Solidarität als moralische Arbeitsteilung - Buch.de

Recht, in der nach dem Prinzip »obligation in solidum« eine Schuldnerge- meinschaft für die finanziellen Verbindlichkeiten ihrer Mitglieder einstand, wenn diese ...
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Um diese Fragen zu beantworten, entwickelt dieses Buch ausgehend von den Theorien von Jürgen Habermas, Axel Honneth und Richard Rorty eine Solidaritätsauffassung, in der der Solidaritätsbegriff auf Hilfspflichten verweist, die Mitglieder partikularer Gruppen gegeneinander haben; das Ziel dieser Hilfspflichten besteht in der Beseitigung von moralischen Missständen, die die praktischen Identitäten der Gruppenmitglieder betreffen. Dadurch grenzt sich Solidarität von anderen, verwandten Begriffen wie Mitleid, Barmherzigkeit oder Loyalität ab. Begründet wird Solidarität, indem sie als ein Prinzip moralischer Arbeitsteilung aufgefasst wird: Allgemeine Hilfspflichten werden unter bestimmten Akteuren aufgeteilt, um ungerechte Zustände möglichst effizient zu beseitigen. Solidarität verbindet in dieser Auffassung Aspekte von moralischem Universalismus und Partikularismus ebenso wie von Deontologie und Konsequentialismus.

Löschke · SOLIDARITÄT ALS MORALISCHE ARBEITSTEILUNG

Was ist Solidarität? Welchen Platz sollte der Begriff in unserem moralischen Vokabular haben? Gibt es eine moralische Pflicht zur Solidarität? Oder ist solidarisches Handeln supererogatorisch – also löblich und gut, ohne von Personen eingefordert werden zu können?

ISBN 978-3-95743-002-1

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Jörg Löschke

SOLIDARITÄT ALS MORALISCHE ARBEITSTEILUNG ethica

Löschke · Solidarität als moralische Arbeitsteilung

ethica Herausgegeben von Dieter Sturma und Michael Quante

Jörg Löschke

Solidarität als moralische Arbeitsteilung

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: Ferdinand Hodler: Einmütigkeit, 1913 (»Hodler-Saal« im Neuen Rathaus von Hannover)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. = ethica, Band 30

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2015 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz: satz&sonders GmbH, Münster Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-95743-002-1 (Print) ISBN 978-3-95743-919-2 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3

Eine Explikation des Solidaritätsbegriffs . . . . . . . . . . . . Drei Solidaritätskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Solidarität als Gemeinwohlorientierung: Jürgen Habermas . . Solidarität als Mitleid: Richard Rorty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Solidarität als Anerkennungsform: Axel Honneth . . . . . . . . . Die begrifflichen Elemente von Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . Der Aspekt der Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aspekt der Partikularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Identitätsbezug von Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die normative Abhängigkeit von Solidarität . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und weitere Fragestellungen . . . . . . . . . . .

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Solidaritätsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine gruppentheoretische Klassifikationen . . . . . . . . . Gemeinschaften als reflexive Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der identitätskonstitutive Charakter von Solidaritätsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Narrative Identitätstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Anerkennungstheorien der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Rollenbasierte Identitätstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zusammenfassung und weitere Fragestellungen . . . . . . . . . . .

79 80 84

3 3.1 3.2 3.3

4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2

Zur Begründung der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Universalismus und Partikularismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der partialistische Partikularismus: Allgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identitätsargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Authentizitätsvariante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kommunitaristische Variante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungszentrierte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralische Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralische Arbeitsteilung: Einführende Bemerkungen . . . . . . Die Institutionen-Institutionen-Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . .

91 93 97 99 107 109 110 113 119 120 127 145 154 155 158

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Inhaltsverzeichnis

4.5.3 Die Institutionen-Individuen-Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Die Individuen-Individuen-Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Solidarität als moralische Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . .

165 177 193

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Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenegister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Diese Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Wintersemester 2011 bei der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereicht habe. Mein besonderer Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Christoph Horn, der diese Arbeit engagiert betreut und meinen akademischen Weg auf vielfältige Weise unterstützt hat. Frau Prof. Dr. Corinna Mieth hat das Zweitgutachten übernommen und mir die Gelegenheit gegeben, meine Thesen in ihrem Forschungskolloquium zur Diskussion zu stellen. Ihr möchte ich ebenfalls herzlich danken. Herr Prof. Dr. Hans-Joachim Pieper hat den Vorsitz der Prüfungskommission übernommen und trotz Zeitnot für einen reibungslosen Ablauf gesorgt; Herr Prof. Dr. Dieter Sturma hat sich bereit erklärt, als weiteres prüfungsberechtigtes Mitglied zu wirken und meinen akademischen Weg ebenfalls stark gefördert. Auch ihnen danke ich sehr. Herrn Prof. Dr. Dieter Sturma und Herrn Prof. Dr. Michael Quante danke ich für die Bereitschaft, diese Arbeit in die Reihe ethica aufzunehmen, und dem mentis Verlag für die gute Zusammenarbeit. Ayaka Löschke, Mathias Kirch, Meinhard Schmidt und Walter Wagner haben das Manuskript vollständig gelesen und mir wertvolle Hinweise zur Verbesserung gegeben, von denen diese Arbeit sehr profitiert hat. Tobias Ladenstein, Tim Wittkop und Marcel Lautwein danke ich für ihre beständige Freundschaft. Die täglichen Gespräche mit Mathias Kirch haben mir durch einige Phasen des Zweifels geholfen. Meine Mutter, Jutta Schmidt, sowie meine beiden Väter, Meinhard Schmidt und Norbert Löschke, haben diese Arbeit finanziell und emotional unterstützt. Ohne diese Unterstützung im privaten Bereich hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. Widmen möchte ich diese Arbeit meiner Mutter, die meinen Weg stets liebevoll begleitet und unterstützt hat. Was ich ihr verdanke, lässt sich nicht in wenigen Zeilen ausdrücken.

1 Einleitung

Was tun wir, wenn wir jemanden als solidarisch loben oder als unsolidarisch kritisieren? Eine naheliegende Antwort auf diese Frage lautet: Wir fällen ein moralisches Urteil. Ein Indiz für diese Auffassung sind die reaktiven Sanktionen, die mit dem Urteil einer Handlung als unsolidarisch einhergehen: Wer eine Person als unsolidarisch bezeichnet, empfindet ihr gegenüber typischerweise Groll oder Empörung; wer sich selbst als unsolidarisch betrachtet, empfindet typischerweise Schuld oder Scham. In beiden Fällen handelt es sich um Reaktionen, die charakteristischerweise auf moralisches Fehlverhalten folgen. 1 Auch wenn der Solidaritätsbegriff ein wenig an Prominenz eingebüßt haben mag, scheint er nach wie vor ein wichtiger Teil unserer moralischen Praxis und des damit einhergehenden Vokabulars zu sein. Ein Blick in das politische Tagesgeschäft reicht, um dies einsichtig zu machen: Kein Politiker bekennt sich offen dazu, ein unsolidarisches Programm zu verfolgen. Gleichzeitig wird mit Blick auf das Weltarmutsproblem Solidarität mit den Armen dieser Welt eingefordert. Trotz der Verankerung des Solidaritätsbegriffs in unserer moralischen Praxis ist er aber nur in geringem Maße Gegenstand ethischer Theoriebildung geworden. Das Urteil, das Kurt Bayertz vor mehr als fünfzehn Jahren gefällt hat, ist nach wie vor gültig: »Wir verfügen über eine Fülle von konkurrierenden Theorien der Gerechtigkeit, der Freiheit oder der Gleichheit; von einem ähnlichen embarras de richesse kann im Hinblick auf Theorien der Solidarität keine Rede sein.« 2 Eine philosophische Disziplin namens »Solidaritätstheorie« hat sich bislang noch nicht herausgebildet. Dies gilt, obwohl der Solidaritätsbegriff Einzug in die moralphilosophischen Überlegungen von verschiedenen zeitgenössischen Philosophinnen und Philosophen gefunden hat und dabei bisweilen eine zentrale Funktion einnimmt: 3 Eine theoretische Reflexion auf den Begriff wird dabei nämlich für gewöhnlich nicht vorgenommen. Die Begriffsverwendung geschieht vielmehr 1

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Dieses Argument ist an Strawsons Analyse der reaktiven moralischen Haltungen angelehnt. Vgl. P. F. Strawson, Freedom and Resentment, London 1974. Kurt Bayertz, Begriff und Problem der Solidarität, in: ders. (Hg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt/Main 1998, S. 11–53, hier S. 12f. Neben den in dieser Arbeit genauer vorgestellten Ansätzen von Jürgen Habermas, Richard Rorty und Axel Honneth beziehen sich etwa Philippa Foot und Robert Nozick auf den Begriff der Solidarität; Nozick übt in diesen Kontext sogar Selbstkritik an seiner libertären Position, die er in Anarchy, State, and Utopia vertritt. Vgl. Philippa Foot, Morality, Action, and Outcome,

