Untitled

Die Stadt ist dunkel. Scheinwerferstrahlen geistern über den Himmel. ... Leuchtraketen vom Himmel. ›Christbäume‹ ... Vater ist auf Front-Urlaub. Hält Christ-.
258KB Größe 3 Downloads 62 Ansichten
Christoph Hilsberg

Zwischen Licht und Finsternis Auf den Spuren eines Kindes in der Kriegs- und Nachkriegszeit 1934 bis 1953 Erzählung

Kinder erleben anders

Erinnerungen und Resümee eines Jugendarztes 2016

Beitrag zum Dialog der Generationen

Gewidmet meinem Enkel Troy Fridolin Martin

Erzählt allen Enkeln und Urenkeln

Leitsätze

»Das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat's nicht ergriffen ...?« (Zit. Anfang des Johannes-Evangeliums)

»Der Freund des Gespräches ist der Freund des Friedens« (Zit. Bundespräsident Richard von Weizäcker)

Inhalt Das Licht in der Finsternis … .................................................. 8 Erinnerungen für die Zukunft ............................................... 17 1953: Ende einer Kindheit .................................................... 26 Fahrt mit Kindern zu den Wurzeln der Familie in Schlesien .. 33 Kritische Erinnerungen ......................................................... 55 Nur Kindheitsstorys? ............................................................ 80 Kulturstadt Görlitz: Neue Erfahrungswelten ....................... 100 Hineinwachsen in Werte und kritische Fragen .................... 105 Schule, Freunde und Mutters Heilmethoden ...................... 127 »Da fragt mal eure Eltern ...« ............................................. 140 Berlin 1941/42: Kinder erleben anders ............................... 158 Evakuierung Berlins ............................................................ 182 Die Uhr .............................................................................. 186 Die Psyche und der positive Stress ..................................... 194 Vergiftete Kinderseelen ...................................................... 203 Leben, um zu überleben .................................................... 205 Ferien vom Krieg ................................................................ 208 Wintergewitter................................................................... 211 Deutsche Kindersoldaten ................................................... 214 Satanische Muster eines geadelten Marschalls ................... 216 Flucht vor der Roten Armee ............................................... 231 Das Leben ist voller Überraschungen ................................. 239 Dorfidylle mit biblischer Plage im ›Schwabe-Ländle‹........... 242 Der Zusammenbruch ......................................................... 249 Der lange Marsch von Württemberg nach Oberfranken .............................................................. 253 Landleben von Flüchtlingen ............................................... 257 Wälder ... ........................................................................... 262 Back to Berlin! .................................................................... 276 Die Wende kam mit dem Postboten .................................. 319 Die chlorierte City .............................................................. 324

Der Schwarzmarkt und das Kaffee-Studium ....................... 333 Währungsreform, Blockade und Airlift ............................... 336 1949: Ein Jahr, das Geschichte schrieb ............................... 358 Klassentreffen .................................................................... 380 Zum Dialog der Generationen ............................................ 411 Was haben wir Erwachsenen heute unserer Jugend zu bieten? .............................................................. 416

DAS LICHT IN DER FINSTERNIS …

B

ilder von Syrien flimmern über den Bildschirm.

Die Kulturstadt Aleppo: Ein schrecklicher Trümmerhaufen. So sah Berlin 1945 aus. Ebenso wie sämtliche größeren Städte in Deutschland. ›Platt gemacht.‹ Zerstörung pur. Viele Menschen starben noch immer, verhungert und erfroren. Wie heute in Syrien. Jugendliche fragten heute: »Wie konntet ihr in solcher Not Weihnachten feiern?« Als Antwort erzählte ich ihnen diese Geschichte. Der Martin heißt eigentlich Christoph Martin. Es ist meine Geschichte:

