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Dass es für Micky und mich ein Opfergang war, das wusste unsere Mutter, davon bin ich überzeugt. Aber nichtsdestotrotz… Und so mussten wir uns als Kinder Predigten anhören, mit denen wir zu dieser Zeit nicht viel anfangen konnten. Zum Beispiel dass wir ein tugendhaftes Le- ben anstreben sollten. Und dass es doch ...
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Noa Winter

Libellenträume Roman

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© 2017 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2017 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: fotolia: Bright autumn background with yellow leaves in a glass jar. Datei: 118919386, Urheber: annamei Printed in Germany Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck

ISBN 978-3-8459-2204-1 ISBN 978-3-8459-2205-8 ISBN 978-3-8459-2206-5 ISBN 978-3-8459-2207-2 Mini-Buch ohne ISBN

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Prolog Manchmal kommt der Mensch an einen Punkt in seinem Leben, an dem man sich fragt: Warum ich? Wieso? Ich war nie ein Mensch, der von Grund auf vorsätzlich Böses getan hat. Sicher, als Mann hat man hier und da Reibereien und Anfeindungen zu verkraften. Man prügelt sich sogar. Jugendsünden eben. Man spielt auch Streiche, sogar richtig miese. Vielleicht wünscht man einem Konkurrenten mal hier und da in einem kurzen Moment der Raserei Durchfall, kein Klopapier und viel zu kurze Arme an den Hals. Aber jemandem wissentlich und willentlich etwas Böses zu wollen, so etwas war mir niemals in den Sinn gekommen. Doch das Leben hat eben oft einen anderen Plan. 4

Sicher, ich war nie ein großer Kirchgänger gewesen. Zu viel Heuchelei hat man einfach im Laufe des Lebens mitbekommen. Das begann schon als wir noch Kinder waren, Micky und ich. Großmutter hatte uns bei den Besuchen bei ihr immer eingebläut, ein redsames Leben zu führen, während sie am Herd ihrer kleinen Küche mit der niedrigen Decke und den urigen dunklen Schränkchen stand und ihre berühmte Flädlesuppe zubereitete und wir am gedeckten Tisch saßen. Großvater war schon lange nicht mehr unter uns gewesen, den sie hatte bevormunden können. Also waren nun wir, zwei ihrer insgesamt fünf Enkel, diejenigen, die daran glauben mussten. Gut, das taten wir mehr oder weniger gerne, da wir nur einmal in der Woche bei ihr waren. 5

Es ist die Familie, hatte uns Mom eingetrichtert. Da geht man hin. Man weiß ja immerhin nicht, wie lange Oma Inge noch lebt. Dass es für Micky und mich ein Opfergang war, das wusste unsere Mutter, davon bin ich überzeugt. Aber nichtsdestotrotz… Und so mussten wir uns als Kinder Predigten anhören, mit denen wir zu dieser Zeit nicht viel anfangen konnten. Zum Beispiel dass wir ein tugendhaftes Leben anstreben sollten. Und dass es doch so viele böse Menschen auf der Welt gibt, die vorne rum Gutes redeten, aber dann still und heimlich Schlechtes taten. Dass sie sich selbst als eine solche Person herausstellte, wussten wir zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht. Zu groß war die Angst vor einem erzürnten Gott, der uns kleine Sünder auffressen würde, wenn wir nicht anständig wären. 6

Verständlich vielleicht, dass meine Lust, eine kalte, wenig herzlich anmutende Kirche zu besuchen, sich sehr in Grenzen hielt. Als sich unsere Eltern dann scheiden ließen als meine Schwester und ich grade mal 8 und 10 Jahre alt waren, verlor ich einen Teil meiner Identität. Das schlimmste war, dass sie uns trennten. Mom nahm Micky mit sich als sie auszog. Dad und ich blieben zurück. In einem großen leeren Haus, das viel zu riesig zu sein begann und in dem die Stille so laut wurde, dass es wehtat. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem die beiden wichtigsten Frauen unseres Lebens auszogen. Es war ein freundlicher Frühherbsttag gewesen, hier, mitten im verschlafenen BadenWürttemberg, das vor allem für den Weinbau bekannt ist. Und natürlich auch für Porsche und Mercedes. Bis auf die großen Ballungs7

zentren ist die ländliche Gegend mehr als romantisch. Mittelalterliche Dörfer, Burgen, ja sogar Schlösser liegen verstreut in der meist übersichtlichen Ebene. Wir wohnten in Ingersheim, eine kleine Gemeinde etwa zwanzig Minuten von Stuttgart entfernt. Vater verdiente so gut, dass wir ein eigenes Haus hatten. So hatten wir auch einen angrenzenden Garten, in dem wir Kinder immer gerne Verstecken spielten oder ein Baumhaus bauten. Die Vögel saßen an diesem Nachmittag immer noch in den Ästen der Bäume, so als wollten sie noch ein paar letzte Lieder in die kühlere Luft singen, bevor sie das Land verließen. Die Sonnenstrahlen am blauen Himmel waren nicht mehr so warm wie einst, aber sie kitzelten immer noch wohlig auf der Haut. Micky und ich saßen hinten im Garten unter der großen Trauerweide am Tisch und spielten gerade Rommé als sie begannen zu streiten und dabei immer lauter zu werden. 8