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1 Einleitung

intuitiv. 4 Dies führt zu einer paradoxen Situation: Der Solidaritätsbegriff wird bisweilen sehr uneinheitlich gebraucht und bezeichnet mitunter ganz unterschiedliche Phänomene, aber keine dieser Verwendungsweisen erscheint als unangemessen. Als Ergebnis der bislang ausgebliebenen theoretischen Reflexion auf den Solidaritätsbegriff sind noch viele Fragen offen. Eine grundlegende Unklarheit besteht mit Blick auf die Charakterisierung von solidarischen Handlungsgründen: Wenn jemand aus Solidarität handelt, kann dies bedeuten, dass eine solidarische Einstellung das Handlungsmotiv war; es kann aber auch bedeuten, dass Solidarität den Grund dafür dargestellt hat, dass etwas aus moralischer Hinsicht für die Handlung gesprochen hat. Wer von Solidarität redet, kann somit entweder auf den Motivationsgrund einer Handlung oder auf ihren Verpflichtungsgrund Bezug nehmen. 5 Wenn Solidarität als Motivationsgrund einer Handlung verstanden wird, wird sie begrifflich in die Nähe von Mitleid gerückt. 6 Bezieht man sich dagegen auf Solidarität als moralisches Konzept, das den Verpflichtungsgrund einer Handlung ausdrückt, kann eine Handlung eingefordert werden, weil sie eine solidarische Handlung ist, so wie eine gerechte Handlung eingefordert werden kann; Solidarität

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in: dies., Moral Dilemmas and Other Topics in Moral Philosophy, Oxford 2002, S. 88–104 sowie Robert Nozick, The Zigzag of Politics, in: ders., The Examined Life. Philosophical Meditations, New York 1989, S. 286–296. Auch bei Onora O’Neill spielt der Begriff eine wichtige Rolle; vgl. dies., Tugend und Gerechtigkeit. Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens, Berlin 1996. In letzter Zeit sind ein paar Arbeiten erschienen, in denen Solidarität ebenfalls an zentraler Stelle auftaucht, ohne dass die Arbeiten einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Begriff gewidmet sind; vgl. etwa Troy Jollimore, On Loyalty, London/New York 2013 oder Adam Cureton, Solidarity and Social Moral Rules, in: Ethical Theory and Moral Practice 15 (2012), S. 691–706. Eine löbliche Ausnahme stellt die systematische Arbeit von Simon Derpmann dar; vgl. ders., Gründe der Solidarität, Münster 2013. Unter einem Motivationsgrund verstehe ich im Folgenden den Grund, aus dem eine Handlung erfolgt, während ein Verpflichtungsgrund den Grund dafür darstellt, dass eine Handlung erfolgen sollte. Im Wesentlichen entspricht diese Unterscheidung der zwischen motivierenden und normativen Gründen. Zu letztgenannter Unterscheidung vgl. Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt /Main 2007, insbesondere Teil 1. Eine Angleichung von Solidarität und Mitleid nimmt insbesondere Richard Rorty vor. Vgl. ders., Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/Main 1989. Diese Angleichung findet sich allerdings schon früher, etwa bei Max Horkheimer, der Schopenhauers Mitleidsethik im Sinn von Solidarität auffasst; vgl. Max Horkheimer, Die Aktualität Schopenhauers, in: Gerd Haffmanns (Hg.), Über Arthur Schopenhauer, Zürich 1977, S. 145–164. Vgl. hierzu auch David E. Cartwright, Compassion and the Solidarity with Sufferers: The Metaphysics of Mitleid, in: European Journal of Philosophy 16 (2008), S. 292–310. Auch Ursula Wolf sieht in dem »Gefühl der Solidarität mit allen« eine notwendige motivationale Voraussetzung für moralisches Handeln überhaupt; vgl. Ursula Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin – New York 1984, S. 223.