8

Lux lucet in tenebris Das Licht, ein Licht oder nur Licht leuchtet in der Finsternis. Ein Unterschied, den die lateinische Sprache nicht kennt. Aber welch ein Unterschied in der Wirklichkeit! Weihnachten 1947. Berlin. Stockdunkel ist die Nacht. In tiefster Finsternis liegt die Stadt. Oder das, was noch von ihr übrig ist. Strom gibt es nicht. Eisiger Winterwind pfeift durch die Wohnung. Eigentlich ist es gesperrt, das Haus Saldernstraße 2 in Charlottenburg, an der Kaiserdammbrücke. Einsturzgefahr. Martin hockt im 3. Stock im einzigen beheizbaren Raum auf dem Fußboden. Vor Petschka, dem kleinen Kanonenofen. Petschka heißt das Öfchen auf dem russischen Bilderlotto, das seine Schwester für ihn im Vorjahr zu Weihnachten irgendwie ergattert hatte. Seitdem nennen sie alle das Öfchen liebevoll Petschka. In den Fensterhöhlen schlappen im Wind knallend zusammengenähte Röntgenfilme. Ein Tipp der Trümmerfrauen für Mutter. Scheibenersatz. Gespenstisch, das Geräusch. Ein Luxus, den nicht viele haben. Das Ofentürchen steht offen. So hat er Licht, der Junge. Lux lucet. Für Schularbeiten auf dem Fußboden. Oder jetzt zum Basteln. Weihnachten steht vor der Tür. Einen Christbaum hat Vater vom Friedhof mitgebracht. So haben sie tatsächlich auch in diesem Jahr einen richtigen Baum! Einen Christbaum! Groß! Bis zur Decke hoch. Vom Friedhof! Auch das Holz, das im Öfchen knistert und versucht, Wärme zu spenden, stammt vom Friedhof. Und im Sommer und Herbst: Da hatten sie Gemüse. Vom Friedhof. Es wuchs dort vorzüglich. Tod und Leben gehören zusammen. So ist das 9

wohl. In dieser Zeit. Leben aus dem Tod. Christus am Kreuz. Dann die Auferstehung. »Davon leben wir«, sagt Vater. Aber jetzt wird erst mal das Kind geboren. Weihnachten 1947. Der 13-Jährige nimmt seine Zeit als Konfirmand seines Vaters ziemlich ernst. Martin hält ein leeres Tablettenröhrchen in der Hand. Auf der Spitze von Mutters Stricknadel hat er den Wollfaden befestigt. Hält ihn gestreckt in das Röhrchen. Gießt geschmolzenes Wachs der plumpen Kellerlichte hinein. Woher wohl Mutter die dicken Kellerlichte hatte? Auch von den Trümmerfrauen? Mutter kann richtig zaubern. Kleine Kerzen gießt Martin daraus. Der Weihnachtsbaum braucht Lichter. Lametta haben sie noch. Auch selbst hergestellt und aufbewahrt. Aber vor Jahren schon. Aus Staniolstreifen, die amerikanische Bomber bei Angriffen auf die Stadt zur Irritation der aufkommenden Radarabwehr über Berlin abgeworfen hatten. Die Jugendlichen hatten sie aufgelesen. Auch Granat- und Bombensplitter hatten sie gesammelt. Zum Tausch in der Schule. Wie Briefmarken. Im Sommer bereits hatten sie Stroh vom Ährenlesen auf den Feldern mitgebracht. Für Sterne am Christbaum. So haben sie eigentlich alles, was sie brauchen. Für Weihnachten. Zum Feiern: einen Baum, Kerzen, Sterne, Lametta. Der Baum wird strahlen! Martins Augen leuchten. Nicht nur Lux lucet. Singen können sie selbst. Mehrstimmig meist. ›Gelobet seist du, Jesu Christ‹. Oder ›Ich steh an deiner Krippen hier‹, den tollen Satz vom Thomaskantor. Sehnsüchtig möchte Martin mit Vater mal den Bass singen. Aber er steht noch im hellen Sopran. Wann kommt denn endlich die Pubertät? Spätzünder! Gestern waren die Thomaner in der Ma-

10

rienkirche. Peter Schreier hieß der Soloknabe. Toll hat er gesungen mit seiner hellen, glasklaren Stimme. Später wurde er einer der berühmtesten Sänger. Am Weihnachtsabend wird Martin in der Familie die Weihnachtsgeschichte aufsagen müssen. Als jüngster der sechsköpfigen Familie. Er muss sie nur noch wieder lernen. Martin grinst in sich hinein. Die Geschwister hoffen, dass er nicht stecken bleibt. Sonst müssen sie helfen. Das kann peinlich werden. Zumal Vater dies Jahr einen alten Mann aus der Gemeinde mitbringt. Der allein ist. Seine Frau starb vor zwei Wochen. Vater bringt öfter fremde Menschen mit. Nette. Und solche, die riechen. Ihnen soll auch das Licht leuchten … An diesem Weihnachtsfest ist die Familie erstmalig nach dem Krieg wieder beisammen. Alle sind sie wiedergekommen! Wie durch ein Wunder. Wieso nur ›Wie durch ...‹? Ist es denn kein Wunder? Der Vater aus Gefangenschaft der Amerikaner; die älteste Schwester, Annerose, Medizinstudentin, als Lazaretthelferin von den Nazis nach Italien verschleppt, aus der Gefangenschaft der Amerikaner; der Bruder, Peter, kaum 14 damals, zum Volkssturm gegen die Russen eingezogen. Der russische Kommandant des Gefangenenlagers hatte ihn als Kind nach Hause geschickt. Hatte das Licht auch dem Russen geleuchtet? So war Peter gelaufen, 300 oder 400 Kilometer. Nach Hause. Dort war das Nest leer. Alle weg. Auf der Flucht. Wohin? Fremde Leute hatten ihn aufgenommen. Mutter, Martins andere Schwester Barbara und Martin selbst auch auf der Flucht. Vor den Russen. Wie viele Bomben- und Tieffliegerangriffe mögen es gewesen sein? Die Hölle von Dresden. Tagsüber noch wunderschön.

