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wo des Hirschbergs kühner Gipfel sich reckt, ... Veit und seinem Schwiegervater Karl Wagner wäre noch ... dass Karl Wagner auch bestimmt draußen bliebe.
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Nicole Braun

Heimläuten

Nicole Braun

Heimläuten Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2016 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Herstellung: Mirjam Hecht Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © E. Schittenhelm – Fotolia.com Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-8392-4977-2

Für Charlie Braun 1941 – 2010

Wickenröder Lied

Es liegt ein Dörflein im Kaufunger Wald, an Schätzen reich, an Geschichte alt. Es liegt dort zwischen Wäldern versteckt, wo des Hirschbergs kühner Gipfel sich reckt, wo die Äcker so schmal, doch die Wiesen so grün, wo die herrlichsten goldenen Trollblumen steh’n. Ich grüße dich, Dörflein im Wedemannstal, sei gegrüßt mir viel tausendmal. Dort oben am Hirschberg sitz’ ich so gerne und schaue zum Dörflein und weit in die Ferne. Es rauschen die Bächlein dort unten im Tal, aus des Berges Tiefe dringt dumpfer Hall. Dort steigt aus dem Stollen der Bergmann herauf, dem Dörflein gilt sein erstes »Glück Auf«. Ich grüße dich, Dörflein im Wedemannstal, sei gegrüßt mir viel tausendmal. Und drüben im Taufstein lauscht oft ich zur Nacht, wenn im finstren Tann der Waldkauz lacht, wenn im Siechen im Frühling die Nachtigall singt, wenn im Herbst im Gemenge der Brunftschrei erklingt. Wenn der Hirschberg prangt im schneeweißen Kleid und die Wälder in Raureif Herrlichkeit. Ich grüße dich, Dörflein im Wedemannstal, sei gegrüßt mir viel tausendmal.

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Und bin ich weit draußen im fernen Land, mein Blick ist immer zur Heimat gewandt. Mag die Fremde auch noch so herrlich sein, niemals, mein Dörflein, vergesse ich dein. Dir halte ich die Treue, bis in den Tod, O Heimat, mein liebes Wickenrod’. Ich grüße dich, Dörflein im Wedemannstal, sei gegrüßt mir viel tausendmal. Carl Löwer

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Wickenrode, 1938

Albrecht Schneider sog diesen trügerisch friedlichen Augustmorgen in tiefen Zügen ein, während er mit klam­ men Gliedern aus seiner Haustür auf den Treppenabsatz trat. Ein leiser Sommerregen glitzerte in der aufgehenden Sonne und waberte in dichten Schwaden über das vom Vortag aufgeheizte Kopfsteinpflaster. Selbst hier draußen breitete sich eine Schwüle aus, die das Atmen schwer und jede Bewegung zu einer schweißtreibenden Angelegen­ heit machte. Kurz vor dem Morgengrauen war Johann endlich auf der Eckbank in der Küche eingeschlafen. Ein kleines Wunder, dachte Albrecht Schneider, dass er sich überhaupt beruhigt hatte, nach dem, was am Abend vorgefallen war. Er hatte schon Einiges erlebt, aber so etwas war ihm auch noch nicht passiert. Eine lange Aussprache zwischen Johann Veit und seinem Schwiegervater Karl Wagner wäre noch das Geringste, um das Geschehene wieder geradezurücken. Immerhin war es nur um Haaresbreite gut ausgegangen. Aber wirklich nur um Haaresbreite. Jetzt schlief der Johann wie ein Säugling auf Albrechts Küchenbank, dabei war er dem Axthieb seines Schwieger­ vaters nur um Millimeter entgangen, als er sich am Abend zuvor in größter Not in den Hausflur von Albrecht Schnei­ der retten konnte. Es musste eine göttliche Fügung gewe­ sen sein, dass Albrecht just in dem Augenblick die Tür öff­ nete, als ihm Johann buchstäblich in die Arme fiel. Keine Sekunde später, und der vor Wut rasende Karl Wagner hätte 9