1 Einleitung

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liefert in dieser Perspektive normative Handlungsgründe, unabhängig von den aktuellen Interessen oder Motiven einer Person. Ob diese zweite Verwendungsweise von Solidarität angemessen ist – ob solidarische Handlungen eingefordert werden können und in diesem Sinne moralische Pflichten darstellen – ist nach dem gegenwärtigen Forschungsstand allerdings unklar. Es herrscht in der Literatur Uneinigkeit bezüglich der Frage, wie der deontische Status einer solidarischen Handlung zu beurteilen ist, ob eine solche Handlung geboten oder verboten, erlaubt oder löblich ist. Für manche Autoren handelt es sich bei Solidarität um ein latent unmoralisches Konzept 7: Es besteht hier insbesondere die Befürchtung, dass unter dem Deckmantel der Solidarität Nationalismus, Chauvinismus und andere Formen von willkürlicher und moralisch problematischer Ausschließung gerechtfertigt werden. Andere Autoren verstehen Solidarität als ein moralisch gerechtfertigtes Konzept, dessen deontischer Status nicht eindeutig bestimmbar ist: Solidarität wird im Feld zwischen geschuldeter und verdienstlicher Moral, zwischen moralischer Pflicht und Supererogation angesiedelt. 8 Solidarität wird in einer bestimmten Variante dieser Auffassung als moralische Pflicht interpretiert, der keine entsprechenden Rechte korrespondieren. 9 Schließlich gibt es die Position, solidarischen Handlungen eine hohe moralische Verbindlichkeit zuzusprechen: Der Begriff wird zur Begründung von starken Hilfspflichten auf globaler Ebene herangezogen, 10 und es ist bisweilen gar von einer »Pflicht zur Solidarität« 11 die Rede. Diese Unklarheit über den deontischen Status von Solidarität hängt mit einer inhaltlichen Unklarheit zusammen: Was genau wird bei einer Solidaritätsforderung eingefordert? Welche konkreten Handlungen sind nötig, um einer Forderung nach Solidarität zu entsprechen? Auch bei dieser inhalt7

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Vgl. die diskutierten Kritikpunkte an der Solidarität in Hermann-Josef Grosse Kracht, Jenseits von Mitleid und Barmherzigkeit. Zur Karriere solidarischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Karl Gabriel (Hg.), Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften (48), Münster 2007, S. 13–38, hier S. 20ff. Vgl. Otfried Höffe, Demokratie in Zeiten der Globalisierung, 1. überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, München 2002, S. 89; vgl. auch Elke Mack, Globale Solidarität mit den Armen, in: Gabriel, Jahrbuch, a. a. O., S. 297–335, hier S. 316. Vgl. Andreas Wildt, Milde Pflichten. Moralische Verpflichtungen ohne korrelative moralische Rechte anderer, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), S. 41–57, hier S. 47; vgl. auch ders., Gibt es Marxsche Kriterien der politischen Gerechtigkeit?, in: Reinold Schmücker, Ulrich Steinvorth (Hrsg.), Gerechtigkeit und Politik. Philosophische Perspektiven (Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 3), Berlin 2002, S. 57–74, hier S. 60. Vgl. Peter Rottländer, Ethische Rechtfertigung weltweiter Solidarität, in: Norbert Brieskorn (Hg.), Globale Solidarität. Die verschiedenen Kulturen und die Eine Welt, Stuttgart-BerlinKöln 1997, S. 117–142. Monika Bobbert, Pflicht zur Solidarität? Zur Legitimität sozialer Sicherungssysteme, in: Gabriel, Jahrbuch, a. a. O., S. 181–204.

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1 Einleitung

lichen Frage ist Solidarität zum gegenwärtigen Forschungsstand unterbestimmt. Manche Autoren interpretieren Solidarität im Sinne eines Fürsorgeprinzips 12, andere als Anerkennung der speziellen Fähigkeiten einer Person. 13 Eine weitere Auffassung besteht darin, Solidarität als einen Begriff zu verstehen, der auf die Verhinderung von Demütigungen abzielt. 14 Je nachdem, welche dieser Auffassungen man sich zu Eigen macht, wird eine solidarische Handlung anders bestimmt; es können sich auch verschiedene Antworten auf die Frage ergeben, ob eine Forderung nach Solidarität überhaupt berechtigt ist. Für diesen unbefriedigenden Zustand der theoretischen Unterbestimmtheit des Solidaritätskonzepts sind verschiedene Gründe verantwortlich. Erstens handelt es sich um einen vergleichsweise jungen Begriff, sodass es schlicht noch nicht genug Gelegenheit zu einer umfassenden Auseinandersetzung gegeben hat, zumindest nicht in dem Maße, wie es bei prominenten ethischen Konzepten wie dem der Gerechtigkeit der Fall ist. Etymologisch betrachtet reichen die Wurzeln des Solidaritätsbegriff zwar in die Antike zurück – der Begriff bezieht sich auf das Konzept der Solidarhaftung im römischen Recht, in der nach dem Prinzip »obligation in solidum« eine Schuldnergemeinschaft für die finanziellen Verbindlichkeiten ihrer Mitglieder einstand, wenn diese nicht mehr in der Lage waren, ihre Schulden selbst zu begleichen 15 – aber erst in den Kontexten der Arbeiterbewegung und der christlichen Soziallehre, also im 19. Jahrhundert, erhält er seinen Platz im moralphilosophischen Vokabular. 16 Stärker wiegt jedoch ein zweiter Grund: Die dominanten moralphilosophischen Ansätze sind universalistisch geprägt und betonen die Rolle der Unparteilichkeit im moralischen Denken. Dies gilt sowohl für die diversen Spielarten des Kantianismus wie auch für die ver12