11

Eine heile Stadt! Nichts zerstört. Doch dann die Nacht. Martin schaudert’s. Lux lucet. Auch eine Feuersbrunst leuchtet. Das ist aber wohl nicht gemeint. Oder doch? Überlebt. Sie haben überlebt. Warum eigentlich? Auch Tausende von Kindern starben in der einen Nacht. Und am nächsten Vormittag. Über Berge von Leichen mussten sie klettern. Als SSLeute sie aus dem Keller retteten und durch Flammen nach draußen warfen. Die Schreienden einfach durch die Flammen schleuderten. Ausgerechnet SS-Leute. Darf man das heute überhaupt sagen? Gerettet! Dann draußen im großen Garten sah Martin plötzlich den Mann quer vor ihnen laufen, groß, schlank, im dunklen Mantel. »Folgt mir nach! Wir müssen zur Elbe!« Wie eingestanzt weiß Martin das noch. Nach Stunden im Inferno hin und her führt der Mann sie an die Elbe. Dort ist er plötzlich weg, verschwunden. Einfach weg. Eigentlich redet Martin nicht gern darüber … Aber es bewegt ihn sehr! Bis auf den heutigen Tag. Manche Ereignisse lassen einen Menschen nie wieder los. Martin erwacht aus seinen Gedanken, zündet eine Kerze am Feuer von Petschka an, stellt sie davor, auf den Fußboden, schließt das Ofentürchen. Lux lucet in tenebris. Wieder verfällt der Junge seiner Vergangenheit. Weihnachten! Wie sich Lichter ändern können: Weihnachten 1943. Fliegeralarm. Die Stadt ist dunkel. Scheinwerferstrahlen geistern über den Himmel. Suchen feindliche Flugzeuge. Plötzlich bündeln sich alle Strahlen an einem Punkt. Dort glitzert ein Flugzeug. Wie eine riesige Glocke bündeln sich die Strahlen der Scheinwerfer über der Stadt, ein Licht-Dom. Wunderschön sieht er aus. Flaks bal-

12

lern sofort los. Wie Zielscheibenschießen. Als der Bomber getroffen in die Tiefe trudelt, freuen sich alle, die das sehen. Dort stirbt gerade ein Feind. Aber dann fallen Schwärme von Leuchtraketen vom Himmel. ›Christbäume‹ nennen die Berliner sie. Faszinierender Anblick. Doch jeder weiß, gleich kommen die Bomben. Abhauen! In die Keller. Lux lucet. Das sind doch so viele Lichter, also luces lucent. Schließlich lernt Martin doch Latein. Sie leuchten. Die Lichter. Aber wohl nicht biblisch. So ist das. Wenn Menschen das Lux nicht ergreifen … Und sich freuen, wenn Feinde … Weihnachten 1944. Görlitz. Evakuiert vor den Bomben. Zu den Großeltern. Vater ist auf Front-Urlaub. Hält Christnachtsgottesdienst in der Peterskirche. Dem gotischen Dom hoch über der Neiße. Herrliche, riesige, echte Christbäume stehen neben dem Altar. Auf dem Heimweg zucken Lichter am Horizont. In der Finsternis. Blitze? Am Abend dumpfes Grollen. Klingt wie Donner. Die Scheiben klirren. Wintergewitter? Oder sind’s doch schon die Kanonen der Russen, die näher kommen? Weihnachten 1945. Nach der Flucht. Gestrandet in Oberfranken. Der Krieg ist vorbei. Der schönste Baum, den sie jemals hatten. Selbst geklaut im Wald. Von Peter und Martin. Die Eltern waren von Bayern über die verbotene Grenze in die russische Zone mehr gelaufen als gefahren, um ihren Jungen zu suchen. Und hatten ihn gefunden. Über die Grenze gebracht. Nach Franken. Unter Lebensgefahr natürlich. Denn die russischen Grenzposten schossen sofort. Nur wenige Kerzen brannten damals auf der Tanne. Aber die leuchteten toll!

