Unpolitische Wissenschaft?

pieverfahren und der biologisch-naturwissenschaftlichen Psychiatrie. ..... Befunde« (Ernest Jones, 1949) als Ketzerei und die politische Aktivität in »linken«.
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Andreas Peglau

Von der Krankenbehandlung ausgehend, entwickelte sich Freuds Lehre zu einer Möglichkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen – und zu verändern. Dieser gesellschaftskritische Anspruch wurde während des Nationalsozialismus weitestgehend in den Hintergrund gedrängt. Die nachhaltigsten Weichenstellungen zu einer »unpolitischen« Psychoanalyse erfolgten in den 1930er Jahren und waren eng verbunden mit dem Versuch, Konfrontationen mit dem NS-Regime zu vermeiden. Dass die Al-

ternative einer aufklärerischen Psychoanalyse weiter bestand, zeigt das Wirken Wilhelm Reichs, der 1933/34 aus den analytischen Organisationen ausgeschlossen wurde. Anhand von teils erstmalig veröffentlichtem Archivmaterial geht der Autor Reichs Schicksal nach und folgt den Entwicklungen im analytischen Hauptstrom während der NS-Zeit. Dabei beantwortet er auch die Frage, ob die Psychoanalyse jemals eine unpolitische Wissenschaft war.

Andreas Peglau

Unpolitische Wissenschaft?

Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Andreas Peglau,Dr. rer. medic., Diplom-Psychologe, ist seit 2008 Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin. 1990 gründete er die Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse e.V. 2013 Promotion am Institut für Geschichte der Medizin der Charité Berlin. Interessengebiete: Psychoanalyse und Gesellschaft, Psychoanalysegeschichte.

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Andreas Peglau Unpolitische Wissenschaft?

D

as Anliegen der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft sowie als klinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und der kritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden. Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert: Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wie beispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, Siegfried Bernfeld, W. R. D. Fairbairn, Sándor Ferenczi und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der von Zersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen weiteren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung. Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahren hat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Bezüge vernachlässigt. Indem der Dialog mit den Nachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Die Psychoanalyse steht in Konkurrenz zu benachbarten Psychotherapieverfahren und der biologisch-naturwissenschaftlichen Psychiatrie. Als das ambitionierteste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich die Psychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer TherapieErfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigene Kriterien und Verfahren zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse. Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigen kann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potenzial besinnt.

Bibliothek der Psychoanalyse Herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth

Andreas Peglau

Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus Mit einem Vorwort von Helmut Dahmer

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Die vorliegende Studie wurde von der Medizinischen Fakultät Charité – Universitätsmedizin Berlin im September 2012 als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde das Manuskript überarbeitet und ergänzt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2. durchgesehene und korrigierte E-Book-Ausgabe 2014 © der Originalausgabe 2013 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 -969978-19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Foto der Berggasse 19 in Wien (Wohn- und Arbeitsstätte Sigmund Freuds vor seiner Emigration nach London) zur Zeit der NS-Herrschaft Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Wetzlar www.imaginary-world.de ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2097-0 ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6599-5

Inhalt

Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik

11

Vorwort von Helmut Dahmer Einleitung

19

1 Vorspiele

41

1.1

Frühe Prägungen

41

1.2

Reich in Wien

42

1.3 Sexualerregung 1.3.1 Bilaterale Beziehungen 1.3.2 »Schundkampf« 1.3.3 Sieg in erster Instanz: Das Verfahren vor der Berliner Prüfstelle 1.3.4 Niederlage in Leipzig: Die Verhandlung vor der »Oberprüfstelle« 1.3.5 Psychoanalyse und Sexualwissenschaft 1.3.6 Unerwarteter Beistand

57 58 61 64 67 70 72

1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4

73 80 84 91

Reich in Deutschland 1930 bis 1933 Gegen den Paragrafen 218 Die Marxistische Arbeiterschule MASCH Die Massenorganisationen der KPD Die Einheitsverbände für proletarische Sexualreform und Mutterschutz

92 5

Inhalt

1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.8 1.4.9 1.4.10 1.4.11 1.4.12 1.4.13 1.4.14 1.4.15

Weitere EV-Aktivitäten: Sexualberatung und die Warte Massenorganisation oder »kleine Splittergruppe«? Parteiinterne Spannungsfelder Der sexuelle Kampf der Jugend Der Einbruch der Sexualmoral Für und wider den Todestrieb Der Masochismus-Artikel: Reichs Freud-Widerlegung Freud und der Kommunismus Psychoanalyse in der Sowjetunion Eskalation in der KPD Diffamierungen von »rechts«

