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darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psycho- analyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft und.
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Mathias Hirsch »Mein Körper gehört mir … und ich kann mit ihm machen, was ich will!«

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as Anliegen der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft und als klinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und der kritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden. Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert: Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wie beispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, W. R. D. Fairbairn, Sándor Ferenczi und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der von Zersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen weiteren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung. Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahren hat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Ansätze vernachlässigt. Indem der Dialog mit den Nachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Stärker als früher steht die Psychoanalyse in Konkurrenz zu benachbarten Psychotherapieverfahren und der biologischen Psychiatrie. Als das anspruchsvollste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich die Psychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer Therapie-Erfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigene Kriterien und Konzepte zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse. Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigen kann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potenzial besinnt.

Bibliothek der Psychoanalyse Herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth

Mathias Hirsch

»Mein Körper gehört mir … und ich kann mit ihm machen, was ich will!« Dissoziation und Inszenierungen des Körpers psychoanalytisch betrachtet

Psychosozial-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2010 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Egon Schiele: »Nude Self-Portrait, Grimacing«, 1910 Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Gießen www.imaginary-art.net Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar www.majuskel.de Printed in Germany ISBN 978-3-8379-2091-8

»Es ist der Geist, der sich den Körper baut.« Schiller: Wallenstein

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Inhalt

Vorwort

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Körperdissoziation Die Funktionen des abgespaltenen Körpers Der Körper tritt an die Stelle des Opfers destruktiver Gewalt – Der Körper als Container Der Körper als Mutter-Ersatz Die Verwendung des Körpers zur Abgrenzung Körperdissoziation in der traumatisierenden Situation (peritraumatisch) Zweizeitige Abwehr: Dissoziation als Abwehr des Trauma-Äquivalents – Körper-Abspaltung als Abwehr des Dissoziationszustands Ein Teil wird geopfert, um das Ganze zu retten Die Differenzierung des Selbst, des Körper-Selbst und der äußeren Objekte in der frühkindlichen Entwicklung Autistisch-berührender Modus »Protopsyche« Selbst-Objekt-Differenzierung Die Wurzeln des Mentalen im Körper Erste Symbolisierung im Containment Mutter-Ambivalenz Das »Doppelte« der Mütter Haare

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8  ·  Inhalt

Das tote Brügge Allerleirau Rapunzel Pelleas und Mélisande Haar, Sexualität und Macht Anklammerungstrieb Henriette Weißweiler Perionychomanie Die weibliche Brust »Der nackte Busen« Psychosomatik Der kranke Körper »handelt« im »Dienste der Mutter« Triangulierungsfunktion des Körpers Die Objektersatzfunktion des kranken Körpers Die Abgrenzungsfunktion des kranken Körpers Warum gerade diese Erkrankung? Ekzem Asthma Sexuelle Funktionsstörung

57 61 62 64 67 69 70 75 78 83 85 85 88 89 89 91 93 97 101

Körperinszenierungen Der Körperalltag Körpersprache Körper und Identität Initiationsriten Beschneidung Genitalverstümmelung Schmerz Tätowierung und Piercing »Schönheitschirurgie« Intimchirurgie Rituale der Nahrungsaufnahme

103 105 108 111 113 114 120 124 127 129 135 137

Selbstbeschädigung Johanna »Ein sauberer Schnitt«

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Inhalt  ·  9

»Vater-Trauma« Antje Ingerfeld Jolande Katzenstein Body Integrity Identity Disorder (BIID)

152 154 165 182

Essstörungen Fettsucht Anorexie und Bulimie Paula Hettchen Adoleszenz Familiendynamik Mutter-Tochter-Beziehung Frau Dachs Latent inzestuöse Vaterbeziehung Weiter Frau Dachs Natalie Bulimie Kotzen Das Symptom als Bild für die Borderline-Beziehung »Bulimie ohne Bulimie« Nahrung, Mutter, Körper

185 186 191 191 193 195 196 199 203 204 206 244 247 248 249 250

Hypochondrie und Dysmorphophobie Dissoziation Projektion des traumatischen Introjekts Auslösesituation Arretierung des Autonomie-Abhängigkeits-Konflikts Yvonne Wildgruber: Aids-Hypochondrie Hans Holzbauer: Aids-Hypochondrie Warum ist der Körper Ziel der Projektion? – Spezifisches Verhalten der Mütter »Hypochondrie-by-proxy« Dr. Johnson Martha Dysmorphophobie Benigna Niemann

253 256 257 262 264 265 268 270 272 273 279 281 285

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Ein »unerwünschter Kinderwunsch« – Gedanken zur Funktion von Kinderwunsch, Schwangerschaftsphantasien und Schwangerschaft Schwangerschaft in der Adoleszenz Die junge Mutter bringt das Kind den Eltern Frau Ingram Sabine Arbeiter Anita Odenwald »Ich möchte ein Kind bekommen« – Schwangerschaft als Identitätsersatz Nastassja Röhl: Vaterlosigkeit Nicole Frau Angerer Schwangerschaft und Geburt als Identitätsbedrohung Kinderwunsch