seinem Schwiegersohn mit der Axt den Garaus gemacht. So aber saß Johann völlig verstört in Albrechts Hausflur. Fas­ sungslos starrte er ihn an, während Albrecht noch immer rücklings an der Haustür lehnte, als wolle er sicherstellen, dass Karl Wagner auch bestimmt draußen bliebe. Zu allem Unglück war nun auch noch Albrechts Frau Edith aufge­ wacht und stand völlig zerzaust im Nachthemd auf dem Treppenabsatz. Alles, was sie sagen konnte, war: »Alle­ mächtcher. Als hätt er dem Leibhaftigen in ’n Schlund geschaut!« Albrecht und Edith Schneider hatten ihre liebe Mühe, den Johann erst auf die Beine und anschließend in die Küche zu bringen. Obwohl Albrecht Schneider ein gestandenes Mannsbild war, war es alles andere als leicht zu bewerk­ stelligen, den stämmigen Kerl auf seine Füße zu stellen. Johann hing unhandlich wie ein nasser Sack auf Albrechts Schulter, so sehr steckte ihm der Schock in den Gliedern. Als sie ihn endlich auf der Küchenbank hatten, betrach­ tete Albrecht Schneider das gesamte Ausmaß des Dilem­ mas. Eine beträchtliche Platzwunde zierte Johanns Kinn, und ein dunkler Fleck auf seiner Hose stammte offensicht­ lich nicht vom Blut aus der Kinnwunde. »Edith, hol doch mal was zum Anziehen«, sagte er und ergänzte nach einem kritischen Blick auf Johann: »Und einen Waschlappen.« Ein heißer Tee. Das bringt den armen Kerl wieder auf die Beine, dachte Albrecht. Er schürte die restliche Glut vom Abendessen im Ofen und setzte den Kessel auf die Herd­ platte, dann wandte er sich dem Häufchen Elend auf sei­ ner Küchenbank zu. »Was ist denn bloß in euch gefahren?« Johann gelang mit Mühe ein knapper Augenkontakt, dann sank ihm der Kopf zurück auf seine Brust. 10

»Ach, weißt du was? Morgen sieht die Welt schon wie­ der ganz anders aus. Dann hat sich alles beruhigt und wir sehen weiter, nicht wahr?« Albrechts Hand ruhte aufmun­ ternd auf Johanns Schulter. Der Tee war frisch aufgegossen, als Edith Schneider mit einem Bündel Kleidung unter dem Arm die Küche betrat. Johann warf einen kritischen Blick erst auf das Bündel und dann auf Edith, und Albrecht verstand: Sich vor Edith aus­ ziehen zu müssen, würde Johanns Lage kaum angenehmer machen. »Ich mach das schon. Leg du dich nur wieder hin«, sagte er und nahm seiner Frau die Kleidung aus der Hand. »Und die Magda? Wird die sich nicht sorgen, wenn der Johann nicht nach Hause kommt?« Albrecht ignorierte die Sorgenfalte auf der Stirn seiner Edith. Keine Frage, Johanns hochschwangere Frau sollte vor unnötiger Aufregung bewahrt werden. Doch ihren Ehemann in diesem Zustand zurückzubekommen, wäre kaum weniger aufregend. »Es ist schon so spät. Sie weiß doch, dass er oft lange in der Kneipe ist. Sie wird schon schlafen. Und morgen schicke ich ihn in aller Frühe wie­ der heim. Vielleicht merkt sie gar nicht, dass er weg war.« Die bis zum Anschlag hochgezogenen Augenbrauen seiner Edith erinnerten Albrecht Schneider daran, dass jede Ehe­ frau auf dieser Welt die nächtliche Abwesenheit des Gat­ ten bemerken würde. Doch er wartete vergebens auf einen Kommentar. Offensichtlich zog sie es vor, sich nicht län­ ger als nötig den Kopf über anderer Leute Sachen zu zer­ brechen und trotz des Schrecks ihre unterbrochene Nacht­ ruhe fortzusetzen, und verließ kopfschüttelnd die Küche. Albrecht dachte nicht daran, den großen Johann wie­ der wie einen nassen Sack herumzuwuchten. Er flößte ihm einen Schluck heißen Tees ein und teilte ihm unmissver­ 11

ständlich mit: »Du musst jetzt schon mithelfen, wenn du aus den dreckigen Klamotten rauswillst!« Der deutliche Ton weckte in Johann zumindest den einen oder anderen Lebensgeist. Wie ein kleiner Junge ließ er sich von Albrecht Schneider aus den Sachen pel­ len und mit dem Waschlappen das Gesicht säubern. Und so saß er wenig später, sauber gekleidet und mit leichten Resten verklebten Blutes im Gesicht, am Tisch und starrte in seine Teetasse. Albrecht Schneider war kein Mann großer Worte. Und da es ohnehin nicht so aussah, als sei Johann auf eine Unterhaltung aus, erschien es ihm das Klügste, Johann stille Gesellschaft zu leisten. So saßen die beiden Männer, der eine im Morgenmantel, der andere in einem zu engen Hemd, am Küchentisch und schwiegen, während die letzte Glut im Ofen erlosch. Kurz nachdem Johann endlich auf der Bank eingeschla­ fen war, sank auch Albrecht Schneider der Kopf auf das Kinn. Er hatte kaum ein paar Stunden geschlafen, als ihn das eigene Schnarchen weckte. Ihm tat das Kreuz weh, und obwohl ihm die Augen wieder zuzufallen drohten, beschloss er, die unbequeme Haltung aufzugeben und sich ein wenig nützlich zu machen. Die Bank knarrte bedenk­ lich, als Johann sich darauf umdrehte. Albrecht hielt inne. Er wollte den Jungen noch nicht aufwecken. Ein leises Grunzen aus Johanns Richtung verriet ihm, dass diese Sorge unnötig war – Johann hatte in einen tiefen Schlaf gefunden. Albrecht Schneider stützte sich auf die Anrichte und lauschte der Stille im Haus. Außer den Wellen gleichmä­ ßiger Atemzüge von nebenan auf der Bank war nichts zu hören. Er knüllte eine herumliegende Zeitung zu einem 12