103 108 115 117 123 127 130 137 141 146 158

1.5

Ein letztes Mal Wien

161

2

Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus

167

2.1 Bücherverbrennung 2.1.1 Die »Feuersprüche« 2.1.2 Mögliche Inspiratoren 2.1.3 Der 10. Mai 1933 Reichs möglicherweise verbrannte Bücher 2.1.4

167 169 171 174 179

2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten 2.2.1 Zensoren Die Kriterien und ihre Anwendung 2.2.2 2.2.3 Opfer 2.2.4 Umsetzung

181 181 188 194 202

2.3

Publikationsverbote II: Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«

205

2.4

Publikationsverbote III: Weitere Zensurinstanzen

212

2.5

Hauptbetroffene der NS-Bücherverfolgung

214

2.6

Reichs verbotene Schriften

216

6

Inhalt

2.7

Gab es psychoanalytische Schriften, die sich offen gegen den Faschismus wandten? Eine Suche

221

2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus 2.8.1 Vorerfahrungen 2.8.2 Inhalt 2.8.3 Reaktionen

241 241 247 259

2.9 2.9.1 2.9.2 2.9.3 2.9.4 2.9.5

Trennung von der Psychoanalyseorganisation Gefährdetes Exil Der Luzerner IPV-Kongress Reichs biologische Experimente Diagnose als Waffe Allmähliches Ausblenden

268 268 270 274 276 280

2.10

Reich und die »Linke« zwischen 1933 und 1939

285

2.11

Das Ende der Sex-Pol-Bewegung

296

2.12

Ausweisung, Observierung

302

2.13 Ausbürgerung

303

2.14

312

Reich als »Hochverräter« und »jüdischer Pornograph«

Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen 2.15.1 Was ist (noch) Psychoanalyse? 2.15.2 Veröffentlichungen von (ehemaligen) DPG-Mitgliedern 2.15.3 Das Zentralblatt für Psychotherapie 2.15.4 Das Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 2.15.5 Zwei medizinische Wochenschriften 2.15.6 Der Völkische Beobachter und weitere Publikationen

319 320 323 362 375 378 381

3

Wilhelm Reich nach 1945

385

3.1

Zwischen Neuanfang und zweiter Bücherverbrennung – Reich in den USA

385

3.2

Realitätsblinder Sankt Wilhelm? Zum aktuellen Umgang mit Wilhelm Reich im Kontext der Psychoanalyse

399

2.15

7

Inhalt

3.2.1 Diffamierung 3.2.2 Abwertung 3.2.3 Beschweigen

399 403 405

4

Einordnungen und Erklärungen

409

4.1

NS-Funktionäre und Psychoanalyse

410

4.2

Freud über den Faschismus

416

4.3

Antifaschistisches Engagement

422

4.4

Das 1933er Memorandum

426

4.5

Hauptakteure, Protegés

429

4.6

»Neue deutsche Seelenheilkunde«

438

4.7 »Arisierung«

444

4.8

Zuarbeiten zur »Eugenik«

446

4.9

Tiefenpsychologische Kriegsführung

450

4.10

Geheimhaltung und Medienlenkung

452

4.11 Wissenschaftspolitik

455

4.12 Kulturrichtlinien

457

4.13

Sexualität im Dritten Reich

461

4.14

Die (nachlassende) Reflexion der Psychoanalyse

474

4.15

Das lange Schweigen der Analytiker

479

4.16 Unpolitische Psychoanalyse? 4.16.1 Psychoanalytiker und US-Geheimdienste 4.16.2 Freud und die Soziopolitik 4.16.3 Wiederholungen