13

Weihnachten 1946: Wieder Berlin. Ruinen, Ruinen, Ruinen. Gespenstische Dunkelheit. Keine Scheinwerfer, keine Christbäume vom Himmel. Aber viele Kerzen in den verbliebenen Fensterhöhlen. Zum Gedenken an verschollene, fern gefangene, verschleppte Soldaten. Und auf der Flucht verlorene Verwandte und Freunde. Eine ganze Stadt zerstört, im Dunkeln. Nur erleuchtet von tausenden Kerzen in den Fenstersimsen. Zum Gedenken an andere! Luces lucent in tenebris! Martin schaut versonnen in die Kerze vor dem Öfchen. Plötzlich wird er aus seinen Träumen gerissen. Die Geschwister kommen. Die Eltern kommen. Sehen ihn Kerzen gießen. Kreativität ist ansteckend. Nun singen sie wieder. Vierstimmig. Auch beim gemeinsamen Basteln kleiner Geschenke. Winzige Gaben, aber doch so riesig. Für seine Schwester hat Martin einen Radiergummi ergattert. Eingetauscht für einen Kaugummi aus einem Paket wildfremder Leute aus – o Gott, wie hieß das komische Land? Mas-sa-chu-chetts? »Massachuchetts«, sagt Mutter. Nie gehört. Wo das wohl lag? Hinter dem großen Teich! Wieso schicken ehemalige Feinde Pakete? An uns! Sie kennen uns doch gar nicht. Aber sie schicken. Pakete. Wildfremde Menschen. Zum Überleben. Damit wir überleben! Während noch immer viele Menschen in Berlin sterben. Täglich listet der Tagesspiegel sie auf: Gleich auf der ersten Seite. Die Toten: ›Verhungert und erfroren sind …‹ Oder schließlich: ›Die üblichen Toten‹. Lange Reihen. Da ist sie wieder, die Frage wie nach Dresden: ›Wieso wir nicht?‹ … Neulich hatte Barbara geweint. Weil sie für ihre schöne Zeichnung keinen Radiergummi hatte. Martin hat einen für sie. Einen Schatz! Einen Luxus! Sie darf es aber noch nicht wissen! Martin freut sich riesig auf das Fest. Weil seine Schwester sich freuen wird. Über den Radiergummi! 14

Lux lucet. Als er vor einem Jahr Kerzen gebastelt und die vier Worte »Lux lucet in tenebris« fröhlich seinem Vater zugerufen hatte, hatte der ihn lange angeschaut. Und ihn schließlich leise eindringlich gefragt:

»Weißt du eigentlich, dass du mit diesen vier Worten die ganze Botschaft verkündest?« Wenn Vater Wichtiges zu sagen hat, wird er meist ganz leise. Aber er hatte eben noch mehr gesagt: »Übersieh den zweiten Halbsatz nicht: ›… und die Finsternis hat’s nicht ergriffen!‹« Seitdem lässt Martin auch das nicht mehr los. Weihnachten 1947: Endlich kommt der Heilige Abend heran. Sie gehen gemeinsam zum Christnachtsgottesdienst. Vater hat zwei Gemeinden in Berlin-Mitte als Pastor zu hüten. Als Hirte. Neben der Charité. Die Kirchen sind zerstört. Der Medizinprofessor der Charité stellte seinen Hörsaal für Gottesdienste zur Verfügung. Der Saal ist überfüllt. »Immer, wenn Menschen in Not sind«, sagt Vater, »suchen sie den lieben Gott.« Unter der Decke über dem Altar hängen Bilder menschlicher Skelette und Eingeweide. Martin muss grinsen: Hängen sie zum Studium bei langweiligen Predigten dort? Arzt sein, helfen können, muss toll sein. Der Junge hat es oft erlebt. Die Gemeinde reißt den Jungen aus seinen Gedanken. Sie singt. Mehrstimmig! Vater singt vom Altar her den Bass. ›Das ewige Licht geht da herein – gibt der Welt einen neuen Schein‹. Dann liest der Vater zum Schluss seiner Predigt noch einmal den Text, schaut auf seinen Sohn und sagt: »Das Licht 15