Erst waren die Stimmen zischend, beißend wie Gift hinter den gekippten Küchenfenstern zu hören. Dann wurden sie lauter, eindringlicher. Micky und ich sahen uns kurz an. Sie streiten ja schon wieder, hatte sie fast beiläufig mit ihrer weichen Stimme gemurmelt und nicht einmal von ihren Karten aufgesehen. Wir hatten uns an die Zwistigkeiten gewöhnt. Aber es wurde nicht mehr leiser. Im Gegenteil. Ihre Stimmen wurden bedrohlich laut. Micky und ich legten die Karten verdeckt auf den Tisch und sahen uns an. In ihren großen grünen Augen standen blanke Angst und Panik. „Tom… wieso hören sie nicht auf zu schreien?‚ Ich wollte antworten, ihr sagen, dass es gleich wieder vorbei wäre und sie sich sicher9

lich bald beruhigen würden, aber der Kloß in meinem Hals, der sich bildete, drohte mich schier zu ersticken. „Tom, sag doch was‚, kam es mit zitterndem Stimmchen. „Ich… ich weiß es nicht, Micky.‚ Hilflosigkeit. Drinnen klirrten Gegenstände. Schimpfwörter fielen. Erneutes Klirren. Wir standen synchron auf, ich nahm sie bei der Hand. „Micky, egal, was passiert, ich verspreche dir, dass ich immer für dich da bin und dich beschützen werde.‚ Sie sah mich an, die jadegrünen Augen angstgeweitet, ihr rötlich schimmerndes blondes Haar, das zu einem langen Zopf gebunden war, schwang nervös mit dem Kopf mit. Und dann kam unsere Mutter nach draußen. Ich werde den Ausdruck in ihrem Gesicht niemals vergessen. 10

Zuerst dachte ich, sie sei jemand anderes. Sie hatte die Stirn in Falten gezogen, zwischen den schön geschwungenen dunklen Brauen, die perfekt zu ihren schulterlangen braunen Haaren passten, hatten sich zwei tiefe Zornfalten gebildet. Ihre Nasenflügel bebten verdächtig und ihre grünen Augen mit den sonst so sympathischen Lachfältchen quollen über vor stillen Schreien. Sie sah uns an, wahrscheinlich konnte sie uns wegen der Tränen gar nicht richtig erkennen, vermutete ich. Ihre Lippen bebten, dann presste sie sie aufeinander. Sie schien genauso panisch und überfordert mit der Situation wie meine kleine Schwester und ich. Doch dann fand sie schließlich Worte.

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„Michaela, pack dir ein paar Kleider ein, dein Waschzeug und dein Lieblingsspielzeug. Wir werden jetzt gehen.‚ Micky sah panisch zwischen uns beiden hin und her. „Was? Wohin denn? Ich will aber nicht weg von Zuhause!‚ Mutter sah sie eindringlich an und ihre Stimme duldete keinerlei Widerspruch. „Du packst jetzt deine Sachen in den Rucksack und hör auf zu meckern.‚ Micky fuhr den letzten Trumpf auf, den sie hatte und der eigentlich immer zog – weinen. Sie schlug die zierlichen Hände vors Gesicht und fing an, herzzerreißend zu schluchzen. Aber dieses Mal schaffte sie es nicht. Es war zu spät. Moms Blick wanderte zu mir und ich verstand, dass sie ihre Entscheidung unwiderruflich getroffen hatte. „Thomas… dein Vater und ich werden uns scheiden lassen. Ich wer12

de ausziehen, aber ich kann dich leider nicht mitnehmen…‚ Ich nickte langsam, während der Kloß immer unerträglicher wurde und mein Hals zu schmerzen begann. „Ich kann nur für einen von euch beiden sorgen.‚ Ich brachte immer noch kein Wort über die Lippen. Sie zog mich in ihre Arme und drückte mich fest an sich. „Es tut mir leid.‚ Mein Körper war steif wie ein Brett in ihrer Umarmung. „Es tut mir so leid, Tom.‚ Es tat ihr nicht leid, schoss es mir durch den Kopf. Es tat ihr nicht leid. Sonst würde sie uns das nicht antun. Mom ließ mich wieder los und packte Mickys Handgelenk, um sie mit sich ins Haus zu zer13

ren, während meine Schwester zu hyperventilieren drohte. Ich stand da und sah zu wie sie über die hölzerne, knarrende Veranda ins Haus verschwanden. Ich wollte mich regen, ihnen hinterherlaufen, sie aufhalten, aber wieder hielten mich die Machtlosigkeit und Ohnmacht davon ab, irgendetwas zu tun. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit verging, da jegliches Zeitgefühl von mir gewichen war. Ich hatte ein unerträgliches Rauschen in den Ohren. Das Zwitschern der Vögel war verstummt. Das Pochen meiner pulsierenden Adern jedoch nicht. Meine Wangen waren heiß wie Feuer, ja sie brannten gänzlich. Dann… irgendwann hörte ich die Haustüre vorne zuschlagen. 14

Micky rief meinen Namen aus voller Kehle. Ihre sonst so sanfte Stimme klang nun schrill, es tat fast weh in meinen Ohren. Und plötzlich fand ich wieder die Kontrolle über meine Beine. Ich fand mich durch den Garten nach drinnen rennend, durch das Wohnzimmer hinaus in den Flur bis nach draußen vors Haus. „Mama! Micky!‚ Mom schob meine Schwester ins Auto auf die hintere Bank, ich sah noch ihr rosarotes Kleid mit den Blumenmustern, bevor die Autotür zugeknallt wurde. Micky schlug ihre Hände gegen die Scheibe. „Nein! Ich will nicht weg! Tom!‚ Ich warf mich meiner Mutter an den Rücken und begann, sie anzuflehen zu bleiben und schrie, es würde bestimmt alles wieder gut werden.

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