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Vgl. Jürgen Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität. Zur Diskussion über »Stufe 6«, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main 1991, S. 49–76. Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/Main 1994. Vgl. Rorty, Kontingenz, Ironie, Solidarität, a. a. O. Vgl. Markus Daniel Zürcher, Solidarität, Anerkennung und Gemeinschaft. Zur Typologie, Theorie und Kritik der Solidarität, Tübingen 1998, S. 53; Karl H. Metz, Solidarität und Geschichte. Institution und sozialer Begriff der Solidarität in Westeuropa im 19. Jahrhundert, in: Kurt Bayertz (Hg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt/Main 1998, S. 172–201. Für eine generelle begriffshistorische Darstellung vgl. auch Jürgen Schmelter, Solidarität. Die Entwicklungsgeschichte eines sozialethischen Schlüsselbegriffs, München 1991, sowie Andreas Wildt, Zur Begriffs- und Ideengeschichte von »Solidarität«, in: »Solidarität« – ein Weg aus der Krise? Evangelischer Pressedienst, Dokumentation Nr. 18, Frankfurt/Main 1997, S. 15– 29; Hauke Brunkhorst, Solidarität. Von der Bürgerfreunsdschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt /Main 2002; Andreas Wildt, Solidarität – Begriffsgeschichte und Definition heute, in: Bayertz, Solidarität, a. a. O., S. 202–216. Vgl. Bayertz, Begriff und Problem, a. a. O.

1 Einleitung

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schiedenen Versionen des Utilitarismus. Der Solidaritätsbegriff, so scheint es, transportiert dagegen den Gedanken von moralischen Forderungen, die auf distinkte Gruppen eingeschränkt sind. Dies kann aus einer universalistischen Perspektive problematisch erscheinen – die Autoren, die Solidarität als latent unmoralisch betrachten, scheinen sich insbesondere an diesem Aspekt zu stören – und eine ausführliche Beschäftigung mit dem Solidaritätsbegriff verhindern. 17 Mit Blick auf den Solidaritätsbegriff lässt sich somit ein Forschungsdesiderat konstatieren: Um zu prüfen, ob Solidarität einen berechtigten Platz in unserer moralischen Praxis hat – und wenn ja, wie dieser Platz zu bestimmen ist – muss eine moralphilosophische Auseinandersetzung über diesen Begriff geführt werden. Die vorliegende Arbeit versteht sich entsprechend als ein Beitrag zu einer solchen, sich noch in den Anfängen befindenden Solidaritätstheorie. Das Ziel ist dabei einfach und kompliziert zugleich: Es soll gezeigt werden, dass Solidarität einen wohlbestimmten moralphilosophischen Begriff darstellt, der aus guten Gründen Teil unseres moralphilosophischen Vokabulars ist. Dabei wird nicht der Anspruch erhoben, die einzige mögliche oder gültige Interpretation des Begriffs zu entwickeln. Alternative Interpretationsweisen sind möglich und wünschenswert, weil nur so eine Auseinandersetzung über den Begriff geführt werden kann. Die in dieser Arbeit entwickelte Auffassung des Begriffs reklamiert aber den Vorteil, erklären zu können, warum es so unterschiedliche Begriffsverwendungen gibt, die nicht allesamt offensichtlich unangemessen sind und in weitgehendem Einklang mit unserer alltäglichen Praxis der Begriffsverwendung stehen. Freilich erschöpft sich die Darstellung nicht in einer reinen Abbildung der Begriffsverwendung. Wo nötig, wird die revisionistische These vertreten, dass manche Verwendungsweisen des Begriffs zwar de facto vorkommen, aber unangemessen sind. Das vorgefundene Chaos der Begriffsverwendung wird dabei nicht als Problem gesehen. Es wird vielmehr als Ausgangsmaterial verstanden, aus dem eine eingehende Beschäftigung mit dem Solidaritätsbegriff schöpfen kann. Es ist nämlich nicht davon auszugehen, dass es sich bei den verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs um bloße Homonyme handelt. Vielmehr sind begriffliche Elemente aufzeigbar, die in nahezu allen Verwendungsweisen des Begriffs impliziert sind. Die Bedeutungsunschärfe des Begriffs – also die Tatsache, dass mitunter sehr unterschiedliche Verwendungsweisen gleichermaßen angemessen erscheinen können – lässt sich in dieser Auffassung darauf zurückführen, dass die begrifflichen Elemente unterschiedlich gewichtet und interpretiert werden.

