Soziale Ungleichheit als Sprengsatz in der Zivilgesellschaft

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Soziale Ungleichheit als Sprengsatz in der Zivilgesellschaft Dr. Ulrich Schneider Hauptgeschäftsführer, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Berlin

Ungleichheit ist gut. Ungleichheit ist die Voraussetzung für Vielfalt. Und Vielfalt ist notwendig. Es geht um viele ungleiche Menschen, viele ungleiche Lebenssituationen und Lebensentwürfe, ungleiche Meinungen und Einstellungen, die unser Leben bereichern, die unsere Gesellschaft spannend machen, den Motor darstellen für Bewegung und Entwicklung und damit auch für Fortschritt und schließlich für eine lebendige Zivilgesellschaft.

Soziale Ungleichheit wird dann zu einem Sprengsatz für die Zivilgesellschaft, wenn die Brücken über soziale Gräben oder Barrieren immer maroder werden oder gar zusammenzubrechen drohen. Gesellschaft und Zivilgesellschaft leben vom Austausch, von der Bewegung, vom Miteinander. Miteinander setzt jedoch regelmäßig das Überbrücken von Gräben und Barrieren voraus. Ungleichheit und selbst soziale Unterprivilegierung sind in einer momentanen Sicht niemals das Problem. Das gesellschaftliche Problem entsteht, wenn dem Einzelnen nicht mehr die Möglichkeit gegeben ist, sich in seinem sozialen Status, seinem sozialen Umfeld und seinen sozialen Privilegien in dieser Gesellschaft bewegen oder auch „emporarbeiten“ zu können, um ein tradiertes Bild zu benutzen.

Auch soziale Ungleichheit ist erst einmal eine Tatsache. Wenn der Bundesgeschäftsführer der Piratenpartei, Herr Ponader erklärt, dass ihm 1000 Euro im Monat an finanziellen Ressourcen reichen, während überbezahlte Manager einen Motivationsknick androhen, wenn ihnen Monatseinkommen unter einer halben Million Euro „zugemutet“ werden sollen, ist auch dies auf irgendeine eigentümliche Weise erst einmal Vielfalt, die unser Zusammenleben äußerst spannend macht. Eingetrübt wird der positive Blick auf diese zum Teil skurrile Vielfalt und Ungleichheit, wenn sich Aspekte des Leids und der Unfreiheit hinzugesellen. Soziale

Ungleichheit wird dann bedrückend, wenn sie aus der individuellen Perspektive als perspektivlos, als alternativlos erlebt wird. Und wenn die Perspektive immerzu der Blick von ganz unten ist.

Inge Ahrendt, ohne Titel, 1984 © Freunde der Schlumper e.V.

Der Mensch ist in allererster Linie ein soziales Wesen. Kaum auf der Welt, wird er von dem Willen angetrieben, dazuzugehören, anerkannt zu sein, sich seiner sozialen Position gewiss zu sein, auf Augenhöhe zu sein.

Die Gewissheit des Dazugehörens ist bereits von früher Kindheit an die Voraussetzung jeglicher Selbstverwirklichung und persönlichen Entfaltung. Wo gesellschaftliche Möglichkeiten von vornherein verschlossen werden, wenn die Brücken nicht da sind, können elementare menschliche Bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden. Soziale Ungleichheit – selbst von Unterprivilegierten zum Teil hingenommen wie ein Naturgesetz – wird spätestens dann nicht mehr toleriert, wenn keinerlei Möglichkeiten mehr gesehen werden, sich in seiner sozialen Situation zu verbessern. Die Folge: Menschen wenden sich ab von einer Gesellschaft, die ihnen nichts mehr zu bieten hat, gerade Jugendliche suchen sich ihre eigene Sozialität, die sie gleich sein lässt. Es entstehen Wertemuster und soziale Regeln außerhalb des Mainstreamkanons, erst unbemerkt, schleichend, dann jedoch meist von der Gesellschaft als Bedrohung erlebt. Eine lebendige Zivilgesellschaft ist auf das Engagement ihrer Mitglieder angewiesen und auf ein Mindestmaß an Identifikation, Zuversicht und auf den Willen, sich einzubringen. Soziale Ungleichheit wird dann zum Sprengsatz der Zivilgesellschaft, wenn

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Menschen an den Rand gedrängt werden, wenn Menschen nicht mitgenommen werden, wenn Menschen sich ihre Parallelgesellschaften bauen.

