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ihn der milde Schein, der den Abend ankündigte. Er fühlte sich gerädert. ... Dann sah er zu der offenen Tür, aus der Edgar längst ausgestiegen war und die nun ...
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Sigrid Lenz

Erdenkind Band 3 Roman © 2011 AAVAA Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80, 13439 Berlin Alle Rechte vorbehalten www.aavaa-verlag.de 1. Auflage 2011 Korrektorat: Mondgesicht Korrektorat & Lektorat Umschlaggestaltung: Tatjana Meletzky, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0111-4 2

Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Kapitel 1

Wind heulte gegen die klappernden Wände des Wagens, doch der behielt seine Geschwindigkeit bei. Die Nacht dehnte sich vor ihnen aus. Sie schien kein Ende zu nehmen, bis Konstantin Paul in den Schlaf folgte. Er wusste nicht, wie lange sie gefahren waren. Doch als sie hielten und er erwachte, dämmerte es. Konstantin betrachtete das schwache Licht, das in den Raum drang, der nun ungewohnt stillstand. Er hatte geglaubt, dass es sich um Morgendämmerung handelte, doch als die Tür des Wagens mit einem schweren Knarzen aufgeschoben wurde, empfing ihn der milde Schein, der den Abend ankündigte. Er fühlte sich gerädert. Dunkle Erinnerungen lauerten auf ihn, aber er war noch lange nicht bereit, ihnen gegenüberzutreten. Stattdessen rüttelte er vorsichtig an Pauls Arm. Der Jüngere atmete ruhig. Allein dafür war Konstantin bereits dankbar. Als er Pauls Wange berührte, schien sie ihm weniger kalt als gewohnt. Mit ihrer windigen Unterkunft und der Anstrengung, die Paul hinter sich hatte, rechnete Konstantin mit der gewohnten Unterkühlung, dem leichten Schauer, der ihn jedes Mal wieder durchfuhr, wenn er unterbewusst 4

spürte, dass es dem Bruder an Wärme fehlte, dass dessen Lebendigkeit auch ein Trug sein konnte, dem er nur aufsaß, weil er an ihn glauben wollte. Konstantin schluckte, zwang die Vorstellung zurück und streifte Pauls Wange erneut. Diesmal flatterten Pauls Augenlider. Er blinzelte und als Pauls Blick Konstantin entdeckte, entstand ein Lächeln auf dem verschlafenen Gesicht. „Was ist passiert?“, murmelte Paul abwesend. Konstantin lächelte zurück und schüttelte nur den Kopf. Dann sah er zu der offenen Tür, aus der Edgar längst ausgestiegen war und die nun leicht schwankte, aber dennoch kalte Luft einließ. Er nickte Paul zu, der sich nun streckte, kurz gähnte und dann unwillig das Gesicht verzog. „Du bist voller Blut“, stellte Paul fest und Konstantin zuckte leicht zusammen. „Lass uns gehen“, sagte er und half Paul dabei aufzustehen. Der kam leichter auf die Füße, als Konstantin erwartet hätte. Mit wenigen Schritten waren sie am Rand des Wageninneren angekommen. Konstantin warf einen prüfenden Blick nach draußen, doch die Einsamkeit, die ihm entgegensah, überraschte ihn nicht. Ein Stück entfernt von ihnen stand Hendrik. Das Gras, auf das Konstantin sprang, bevor er Anstalten unternahm, Paul herunterzuhelfen, knirschte 5

unter seinen schmutzverkrusteten Schuhen. Als er genauer dorthin sah, entdeckte er das Eis, das die Halme bedeckte. Egal wie weit und lange sie gefahren waren, der Kälte entkamen sie nicht. Hendrik kam auf sie zu, deutete ein Stück bergauf. „Dort oben befindet sich eine Hütte. Immer den Weg entlang. Er ist nicht zu verfehlen. Ansonsten gibt es hier weit und breit niemanden.“ Er atmete in seine behandschuhten Hände, als versuche er vergeblich, sie zu wärmen. „Soll Edgar mit euch gehen?“, fragte er dann. „Es könnte dauern. Wir schaffen die Autos weg und sorgen für das Notwendige.“ Er zeigte nach Westen. „Dort befindet sich ein Dorf. Nicht zu weit entfernt, aber auch nicht zu nah. Ich schätze, dass wir hier eine Weile bleiben.“ „Hier?“ Konstantin fühlte sich gleichermaßen überrumpelt wie entsetzt. Mit einem Mal und ohne, dass er begriff, wie es geschehen konnte, wurden ihm alle Zügel aus der Hand genommen und er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Hendrik presste die Lippen zusammen und sah erst zu Boden und dann Paul an. Sein Blick wurde weich. „Ich will 6

