahre, und Wilhelmine Katharina, 26 Jahre, und die Söhne Johann Georg, 18 Jahre, und Johann Daniel, 14 Jahre. Beide Töchter waren nicht verheiratet, obwohl sie längst das Heiratsalter erreicht hatten. Vermutlich reichte das Geld nicht, um zu heiraten. Mit dabei war noch der ledige 50-jähriger Bruder Johann Friedrich und die ledige Magd Magdalena Heubach, 33 Jahre. Magdalena wollte mitreisen, weil alle Verwandten bereits nach Sarata in Bessarabien ausgewandert waren. Sie stammte aus Grunbach. Beschleunigt wurde dieses Vorhaben durch den überra14

schenden Umstand, dass J. D. Hermann an der Stelle von Johannes Idler aus Strümpfelbach ausreisen konnte. Dieser wollte nicht mehr fort und so verkaufte er für 12 Gulden alle Rechte und ließ seinen Verzicht von dem Schultheiß Krauß in Strümpfelbach beurkunden. Der Kaiserliche Russische Gesandschaftssekretär Cofedoraff hatte inzwischen dem Wunsch Daniel Hermanns entsprochen, an Stelle des Johann Idler nach Südrussland zu wandern, wenn die hierzu nötigen Bedingungen erfüllt sind. Nun mussten das Ehepaar Hermann und die volljährigen Kinder noch die Bürgerrechts-Verzichts-Urkunde des Königreiches Württemberg unterschreiben, wonach auf das Bürgerrecht zu Kleinheppach wissentlich und wohlbedächtig Verzicht geleistet wurde. Erst dann erhielt Johann Daniel Hermann den gesetzlichen Reisepass, auf dem auch Friedrich Hermann als Knecht und Marie Magdalena Heubach als Magd aufgeführt waren. All diese Vorschriften waren eine nervenaufreibende und umständliche Prozedur. In ihren Taschen hatte Johann Daniel Hermann 600 Gulden, sein Bruder Friedrich 50 Gulden und Maria Magdalena Heubach 260 Gulden. Obwohl der Winter vor der Tür stand, machten sie sich am 22. September auf den Weg. Eine lange Reise per Achse und ohne Anführer. 1834 kam die Gruppe in Gnadental an. Hätte Johann Daniel Hermann damals schon gewusst, dass er bereits zwei Jahre später sterben würde und seine Frau zwei Jahre nach ihm, er wäre vermutlich in Kleinheppach geblieben. Als die Familie in Gnadental ankam, war sie sehr ent15