Summa und System

146. 4.3.1. Exkurs: Die Entstehungsgeschichte der klassischen .... Chemie und Physik, der Informationsverarbeitung und der Psychologie ebenso verwendet wie ...
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ISBN 978-3-89785-801-5

SUMMA UND SYSTEM Lemanski ·

›Bottom-up‹ und ›top-down‹ sind heutzutage gängige Methodenbezeichnungen in allen Bereichen der Wissenschaft. Dennoch sind beide Methoden keine Entdeckung der Moderne, sondern wurden unter Begriffen wie beispielsweise ›Auf-‹ und ›Abstieg‹, ›Induktion‹ und ›Deduktion‹ in der Wissenschaftsgeschichte häufig verwendet, um komplexe Wissensbestände vollständig aufzuarbeiten und zu strukturieren. Paradigmatisch für eine derartige Aufarbeitung stehen die mittelalterliche Summa und das neuzeitliche System. Aktuellen Studien zufolge hat aber bereits Dionysius Areopagita in der Spätantike eine derartige Summe verfasst, während in der Neuzeit erst J. G. Fichtes Wissenschaftslehre (1804) allen Systemansprüchen genügen konnte. Daher beschäftigt sich die vorliegende Studie mit den Auf- und Abstiegsmethoden bei Dionysius und Fichte, ihrer antiken Vorgeschichte und kontrastiert ihre Methoden mit der aktuellen Wissenschaftsphilosophie. Dabei zeigt sich, dass beide Autoren bei der Aufstiegs- bzw. bottom-up-Methode bislang unberücksichtigte Strategien zur Lösung des Induktionsproblems anwenden.

Jens Lemanski

SUMMA UND SYSTEM

Historie und Systematik vollendeter bottom-up- und top-down-Theorien

Lemanski · Summa und System

Jens Lemanski

Summa und System Historie und Systematik vollendeter bottom-up- und top-down-Theorien

mentis MÜNSTER

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 1.1 1.2

Thematische Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themen und Methoden der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Inhalt der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 15 17

2

Systematische Vorüberlegungen – Der Begriffsapparat der Studie . . Begriffe, Metaphern, absolute Metaphern Mystische Aspekte und Bereiche . . . . . . Die appellativ-transformative Mystik . . . Die deskriptiv-informative Mystik . . . . . Die exegetisch-dechiffrierende Mystik . . Der mystische Aspekt der Einung . . . . . Relative und absolute Transzendenz . . .

2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.4

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19 19 21 26 32 33 38 39

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47 48 48 51 55 57 57

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TEIL 1 DIE SUMMA Ab- (kàjodoc) und Aufstieg (änodoc) im antiken Platonismus und in der christlichen Mystik 3

Oben und Unten, Aporie und Methode, Aufstieg und Abstieg – Eine historische Einleitung . . . . 3.1 Die Methoden (mËjodoi) vor Platon . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Frühgeschichtliche Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Geometrische Zeit, Beginn der Archaik . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Eleaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Attische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Exkurs: Die neue Platonforschung . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die ›gewohnte Methode‹ (e wjuÿa mËjodoc) in Platons Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Das Liniengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Das Sonnengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Das Höhlengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Der »längere Weg« (makrotËra per–odoc) in Platons Symposion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Inhaltsverzeichnis

3.2.3.1 Die zirkuläre Ab- und Aufstiegsstruktur der Diotima-Rede 3.2.3.2 Der inhaltliche Gehalt der Dialogform im Symposion und der Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Aufstieg, Mystagogie, Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Vom Hellenismus zur Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Christentum und Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Mittel- und Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Alkinoos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Plotin und Porphyrius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.3 Proklos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Exkurs: Der Aspekt der Emanation (ÇpÏrroia und probol†) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.3.3 4.2.4 4.2.4.1 4.2.4.2 4.2.4.3 4.2.4.4 4.3 4.3.1