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Dies betont Kurt Bayertz; vgl. ders., Begriff und Problem, a. a. O., S. 15.

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1 Einleitung

Der erste Teil der vorliegenden Arbeit besteht entsprechend in dem Versuch, durch eine Explikation des Solidaritätsbegriffs diese begrifflichen Elemente herauszuarbeiten und in einen angemessenen Zusammenhang zu bringen. 18 Das Ergebnis dieser Explikation besteht darin, dass vier Begriffselemente zusammengenommen Solidarität als eigenständiges moralisches Konzept konstituieren. Eine angemessene Begriffsverwendung muss entsprechend auf diese grundsätzlichen Aspekte Bezug nehmen; eine Verwendung, die mehr dieser Elemente impliziert, ist dabei einer Verwendung vorzuziehen, die nur auf einen geringeren Teil dieser Elemente verweist. Bei diesen begriffskonstitutiven Aspekten handelt es sich um den Hilfecharakter von Solidarität – solidarische Handlungen sind Hilfehandlungen –, den Gedanken der Gruppenbezogenheit – Solidarität ist auf distinkte Gruppen bezogen, die kleiner sind als die moralische Gemeinschaft aller Personen –, den Gedanken des Identitätsbezugs – Solidarität ist als moralisches Konzept auf die praktische Identität der Autoren und Adressaten von Solidaritätsforderungen bezogen – und den Gedanken der normativen Abhängigkeit – Solidaritätsforderungen werden gerechtfertigt durch den Verweis auf übergeordnete moralische Anforderungen: Wer Solidarität einfordert, verweist auf die moralische Angemessenheit seiner Forderung, nicht nur auf geteilte Interessen. Um diese begrifflichen Grundannahmen und mögliche unterschiedliche Interpretationen aufzuzeigen, werden in diesem ersten Teil die Solidaritätskonzeptionen von Jürgen Habermas, Richard Rorty und Axel Honneth analysiert. Die Auswahl dieser Autoren ist darin begründet, dass es sich bei ihren Ansätzen um die zeitgenössischen Theorien handelt, in denen Solidarität die prominenteste Rolle spielt. Eine angemessene Beschäftigung mit Solidarität kann daher auf eine Analyse dieser Positionen nicht verzichten. Ergänzend werden die begrifflichen Elemente mit Blick auf andere Autoren aufgezeigt. Gegen die attestierte theoretische Unterbestimmtheit von Solidarität wird auf diesem Weg eine Auffassung von Solidarität entwickelt, nach der es sich bei Solidarität um ein moralisches Konzept handelt, das dazu auffordert, bestimmten Personen, die in einer identitätskonstitutiven Beziehung zu dem Forderungsadressaten stehen, bei der Durchsetzung moralisch gebotener Ziele zu helfen. 18

Eine Explikation eines Begriffs ist von einer Definition ebenso zu unterscheiden wie von seiner Analyse: »Eine Definition ist eine Bedeutungszuweisung an einen noch nicht verwendeten Ausdruck; sie ist rein stipulativ und stellt eine Absichtserklärung eines Sprechers dar, mit der er deutlich macht, in welchem Sinn er den definieren Ausdruck fortan zu verwenden denkt. Eine Begriffsexplikation hingegen ist eine präzisierende Festlegung der Bedeutung eines bereits verwendeten Ausdrucks. Eine Begriffsanalyse schließlich ist – so kann man in erster Annäherung sagen – die möglichst genaue Wiedergabe der Bedeutung eines Ausdrucks im Rahmen einer natürlichen Sprache.« Oliver Hallich, Die Rationalität der Moral. Eine sprachanalytische Grundlegung der Ethik, Paderborn 2008, S. 35.