mich nicht einmischen“, sagte er langsam und sah zur Seite. „Und ich weiß, dass ihr keinen Grund habt, mir zu vertrauen. Nicht nach allem, was geschehen ist, was wir getan und wo wir euch mit hineingezogen haben.“ Er wich einen Schritt zurück. „Es ist wirklich nur so, dass wir nicht anders können. Wegen ihm.“ Sein Blick fiel auf Paul und er lächelte leicht. „Ich wette, das verstehst du am besten.“ Konstantin fühlte sich instinktiv versucht, Paul an sich zu ziehen und zugleich vor ihn zu treten. Dabei wusste er nicht, wen er durch die Bewegung schützen wollte. Sich selbst oder Paul. Hendrik zuckte mit den Schultern und wirkte plötzlich ähnlich ratlos wie Konstantin sich fühlte. „Ich bin mir auch nicht darüber im Klaren, was hier mit mir geschieht“, meinte er dann und schwenkte seine Arme. Konstantin erschien es merkwürdig, dass noch am Tag zuvor dieser Mann sie bedroht hatte, und wenn es nach Colin gegangen wäre, vermutlich nicht einmal mit der Wimper gezuckt hätte, während er sie erschoss. „Es fühlt sich an, als wären mir die Augen geöffnet worden.“ Hendrik schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass es wie ein übles Klischee erscheint, aber als alles schiefging, was schiefgehen konnte, und Paul bewies, dass er … dass es 7

Grenzen gibt, über die er hinwegsteigen kann und das mit Leichtigkeit, da …“ Er brach ab, zuckte wieder mit den Schultern. Konstantin sah erst Paul an, dann wieder den blonden Hünen, ehemaligen Komplizen ihres Peinigers. Paul dagegen blickte nicht einmal in die Richtung des Mannes. Gedankenverloren ließ er seinen Blick über das Gras, die kahlen Bäume und Büsche wandern. Manchmal blieben seine Augen an einem Detail hängen. Dann betrachtete er eine vertrocknete Hagebutte oder einen Zweig, der sich einem Hilfeschrei gleich hoch in den Himmel reckte. Er wirkte vollkommen in sich gekehrt, geradeso als ginge ihn all das nichts an, als drehte die Konversation sich nicht um ihn. Blass und schmal wie immer stach nur Pauls verwirrter Haarschopf ins Auge. Der ließ ihn immer noch jünger aussehen, als er wirklich war, verlieh ihm den Eindruck von Unschuld und gerade der Hilflosigkeit, die Konstantin regelrecht dazu zwang, sich seiner anzunehmen. Nein, Hendrik saß definitiv einem Irrglauben auf. Vielleicht wirkte sich Edgars Wahnsinn ansteckend aus. Konstantin erinnerte sich vage an die Worte des Uniformierten, der gerade noch nicht mehr als ein ausführendes Organ ihres wahnsinnigen Vaters gewesen war, und der nun von 8

sich behauptete, auf ihrer Seite zu stehen. Und das aus den widersinnigsten aller Gründe. Konstantin sah sich um. Andererseits, dann mussten sich auch die beiden anderen Männer infiziert haben. Auch wenn sie ebenfalls immer noch Dereks Uniform trugen und damit nicht nur an den Mord an Cora erinnerten, sondern auch an die Verfolgung Pauls. Sie wirkten seltsam verloren. Fast unsicher und geradeso, als fühlten sie sich weder in ihrer Kleidung noch in ihrer Situation wohl, besaßen jedoch keine Möglichkeit, sich auch nur aus einem von beidem zu befreien. Nicht mehr fähig zum Widerspruch, litten die Verbliebenen unter einem offensichtlichen Wahn, während die Übrigen, ob Einbrecher oder Dereks Leibwache, vernünftig gewesen und ihr Heil in der Flucht gesucht hatten. Konstantin konnte sich nur vorstellen, dass keiner von ihnen gerne Fragen zu den Toten, dem Schusswechsel, zu ihrer Handlanger-Tätigkeit oder den Einzelheiten des Geldtransfers beantworten wollte. Aber warum waren gerade diese Männer bei ihnen geblieben? Und nicht nur das: Sie hatten Paul und ihm schnell und gewandt aus der Patsche geholfen. Konstantin war sich nicht sicher, ob er selbst noch in der Lage gewesen wäre, 9