Dionysius Areopagita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Summa – Eine makroskopische Untersuchung . . . . Der makroskopische Abstieg (kàjodoc) . . . . . . . . . . . . Der makroskopische Aufstieg (änodoc) . . . . . . . . . . . . Der makroskopische Auf- und Abstieg in Verbindung mit den beiden Theologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Summa – Eine mikroskopische Untersuchung . . . . Exkurs: Die Legitimierung des Abstiegs durch die Theopneustielehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der mikroskopische Abstieg (kàjodoc) . . . . . . . . . . . . Hervorgänge (prÏodoi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emanationstheorien und Kosmologie . . . . . . . . . . . . . Lichtmetaphysik und Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aporien der positiven, symbolischen und negativen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aporie in der positiven Theologie . . . . . . . . . . . . . Die Aporie in der symbolischen Theologie . . . . . . . . . . Die Aporie in der negativen Theologie . . . . . . . . . . . . . Der mikroskopische Aufstieg (änodoc) . . . . . . . . . . . . Die Erkenntnislehre (gn¿sic und Çgnws–a) . . . . . . . . . Der Aufstieg (änodoc) des Menschen in der negativen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synonyme des Aufstiegs: Licht, Synthese, Analyse, Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Methodologie des Aufstiegs . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufstieg (Çnagwg†) und Induktion (‚pagwg†) . . . . . . Exkurs: Die Entstehungsgeschichte der klassischen Induktionsarten und deren Probleme . . . . . . . . . . . . . .

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4.3.1.1 Die enumerative Induktion und das Induktionsproblem 4.3.1.2 Die eliminative Induktion als Lösungsversuch des Induktionsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Induktionsmethoden und -probleme bei Dionysius . . 4.3.2.1 Die enumerative Induktion bei Dionysius . . . . . . . . . 4.3.2.2 Die eliminative Induktion bei Dionysius . . . . . . . . . . 4.4 Resümee & Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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189 190 192

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TEIL 2 DAS SYSTEM Auf- und Abstieg in der Klassischen Deutschen Philosophie 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 6 6.1

Der Weg zur Systemvollendung . . . . . . . . . . . . . . Auf- und Abstieg in der christlichen Philosophie und in der Rezeption des Platonismus des 18. Jahrhunderts . . . . . . . Johann Joachim Spalding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann August Ernesti und Ernst Platner . . . . . . . . . . . . Auf- und Abstieg in der frühen Klassischen Deutschen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Heinrich Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fichtes Weg zur Systemvollendung im Jahre 1804 . . . . . . Von der GWL bis zur Bestimmung des Menschen . . . . . . . Von der Bestimmung des Menschen zur WL 18042 . . . . . .

Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das System – Makroskopische Untersuchungen zur WL 1804 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Der Aufbau der WL 1804 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die Aufgabe der WL 1804 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Die Konstruktionsmethode und die Vermittlung von Wahrheit und Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Verzicht auf Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das System – Mikroskopische Untersuchungen zur WL 1804 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Der Aufstieg der Vernunftlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1.1 Die intuitive Induktion als Aufstiegsversuch zur Wahrheit . 6.2.1.2 Die eliminative Induktion als Aufstiegsversuch zur Wahrheit 6.2.1.3 Die Krise der Philosophie und die Methode zum Einen . .

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. . . . 195 . . . . 198 . . . . 200 . . . . 200 . . . . 201 . . . 205 . . . . 212

8 6.2.1.4 6.2.2 6.2.3 6.2.3.1 6.2.3.2 6.2.3.3 6.2.3.4 6.2.3.5 6.3

Inhaltsverzeichnis

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217 219 224 228 229 232 234 236

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242 242

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Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.3.1 6.3.2

Zur Wegmetapher des Aufstiegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Absolute und die angebliche Mystik Fichtes . . . . . . . . Der Abstieg der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aufgabe der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urkonstruktion und Nachkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . Weg und Leiter zum absoluten Wissen . . . . . . . . . . . . . . . Pragmatik der WL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das absolute Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das System – Reflexionen zum Systemcharakter der WL 1804 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Perspektiven der WL 18042 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Systemvollendung der WL 1804 2 als doppelte Rückkehr (‚pistrof†) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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TEIL 3 SUMMA UND SYSTEM Bottom-up und top-down als konstitutive Bedingung vollendeter Theorien und das Induktionsproblem 7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4

Auswertung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff oder Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Summa und System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum bottom-up- bzw. Induktionsproblem bei Dionysius und Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Top-down und bottom-up in einer modernen Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das System der Axiome oder EJASE . . . . . . . . . . . . Die noch ausstehende Systemvollendung . . . . . . . . . .

Siglen & Abkürzungen Literatur . . . . . . . . . . Personenregister . . . . Sachregister . . . . . . .