Ballen und steckte ihn zusammen mit ein paar Holzspä­ nen in den Ofen. Zwei Streichhölzer streikten, erst das dritte ließ sich entzünden. Vorsichtig hielt Albrecht es an die Späne. Eine kleine Flamme rang in dem klammen Holz nach Luft aus dem Schornstein. Blaugraue Schwaden brei­ teten sich rasch unter der niedrigen Holzdecke der Küche aus, bis der Zunder endlich Feuer fing. Albrecht bewegte sich so geräuschlos es seine müden Glieder zuließen. Leise ließ er Wasser in den Kessel rieseln, und die Porzellankanne fischte er mit äußerster Vorsicht aus dem Schrank. Kein Geräusch sollte die Ruhe im Haus stören, und so entfernte er auch noch die Pfeife vom Was­ serkessel. Er warf einen flüchtigen Blick aus dem Küchen­ fenster und sah unscharf durch den verdunstenden Regen. Schläfrigkeit trübte seine Augen, doch auch nach ausgiebi­ gem Reiben wurde die Sicht kaum klarer. Der dichte Boden­ nebel reflektierte die aufsteigende Dämmerung in undurch­ dringlichem Dunst. Noch einmal rieb er sich die Augen und blickte in den anbrechenden Morgen. Ein Seufzen begleitete den Gedanken an einen arbeitsreichen Tag. Die Heuhau­ fen hatte er gestern in aller Eile vor dem nahenden Regen zusammengerauft. Nun mussten sie wieder zum Trocknen ausgebreitet werden und so schnell wie möglich im Heu­ boden verschwinden, bevor sich der nächste Sommerregen einstellte. Beide Hände auf den Herd gestützt, den Blick aus dem Fenster gerichtet, hing er so seinen Gedanken über das bevorstehende Tagewerk nach, bis ihm der Dampf aus dem Wasserkessel heiß in das Gesicht blies. Mit einem Handtuch umfasste er den Henkel des Kessels und ließ das kochende Wasser sorgsam in die Kanne laufen, bis sich am Rand ein See aus schaumigem Kaffeepulver gebildet hatte. Auf das Plätschern des Wassers in der Kanne reagierte seine Blase 13

mit unangenehmem Druck und gab ihm zu verstehen, dass ein dringendes Bedürfnis keinen Aufschub duldete. Bis sich das Kaffeepulver wieder auf den Boden der Kanne gesetzt haben würde, blieb ausreichend Zeit, um diesem erst mal in aller Ruhe nachgehen zu können. Albrecht haderte kurz mit sich, dann verwarf er die Idee, das Bad im oberen Geschoss zu benutzen. Dort oben hatte er eine Toilette mit Wasserspülung als Zugeständnis an seine Frau Edith einbauen lassen. Nach ihrer Verlobung war sie aus der Stadt zu ihm auf das Land gezogen und hatte genug mit den Unannehmlichkeiten zu kämpfen, die das Leben in einem viel zu winzigen Fachwerkhaus, umringt von Mist­ haufen und Stallungen, so mit sich brachte. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, hatte sie Albrechts alten Herrn quasi mit geheiratet. Und bis zu dessen Tod im letz­ ten Jahr hatte sie nun zwei Männer zu umsorgen, von denen einer die Bezeichnung »sturer Bock« mehr als verdient hatte und der andere Albrecht war. »Auf gar keinen Fall!« Das waren ihre Worte, als sie sich bei ihrem ersten Besuch in Wickenrode, auf die Frage nach dem Austritt, in einem Plumpsklo neben dem verwaisten Hundezwinger wieder­ fand. Und es hatte nicht acht Jahre Ehe gebraucht, bis Alb­ recht Schneider verstand, dass Edith es auch genauso meinte, wenn sie es so sagte. Also baute er ein Klo ein. Da jedoch die Bauweise seines Elternhauses ungeeignet war, gewisse Geräusche diskret für sich zu behalten, zog er selber den Gang nach draußen vor. Hin und wieder jedoch, wenn er nachts im Winter mal pinkeln musste, leistete er seiner Frau Edith in Gedanken Abbitte und war heilfroh, nicht raus in die eisige Kälte zu müssen. An diesem Morgen jedoch fiel seine Wahl auf das Plumpsklo im Hof. Er hatte keine Lust, angestrengt den unvermeidlichen Morgenfurz unterdrü­ 14