einen Wagen kurzzuschließen oder überhaupt einen Schritt zu tun. Geschweige denn, sich und Paul aus dem tödlichen Moor zu befreien. Sein Gefühl sagte ihm, dass sowohl Paul als auch er selbst sich willig dem Sog in die Tiefe unterworfen, die unvermeidliche Strafe akzeptiert hätten. Letztendlich war Derek immer stärker gewesen. Und das bedeutete, dass er Hendrik letztendlich und trotz allem Vorangegangenen wohl dankbar sein sollte. Nun war es Konstantin, der den Kopf schüttelte. „Was wollt ihr? Denn ihr könnt mir nicht erzählen, dass ihr uns helft, ohne eine Gegenleistung zu erwarten?“ Er kniff die Augen zusammen. „Oder vielleicht eine Belohnung zu kassieren.“ Konstantin räusperte sich, bis der Frosch aus seinem Hals sprang. „Vielleicht wartet ihr nur, bis eine ausgesetzt wird?“ Edgar presste seine Lippen zusammen, während er sich über die Stirn rieb. „Du weißt sehr gut, dass dein Vater unter der Hand mit Geld lockte. Mit den richtigen Kontakten verdient ein Kopfgeldjäger sich einiges. Aber das ist es nicht. Nicht diesmal.“ Hendrik blickte auf. „Also gut. Ich sehe nicht viele Möglichkeiten, aber ich sehe sie.“ Er winkte den beiden anderen Männern. 10

„Wir müssen auf jeden Fall die Fahrzeuge tauschen. Aber wenn ihr, wenn dein Bruder es für besser hält, dann geben wir euch den Wagen. Dann könnt ihr einfach wegfahren. Das … steht euch selbstverständlich frei.“ Er wirkte beinahe unglücklich auf Konstantin, der nun seinerseits Paul einen fragenden Blick zuwarf. Der erwachte aus seiner Trance und lächelte leicht. „Er meint es ernst“, sagte er dann und zwinkerte Konstantin zu. „Auch wenn du ihm nicht glaubst.“ „Aber das ist … wir waren eben noch seine Gefangenen.“ Konstantin wies auf die anderen Männer. „Sie hätten uns umgebracht, wenn Derek es befohlen hätte. Ich denke, sie haben es versucht.“ Paul schüttelte den Kopf. „Das war einmal. Alles verändert sich. Und das Böse kann vergehen, so wie …“ Er zögerte, es auszusprechen und Konstantin nahm ihm die Aufgabe ab. „Derek.“ Konstantin schüttelte den Kopf. „So wie ich Derek getötet habe.“ „Aber das hast du nicht.“ Paul sah ihn erstaunt an, ging einen Schritt auf Konstantin zu, der zugleich den Kopf senkte. Er legte seine Hand unter Konstantins Kinn und hob es ein wenig an. „Du glaubst es nur“, stellte Paul fest. „Aber du hättest ihn nicht umbringen können. Er sagte es uns selbst.“ 11

Konstantins Mund öffnete sich zu einer Entgegnung, schloss sich jedoch sogleich wieder. Die Erwiderung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, verschwand aus seinem Gehirn, als hätte es sie nie gegeben. Natürlich hatte er Derek nicht töten können. Nicht, wenn jede Verletzung sofort heilte. Nicht, wenn Derek mit Morpheus einen noch so wahnsinnigen Handel abgeschlossen hatte. Konstantin holte erschrocken Luft. Ein Handel, der nun außer Kraft war. Und warum? Weil Paul auf eine Weise eingegriffen hatte, die Konstantin alles andere als klar war. Von der er auch nicht erwarten konnte, dass sie ihm sobald noch klar werde. Konstantin blinzelte nervös. Und doch hatte Pauls Eingreifen nicht nur Dereks Ende zur Folge, sondern auch ein paar Männern eine Seite in ihm offenbart, die sie dazu brachte, ihm helfen zu wollen. So verrückt das klang. Und sofern diese Männer nicht verrückt waren, denn vielleicht hatte das, was auch immer Paul angestellt hatte, sie verrückt gemacht, sie beeinflusst, so dass sie nun glaubten, Paul sei … ja, was eigentlich? Konstantin schüttelte den Kopf, wusste dennoch sehr gut, dass er keine Chance hatte, den Kopf frei zu bekommen. Er