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. 271 . 272 . 295 . 302

Vorwort Die vorliegende Studie ist das Resultat eines Forschungsinteresses, das noch während meines Studiums im Jahr 2004 geweckt wurde. Die im Jahr 2010 erstmals fertiggestellte Arbeit wurde im Sommersemester 2011 vom Fachbereich Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und dem Dipartimento di Filosofia dell’Università di Lecce als Dissertation (Cotutela) angenommenen. Auf meinen Wunsch wurde sie für die Veröffentlichung noch einmal überarbeitet, aktualisiert und mit den Übersetzungen der griechischen Zitate und Begriffe ergänzt. Dass die Studie in dieser Form fertiggestellt werden konnte, verdanke ich vor allem der umfassenden und intensiven Betreuung durch meinen Doktorvater Prof. Dr. Matthias Koßler (Mainz), dem Zweitgutachter der Arbeit, Prof. Dr. Loris Sturlese (Lecce), und der Graduiertenförderung des Landes Rheinland-Pfalz, die mich durch ein Doktorandenstipendium unterstützt hat. Mein Dank gilt weiterhin Patrick Tschirner und Valentin Pluder für die gründliche und konstruktive Kritik des Fichte-Teils in dieser Studie. Ein besonderer Dank gilt den Freunden, die ich während meines Aufenthaltes in Mainz gewonnen habe und die mich während der Abfassung dieser Arbeit unterstützt haben; namentlich seien hier nur Broder-Cornelius Petersen, Janika Wersig, Christian Wilhelm und Simon Schütz genannt. Euch ist diese Arbeit gewidmet.

… πst+ e“ tic t¿n pàntwn Ístin ‚pist†mh, o—an d† tinËc fasin, oŒj‡n ãn proÙpàrqoi gnwr–zwn o›toc. Aristoteles – Metaphysik 992b29–30

1 Thematische Einleitung ›Top-down‹ und ›bottom-up‹ sind heutzutage gängige Methodenbezeichnungen in allen Bereichen der Wissenschaft. Sie werden in der Informatik, der Biologie, Chemie und Physik, der Informationsverarbeitung und der Psychologie ebenso verwendet wie in der Sozialwissenschaft, der Politik, den Wirtschaftswissenschaften oder der Philosophie, um bestimmte Theoriemuster und -prozesse zu analysieren oder zu initialisieren. Betrachtet man allein die einzelnen Zweige der Philosophie, so stellt man auch hier wiederum fest, dass ›bottom-up‹ und ›topdown‹ als generelle Terme in der Philosophie des Geistes 1, der Erkenntnistheorie 2, der Analytischen Philosophie und Logik 3 verwendet werden und sich ähnliche Bezeichnungen auch in den eher ›kontinental‹ ausgerichteten Disziplinen wie Phänomenologie, Religionsphilosophie oder Anthropologie finden 4. Aufgrund dieser Omnipräsenz kann es eigentlich nur der Wissenschaftsphilosophie obliegen, die Verwendungsweise dieser beiden Methodenbezeichnungen oder Argumentationsmodi in den verschiedenen Wissenschaften und Teildisziplinen zu untersuchen und die unterschiedlichen Bezeichnungsweisen miteinander zu vergleichen. Denn bereits ein oberflächlicher Blick in die gegenwärtige Forschungsliteratur zeigt, dass ›bottom-up und top-down‹ mit Termen wie ›Aufstieg und Abstieg‹, ›upstream und downstream‹ oder klassisch ›ascensus und descensus‹ bzw. ›Çnagwg† und katagwg†‹, aber auch ›Induktion und Deduktion‹ u. v. a. gleichgesetzt werden. Umso erstaunlicher ist es, dass eine der gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie obliegende Aufarbeitung dieses Themas bis heute noch aussteht. Die vorliegende Studie kann diesem Versäumnis in keiner Weise gebührend Rechnung tragen, aber sie wagt sich an eine erste Bestandsaufnahme der Historie und Systematik von Theorien, die – nach der modernen Fachsprachenter-

1

Vgl. bspw. Daniel C. Dennett: Cognitive Science as Reverse Engineering. Several Meanings of ›Top-down‹ and ›Bottom-up‹. In: Logic, Methodology and Philosophy of Science 9 (1994), S. 679– 693. 2 Vgl. bspw. John L. Pollok: Procedural Epistemology – At the Interface of Philosophy and AI. In: The Blackwell Guide to Epistemology. Hrsg. v. John Greco, Ernest Sosa. Malden /Mass.: Blackwell, 2008, S. 383–415, bes. S. 392ff. 3 Vgl. bspw. Robert Brandom: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism. 2. Aufl. Cambridge /Mass. u. a.: Harvard, 2001, S. 12–16. 4 Vgl. bspw. Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 176–208, ferner: S. 64, S. 67, S. 94, S. 99, S. 139, S. 238, S. 254ff., S. 375ff., S. 391–407, S. 448f., S. 588. – Ders.: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen. Frankfurt a. M. u. a.: Verlag der Weltreligionen, 2007, S. 126ff., S. 162ff. – Ders.: Weltfremdheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 106, S. 110, S. 122f., S. 185ff., S. 192.