486 486 491 497

5 Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz

501

Anhang

519

Dokumente und Abbildungen

521

8

Inhalt

Die wichtigsten Abkürzungen

573

Quellen und Literatur

575

1 Quellen

575

2

Literatur inklusive Nachschlagewerken und Texten von Webseiten

587

Personenregister

619

Vorschläge für Weiterführungen

633

9

Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik

Sigmund Freud, der der jüdischen Minderheit im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie angehörte, hatte sich vorgesetzt, auf dem Feld der naturwissenschaftlich orientierten Medizin seiner Zeit zur Lösung der »Welträtsel« beizutragen. Diese präsentierten sich dem jungen Arzt in Gestalt von eigentümlichen Leiden – Hysterien und Zwangsneurosen  –, für die es im Rahmen der Physiologie und Neurologie seiner Lehrer weder eine Erklärung noch eine Therapie gab. Im Verein mit Joseph Breuer fand er heraus, dass es sich bei den Psychoneurosen nicht um Erscheinungsformen einer verborgenen organischen Erkrankung handelt, sondern um »soziale Leiden«, nämlich um Nachwirkungen von in früher Kindheit erworbenen und in der späteren Lebensgeschichte erneuerten Traumen (»Kränkungen«), die sich, unbewältigt und unbewältigbar, weil aus der Erinnerung verbannt, in Gestalt befremdlicher Symptome – in Privat- oder Körpersprache formuliert – geltend machen. Breuer und Freud sprengten den Rahmen der naturwissenschaftlich-technischen Medizin ihrer Zeit, indem sie die befremdlichen hysterischen Phänomene (somatische Leiden ohne organischen Befund) nicht als »Simulationen« abtaten, sondern ihre Patientinnen (wie Bertha Pappenheim und Anna von Lieben) und Patienten als Partner und Auskunftsgeber ernst nahmen und sich auf einen anamnestischen Dialog mit ihnen einließen. Freud wurde darüber, wie vor allem seine Briefe an Wilhelm Fließ zeigen, von einem Objekt- zu einem Subjektwissenschaftler, genauer: zu einem Kritiker der »zweiten« oder Pseudonatur der lebens- und der sozialgeschichtlich konstituierten Institutionen. Mit der Entdeckung, dass die Übermacht der neurotischen Produktionen (oder »Privatreligionen«) der von der Domestizierungs-Kultur überforderten Individuen ebenso wie diejenige der kulturellen Institutionen vom Typus der etablierten Kollektiv-Religionen darauf beruht, dass deren Bildungsgeschichte vergessen (oder »verdrängt«) worden ist, wurde die Psychoanalyse zur Sozialwissenschaft. 11

Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik

Der Naturwissenschaft entwachsen, machte sie als Kritik von Pseudonatur Furore. Freud beharrte freilich darauf, auch (und gerade) das von ihm entwickelte Verfahren, das Rätsel von Institutionen zu lösen, die die (vergesellschafteten) Individuen einschränken und niederhalten, statt ihre Potenziale zur Entfaltung zu bringen, gehöre zur Naturwissenschaft. Dabei griff er auf einen umfassenden Begriff von »Naturwissenschaft« zurück, wie er sich etwa bei dem Renaissancephilosophen Francis Bacon findet, der (1620) schrieb, die Voraussetzung aller Naturforschung zum Wohl der Menschheit sei eine Kritik der »Idole«. Der Zusammenhang der Therapie, die darauf abzielt, »Neurotiker« wieder zu Autoren ihrer Lebensgeschichte zu machen, mit der in der Traumdeutung entwickelten neuartigen Psychologie des Unbewussten (also der »Metapsychologie«) und mit der Suche nach einer »Kultur, die keinen mehr erdrückt«, erschien den freudianisch orientierten Ärzten und Psychologen, die sich als Therapeuten in zunftmäßig organisierten Vereinen zusammengefunden hatten, alsbald wenig plausibel. Vor allem das Junktim von Therapie und Kulturkritik (das Verständnis der Therapie als einer praktischen Kulturkritik) galt ihnen – in der Ära der totalitären Bewegungen und Regime – als ein politisches Risiko und wurde stillschweigend fallengelassen. Die Therapie, als »Technik« verstanden – und als solche vermeintlich für die unterschiedlichsten »Zwecke« einsetzbar –, verselbstständigte sich allmählich gegenüber der sie fundierenden Freudschen Trieb- und Sprachtheorie. Freud selbst versuchte, die Psychoanalyse (als Theorie und Organisation) durch Neutralisierung aus dem europäischen Bürgerkrieg herauszuhalten. In den Jahren 1932/33 betonte er zum einen – in der letzten seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse – neuerlich deren antiideologisch-naturwissenschaftlichen Charakter und leitete zum andern den Ausschluss von Wilhelm Reich, dem Exponenten der »Freudschen Linken«, in die Wege. Dessen »Bolschewismus« (Freud) bestand im Wesentlichen darin, die Freudsche Kritik der Massenbindung und der religiösen »Rechtfertigung« sozialer Ungleichheit sowie Freuds Diagnose, die Menschengattung tendiere infolge von Trieb-Entmischung zu Genozid und Selbstauslöschung, »sexualpolitisch« zu reformulieren und mit einem entsprechenden Aktionsprogramm in den Kampf gegen die faschistische Massenbewegung einzugreifen. Soziologisch orientierte Reich sich am zeitgenössischen Partei-Marxismus, praktisch versuchte er, zeitweilig mit beträchtlichem Erfolg, die sozialistisch-kommunistische Jugendbewegung für sein »sexualrevolutionäres« Programm zu gewinnen. Gegenüber diesem Projekt, aus der Psychoanalyse politische Konsequenzen zu ziehen bzw. die Psychoanalyse zu politisieren, machte Freud Front, weil er darin (zu Recht) eine Gefahr für die bestehenden psychoanalytischen Organisationen sah. Gegen Reich (und dessen Anhänger und Sympathisanten) verbündete er sich mit Repräsentanten der DPG- und IPV-Mehrheit, die – wie in Deutschland Felix Boehm und Carl Müller12

Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik

Braunschweig – ihrem psychologistischen Verständnis der Psychoanalyse und ihrer politischen Orientierung nach der psychoanalytischen »Rechten« oder (wie Heinz Hartmann ) dem (orthodoxen) »Zentrum« der Bewegung angehörten. Im Hinblick auf die DPG glaubte Freud 1933 (und auch noch in den Folgejahren) an die – von Reich ausgeschlossene – Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen der nun als unpolitische Naturwissenschaft firmierenden und alsbald »arisierten« Psychoanalyse mit dem terrorgestützten, rassistischen Führerstaat und dessen humantechnischen Programm. Ideologen wie C. Müller-Braunschweig beeilten sich, um der Rettung der Psychoanalytiker-Organisation willen ihre therapeutische Technik in den Dienst der »nationalsozialistischen Erhebung« zu stellen. Vor dem kampflosen Sieg der Hitlerbewegung, der in den Folgejahren sowohl die psychoanalytische als auch die (revolutionäre) Arbeiterbewegung zum Stillstand brachte, hatten sich die Freudianer als eine liberale, philanthropische, sozialpädagogisch-pazifistische, therapeutisch aktive Interpretationsgemeinschaft verstanden und sich im Parteienspektrum am ehesten der reformistischen Mehrheits-Sozialdemokratie nahe gefühlt. Die kulturkritische Grundtendenz, der wissenschaftstheoretische Status und der politische Gehalt der Freudschen Therapeutik wurden ihnen erst gegen Ende der Weimarer Republik zum Problem. Die Stilisierung zu einer »Naturwissenschaft« (wie andere) und die Reklamierung politischer Neutralität ging zu Lasten der sozialistischen Minderheit der Organisation. Fortan galt die »soziologische Interpretation psychoanalytischer Befunde« (Ernest Jones, 1949) als Ketzerei und die politische Aktivität in »linken« Organisationen als unstatthaft, weil sie den Bestand der psychoanalytischen Vereine gefährde. Nahmen freudianische Therapeuten den Antiautoritarismus der »freien Assoziation« – des »Abbaus« des Über-Ichs (Ferenczi) – ernst und wollten ihm auch außerhalb der psychoanalytischen Kur Geltung verschaffen, wandten sie sich also gegen den politischen Status quo, dann drohte ihnen (wie Reich) Isolierung und Ausschluss. Kooperierten sie hingegen mit Instanzen des totalitären Staats und fanden sie sich bereit, ihr ärztliches Wissen zur Heilung von Funktionären, zur Bekämpfung von Regimegegnern (oder gar zur Eliminierung von Missliebigen) zur Verfügung zu stellen, dann verstanden sie sich als Spezialisten und glaubten, sie seien weder für die jeweiligen Zwecke, für die ihre Technik eingesetzt wurde, verantwortlich, noch für das humantechnische Rahmenprogramm des faschistischen Menschenfresser-Staats, der sie tolerierte, sofern sie auf Kritik und Widerstand verzichteten, der Freudschen Aufklärung abschworen und sich um ihre verjagten oder umgebrachten Kolleginnen und Kollegen nicht weiter bekümmerten. Die Auflösung des Zusammenhangs von Kulturreform, Metapsychologie und Therapie hatte die Isolierung der psychoanalytischen »Technik« und deren nachfolgende Indienstnahme durch den faschistischen Terrorstaat möglich gemacht; im Zuge des »Aufschwungs« der »arisierten« Psychotherapie(n) in den Vorkriegs- und Kriegsjahren wurde die »Medizinalisierung« 13