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konnte nur mit dem Strom schwimmen. Und vielleicht einmal mehr auf Paul hören. Der starrte ihn immer noch an. Seine dunklen Augen ernst, die Falte zwischen seinen Augenbrauen wurde langsam sichtbar, ein Zeichen seiner Konzentration. ‚Geradeso als lausche er auf meine Gedanken‘, so kam es Konstantin in den Sinn. „Wenn du einverstanden bist?“, murmelte er unsicher. Das Adrenalin, das ihn gerade noch wachgehalten und das Begreifen der Realität in den Hintergrund verschoben hatte, ließ nach, denn auf einmal überkam ihn eine geradezu bodenlose Erschöpfung. Sie überfiel ihn wie eine Lawine, begrub den Widerstand, die Vorsicht, den Unglauben unter sich. Paul lächelte und nickte dann. Hendrik rieb sich mit dem Handschuh über die vor Kälte gerötete Nase. Er sah von einem zum anderen und ein unsicheres, halbherziges Lächeln zuckte um einen Mundwinkel. „Dann … dann erledigen wir das Nötige“, meinte er, warf noch einen fragenden Blick auf Paul, der fast unmerklich seinen Kopf schüttelte. Hendrik gab Edgar ein Zeichen und der schwang sich in den zweiten Wagen. Die anderen stiegen ein und nur einen 13

Moment später rollten die Fahrzeuge den schmalen Weg hinunter. Pauls Hand, die nun auf Konstantins Schulter lag, rutschte seinen Arm hinab, bis ihre Hände sich fanden. „Alles klar?“, fragte Paul und Konstantin atmete langsam aus, beobachtete dann seinen Atem, wie der sich von ihm entfernte, weiter und weiter fortflog, ähnlich seinem eigenen Verstand. Vielleicht waren es auch nicht nur die anderen, vielleicht wurde jetzt die gesamte Welt verrückt. Das Unterste kehrte sich nach oben, und das Oberste versank in der Tiefe. ‚Im Moor‘, dachte er sarkastisch. Wenn Leichen von Vätern dort versanken, warum nicht auch die Wahrheit, wie er sie kannte. Er atmete entschlossen und tief aus. Dann drückte er Pauls Hand. „Also gehen wir.“ Er erwiderte Pauls Lächeln und sah den Weg entlang. Der führte nun bergauf. Wenngleich sanft, so seufzte Konstantin doch innerlich. Und mit Recht, wie er nach einer Weile feststellte. Nicht nur hatten sie mit dem Anstieg zu kämpfen, die Kälte erleichterte diesen auch nicht. Konstantin schlug seinen Kragen hoch und dann Pauls ebenfalls, der seinerseits aussah, als versuche er, sich in seiner Jacke zu verstecken. 14

Hendriks Worte erwiesen sich als nur zu wahr. Der Weg verlief krumm und schief, teilweise fast versteckt. Sie gelangten auf eine weitere Ebene, die in der Ferne den Ausblick auf blinkende Lichter erlaubte. Das musste der Ort sein, von dem Hendrik gesprochen hatte. Weit genug entfernt, dass bei Tag und ohne den Lichterschein keine Spur von ihm wahrzunehmen war. Die Ebene fiel leicht ab. Konstantin war sich nicht sicher, was sie unter ihren Füßen spürten, aber auf jeden Fall ließ es sich nicht unter Begriffen wie Wiese oder Feld einordnen. Rohe Erde, auf der einige trockene Halme aufragten und gelegentlich vereiste Flächen von geschmolzenem Schnee sprachen. Unwirtlich und rau, ebenso wie der kalte Wind, der über die Ebene fuhr und durch ihre Jacken drang. Konstantins Hand, die Paul führte, befand sich ebenso wie dessen innerhalb der Ärmel, die gegeneinanderstießen, aber sich doch nie nah genug kamen, um zu verhindern, dass eisige Luft unter den schützenden Stoff drang. Ihre Hände, ihre Finger froren, so viel war sicher. Und obwohl ihre Beine und Füße in Bewegung blieben, fühlte Konstantin mit jedem Schritt größeren Schmerz. Gerade den Schmerz, der der Taubheit voranging, die zum endgültigen Absterben der Gliedmaßen führte. 15