14

1. Thematische Einleitung

minologie – durch bottom-up- und top-down-Methoden erschlossen werden. Besonders die Begriffs- wie Ideengeschichte der beiden Methodenbezeichnungen zeigt erstaunliche, weil bislang unberücksichtigte Resultate: In den vormodernen Wissenschaften haben sich zwei Begriffe herausgebildet, die bis heute paradigmatisch für die Aufarbeitung, Strukturierung und Verarbeitung von Wissen stehen, nämlich die Summa und das System. Franz Mali hat in seiner beeindruckenden Habilitationsschrift aus dem Jahr 1997 nachgewiesen, dass sowohl der Begriff als auch der Entwurf einer ersten Summa nicht auf die Frühscholastik zurückgehen – wie größtenteils heute noch angenommen wird 5 –, sondern auf den spätantiken Autor Dionysius (Ps.-)Areopagita 6. Seine dann für das Mittelalter wegweisende Form der Wissensstrukturierung wurde in der Frühen Neuzeit kontinuierlich durch den System-Begriff abgelöst 7, der seine endgültige Vollendung aufgrund wechselnder Ansprüche und Zielsetzungen der Philosophie und Wissenschaft erst in der Klassischen Deutschen Philosophie erlangen konnte 8. Besonders Wolfgang Janke hat in seinen aktuellen Studien darauf hingewiesen, dass Johann Gottlieb Fichte der erste Philosoph in dieser Epoche war, der diese Zielsetzungen der neuzeitlichen Systeme in seiner Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1804 umsetzen und vollenden konnte 9. Sowohl Mali als auch Janke haben in ihren Studien nachgewiesen, dass sowohl die Zielsetzung als auch die Vollendung der jeweiligen Theorie nicht nachträgliche Interpretationen der heutigen Forschung sind, sondern dass sie dem Selbstverständnis der beiden historischen Autoren entsprechen. Aufgrund religiöser Vorbehalte und editorischer Schwierigkeiten 10 sind aber sowohl die erste Summa des Dionysius als auch das erste System Fichtes bis heute nicht ausreichend wissenschaftsphilosophisch untersucht worden 11. Erstaunlich ist aber, dass 5 6

7

8 9 10 11

Vgl. bspw. Wilhelm Metz: Summe (Art.). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (= HWPh). Hrsg. v. Joachim Ritter u. a. Basel: Schwabe & Co, 1971ff., Bd. 10, Sp. 588–592. Ich stütze mich hier vor allem auf die bislang leider unveröffentlichte Habilitationsschrift von Franz Mali: Eine erste Summa theologiae. Datierung, Werk und Pseudepigraphie des Dionysius (Ps.-Areopagita). Habilitationsschrift. Augsburg, 1997. (M. W. befinden sich Exemplare dieser unveröffentlichten Schrift in der Universitätsbibliothek Halle a. S. und in der KTU Linz.) Mali führt in seiner Studie den eindrucksvollen Beweis, dass Dionysius den Begriff der theologischen Summa in der Geschichte des abendländischen Denkens eingeführt hat. (Ich danke Franz Mali an dieser Stelle für die Übersendung seiner Studie und für seine Auskünfte bezüglich seiner Forschungsarbeiten.) Vgl. Christian Strub: Gebäude, organisch verkettet. Zur Tropologie des Systems. In: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Hrsg. v. Anselm Haverkamp u. a. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 108– 137. Zu den Systementwürfen vor der Klassischen Deutschen Philosophie und deren Zielsetzungen vgl. Christian Strub: System II (Art.). In: HWPh. Bd. 10, Sp. 825–856. Vgl. zuletzt Wolfgang Janke: Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre. Amsterdam u. a.: Rodopi, 2009. Siehe unten, Kapitel 4 und 6. Allerdings hat Gotthard Günther: Metaphysik, Logik und Theorie der Reflexion. In: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. 3 Bde. Hamburg: Meiner, 1976ff., Bd. 1, S. 31–