„Ungleichheit wird dann zum Sprengsatz der Zivilgesellschaft, wenn Menschen an den Rand gedrängt werden, wenn Menschen nicht mitgenommen werden, wenn Menschen sich ihre Parallelgesellschaften bauen.“

Jede Gesellschaft hält Ungleichheit nicht nur aus, sie braucht sie fast. Eine Zivilgesellschaft braucht darüber hinaus zwingend das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Wenn wir derzeit erleben, dass über eine Million Kinder in langzeitarbeitslosen Familien leben, aufwachsen in einer Atmosphäre des Frustes und der Niedergeschlagenheit, wir erleben müssen, dass über einer Million Kindern dieser Gesellschaft ganz objektiv Bildungschancen versagt werden, durch materielle Ausgrenzung und durch ein Bildungssystem, das nicht nur fördert, sondern viele in erster Linie segregiert, so ist dies der soziale Sprengsatz für unsere Zivilgesellschaft, mit dem wir es heute zu tun haben. Es

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ist der extreme Tiefstpunkt sozialer Ungleichheit, auf dem sich zu lange schon zu viele Kinder befinden. Es ist die zunehmende Undurchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten dieser Gesellschaft, wie sie auch sozialwissenschaftlich empirisch in trauriger Weise mittlerweile mehrfach belegt ist. Wer Zivilgesellschaft politisch stärken will, der hat vor allem dafür zu sorgen, dass keiner zurückgelassen wird, keiner vergessen wird und dass ein jeder das Päckchen bekommt, das er braucht, um sich in dieser Gesellschaft bewegen zu können. Er hat dafür zu sorgen, dass unsere Kinder – und zwar alle – guten Grund haben, mit Optimismus und Zuversicht in die Zukunft dieser Gesellschaft zu blicken. Erst dann ist der Sprengsatz „Soziale Ungleichheit“ entschärft. Deshalb gilt: Umverteilung tut Not. www.paritaet.org www.umfairteilen.de Dr. Ulrich Schneider © Der Paritätische Gesamtverband

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Selbsthilfe, bürgerschaftliches und Zivilengagement1 verändern Gesellschaft, Politik und Versorgung – das Beispiel Deutsche AIDS-Hilfe Silke Klumb, Geschäftsführerin, Deutsche AIDS-Hilfe, Berlin Holger Sweers, Lektor, Deutsche AIDS-Hilfe, Berlin

Die Aidsbewegung ist ein einmaliges Beispiel für ein breit aufgestelltes bürgerschaftliches und Zivilengagement: Künstler / innen, Sportler / innen und andere Prominente engagieren sich in Solidaritätskampagnen und Stiftungen und spenden für die Arbeit vieler Projekte. Wirtschaftsunternehmen kooperieren mit Aidshilfen und anderen Trägern, Wissenschaftler / innen begleiten die Präventionsarbeit und die gesellschaftlich-politischen Diskussionen zu HIV und Aids, Schulklassen organisieren Projektwochen, Menschen spenden oder engagieren sich ehrenamtlich. Im Zentrum dieser Bewegung standen und stehen diejenigen, die am stärksten von HIV und Aids bedroht und betroffen sind – schwule Männer, Drogengebraucher/innen, Sexarbeiter / innen, bestimmte Gruppen von Migrantinnen und Migranten, Menschen, die mit HIV / Aids leben, ihre An- und Zugehörigen und mit ihnen Solidarische. International werden die Aidsbewegung und das deutsche Modell der HIV-Prävention als außerordentlich erfolgreiches Vorbild betrachtet – als Beispiele für diese Erfolge seien niedrige Neuinfektionszahlen und die selbstbewuss-

te Beteiligung HIV-positiver Menschen in der Präventionsarbeit genannt. Die Anfänge der Aidsbewegung Nachdem 1982 in Frankfurt der erste Aidsfall in Deutschland diagnostiziert wurde, gab es schnell erste Formen gemeinschaftlicher Selbsthilfe: Im September 1983 gründeten Menschen aus der schwulen Szene und ihrem Umfeld in Berlin die „Deutsche A.I.D.S.-Hilfe e.V. (DAH)“2, um professionelle Hilfe und Unterstützung für die Kranken zu organisieren, Informationen zu sammeln und zu verbreiten, um weitere Infektionen zu verhindern und sich gegen die zu befürchtende (neue) Diskriminierung schwuler Männer und ihrer Lebensweisen zu engagieren. Gearbeitet wurde zunächst rein ehrenamtlich – bald auch mit Unterstützung vor allem aus der Kulturszene. Am 17. Juni 1985 fand in Berlin eine von Rosa von Praunheim und der DAH organisierte Benefizveranstaltung mit Inge Meysel, Brigitte Mira, Alfred Biolek, André Heller und anderen prominenten Künstlern statt. Mit dem Erlös produzierte die jetzt als Bundesverband agierende DAH ihr erstes Safer-Sex-Plakat.