293 298 300 301 304 311 313 314 316 318 319 321

Schlussbemerkung

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Literatur

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Vorwort

Das Interesse an der psychoanalytischen Durchdringung der Bedeutung des Körpers hält seit vielleicht 20 Jahren stetig an, und das entspricht dem Stellenwert, den sowohl der Körper selbst als auch seine Beeinflussung in der zeitgenössischen Gesellschaft bekommen hat. Und das einmal im großen gesellschaftlichen Rahmen – man denke an »Fitness« und an »Schönheitschirurgie« – und zum anderen im pathologischen Sinne: Selbstbeschädigung und Essstörungen sind ja die modernen Krankheitsbilder der (überwiegend weiblichen) Adoleszenten – und Adoleszenz reicht heute manchmal bis ins fünfte Lebensjahrzehnt. Andererseits haben die Menschen schon immer ihren Körper im Alltag und aus besonderen Anlässen (Initiationsriten!) verändert und manipuliert. Es scheint, als ob der Körper zwar zum Selbst des Menschen gehört, gleichzeitig aber wie ein äußeres Stück Natur behandelt wird, wie ja der Mensch überhaupt ständig auf seine vorgefundene Umgebung einwirken muss, konstruktiv oder zerstörerisch. So kann man seinen »eigenen Körper als Objekt« verwenden; das ist der Titel des 1989 von mir herausgegebenen Buches, mit dem wir damals das Thema psychoanalytische Körperpsychologie so grundlegend bearbeitet haben, dass es noch heute durchaus aktuell ist. Die Wissenschaft entwickelt sich aber weiter, und so wurden in das vorliegende Buch die neuen Ergebnisse der Säuglingsforschung und die aktuellen Bemühungen, Bindungsforschung und moderne Psychoanalyse (als eine Beziehungswissenschaft verstanden) zu verbinden, in das Körper-Thema eingearbeitet. Ich habe mich bemüht, das Buch möglichst lesbar zu gestalten und die Anschaulichkeit der theoretischen Vorstellungen durch viele Fallbeispiele zu

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erhöhen. Trotzdem wurde auf die oft komplizierte Darstellung diffiziler psychischer Verhältnisse – besonders was den Abwehrvorgang der Dissoziation betrifft – nicht verzichtet. Da das Körper-Thema schier unerschöpflich ist, konnte ich leider einige Bereiche nicht umfassend ausarbeiten. Ich denke an Themen wie Sexualität – das würde ein eigenes Buch erfordern – oder: Der Körper als Kunstobjekt. Auch wäre ein Kapitel über die Bedeutung des Blutes wünschenswert gewesen. Ich hoffe aber, dass trotzdem genügend Anregungen zu diesen Bereichen in meinem Buch enthalten sind. Zu danken habe ich den Patienten, die mir großzügig am Beginn ihrer Behandlung pauschal die Erlaubnis gaben, evtl. Bereiche ihrer Psychodynamik anonymisiert für Veröffentlichungen zu verwenden, ohne zu wissen, ob es denn dazu kommen würde. Ich danke auch wieder Bianca Grüger für die unermüdliche Energie, mit der sie die sich verändernden Fassungen des Manuskripts in den Computer eingegeben hat. Mathias Hirsch Ehwendl-Hütte, Hinterreute (Allgäu)

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Körperdissoziation

Der Körper existiert in unserem Bewusstsein in einer merkwürdigen Doppelstellung: Einerseits gehört er wie selbstverständlich zu unserem Selbst, d. h. zu dem, was wir als unser gesamtes Selbst empfinden und wie es psychisch als Vorstellung repräsentiert ist. Andererseits tritt er uns gegenüber als ein Objekt der Außenwelt, als gehöre er nicht zum Selbst und habe ein gewisses Eigenleben. Meist wird er gar nicht bewusst wahrgenommen, er wird wie ein ständiger, stiller Begleiter erlebt, es sei denn, er macht sich auf die eine oder andere Art bemerkbar. Erst wenn er schmerzt oder juckt, erhält er größere Aufmerksamkeit (Szasz 1957) und wird gerade dann als ein vom Selbst getrenntes Objekt (fast verwundert) wahrgenommen. Natürlich auch dann, wenn seine Funktionen gestört sind, wenn er gar mehr oder weniger ernsthaft erkrankt ist oder unmissverständlich an das Ende des Lebens gemahnt. Ist der Körper krank, beeinträchtigt er das ganze Selbst, nähert er sich dem Tode, nimmt er das Selbst unweigerlich mit. Natürlich gibt es auch angenehme Körperzustände, die die Aufmerksamkeit auf ihn lenken, wohlige Körperentspannung, ein gutes Essen, das berühmte Wohlgefühl in der Badewanne oder unter der Dusche, das sich in lautem Singen Luft macht. Auch die Abwesenheit eines Schmerzes, an den man sich schon gewöhnt hatte, erregt Aufmerksamkeit, ganz ähnlich wie eine Uhr, die plötzlich stehen bleibt, Beachtung findet, während man vorher ihr Ticken gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Die Unterscheidung von Leib und Körper – Leib, der ich bin, und Körper, den ich habe – ist uns geläufig.