Schweigen und Schweigeformen in der Literatur AWS

beichte der Kirche als zusätzliche restriktive Maßnahme zur Überwachung des Pöniten- ten in der Gemeinschaft der Gläubigen, im Falle der Nichteinhaltung gar unter ... Eine zweite bedeutsame Textstelle des Neuen Testaments findet sich im Evangelium nach Matthäus, wo eindringlich vor dem unbedachten Gebrauch der ...
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Matthias Mühlhäuser

Schweigen und Schweigeformen in der Literatur Die Hermetik des beredten Schweigens in Gottfried von Straßburgs „Tristan“

Diplomica Verlag

Matthias Mühlhäuser Schweigen und Schweigeformen in der Literatur: Die Hermetik des beredten Schweigens in Gottfried von Straßburgs "Tristan" ISBN: 978-3-8428-3333-3 Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2012

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Inhaltsverzeichnis 1. Das Schweigen im Mittelalter ......................................................................................................7 2. Das Schweigen in der Literatur..................................................................................................11 3. Das Schweigen des Dichters ......................................................................................................17 4. Das Schweigen der Elemente .....................................................................................................19 5. Das Schweigen der Menschen....................................................................................................21 5.1 Riwalin und Blanscheflur: Schweigen im Tod ....................................................................22 5.2 Rual und Floraete: Schweigen als Schutzmechanismus ......................................................28 5.3 Das Schweigen der Gesellschaft im Staunen .......................................................................28 5.3.1 Die norwegischen Kaufleute .........................................................................................29 5.3.2 Die Pilger.......................................................................................................................30 5.3.3 Markes Jäger .................................................................................................................32 5.3.4 Die höfische Gesellschaft..............................................................................................32 5.4 Isoldes Entführung durch Gandin: Schweigen als kommunikative Strategie ......................36 5.5 Intrige, List und Hinterlist, Lüge und Verstellung bei Marjodo und Melot.........................39 5.5.1 Marjodo .........................................................................................................................39 5.5.2 Melot .............................................................................................................................41 5.6 Tristan...................................................................................................................................44 5.6.1 Erziehung und Herkunft (4144-4364) ...........................................................................44 5.6.2 Die Brautwerbungsfahrt ................................................................................................48 5.6.3 Das Schweigen in der Trennung ...................................................................................49 5.6.3.1 Petitcrü ...................................................................................................................49 5.6.3.2Schweigendes Gedenken: Die Isolde-Weißhand-Episode ......................................54 5.7 Isolde ....................................................................................................................................55 5.7.1 Isoldes Erkenntnis .........................................................................................................55 5.7.2 Die versuchte Ermordung Brangänes............................................................................57 5.8 Tristan, Isolde und ihre Vertraute Brangäne ........................................................................59 5.8.1 Der Minnetrank (11730-11920) ....................................................................................59 5.8.2 Die Minnegrotte ............................................................................................................63 5.9 König Marke ........................................................................................................................66 5.9.1 Stille Bewunderung Tristans .........................................................................................66 5.9.2 Das Schweigen des Königs ...........................................................................................67 5.9.3 Tristans Zweikampf mit Morold ...................................................................................69 5.9.4 Täuschung in der Brautnacht.........................................................................................70 5.9.5 Intrigen und Beeinflussung von außen..........................................................................71 5.9.6 Baumgartenszene ..........................................................................................................74 5.9.7 Aderlass und ‚Mehlfalle‘...............................................................................................75 5.9.8 Entscheidung durch Markes Fürsten .............................................................................77 6. Zusammenfassung......................................................................................................................81 Literaturverzeichnis........................................................................................................................83

„Es gibt keine Sprache und kein Sprechen ohne Schweigen, und es gibt kein Schweigen ohne Sprechen (kein Zeichen ohne Schweigen, kein Schweigen ohne Zeichen). Sprechen und Schweigen leben in Symbiose; sie sind dialektisch aufeinander angewiesen.“ Ulrich Schmitz1

1. Das Schweigen im Mittelalter Jedes menschliche Kollektiv generiert Konventionen als ein Regelwerk geschriebener und ungeschriebener Gesetze. Auch die situations- und diskursbedingte Angemessenheit von Sprechen und Schweigen unterliegt den Konventionen des Kollektivs, dem stetigen Wandel und den Modifikationen der Zeit ausgesetzt. „Jedes Sprechen ist historisch, weil es in einer Tradition des Sprechens steht und damit einen historischen Gebrauch der Sprache reflektiert.“2 So ist auch die Unangemessenheit des Sprechens im Laufe der Zeit von den unterschiedlichsten Konsequenzen und Sanktionen bedroht, indessen das Schweigen als ein individueller Schutzmechanismus der Rede als ihr Äquivalent gegenübersteht. Dabei spielt die Disziplinierung des Einzelnen durch das Kollektiv als eine soziale Verhaltensregulierung eine entscheidende Rolle. Hierbei wird nicht nur die kirchliche Buße und Sühne, sondern auch die weltliche Strafe im Mittelalter konsequent theologisch begründet: „Die Vorschriften, die Sprache zu mäßigen, nicht zu viel zu reden, die Zunge zu zügeln, sind fester Bestandteil der weltlichen und geistlichen Didaxe.“3 Die Strafwürdigkeit per se versteht sich dabei als weltliche Sühne für eine auf Erden begangene Missetat, die ansonsten von Gott am Tag des Partikulargerichts unmittelbar nach dem Tod des Delinquenten und noch vor dem Tag des Jüngsten Gerichts4 gesühnt würde. 1

Ulrich Schmitz: Beredtes Schweigen – Zur sprachlichen Fülle der Leere. Über Grenzen der Sprachwissenschaft. In: Schweigen, hg. von Ulrich Schmitz, Osnabrück 1990 (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 42), S. 6. 2 Bettina Lindorfer: Bestraftes Sprechen. Zur historischen Pragmatik des Mittelalters, München 2009, S. 21. 3 Mireille Schnyder: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003, S. 159. 4 Der Apostel Johannes schildert in seiner Offenbarung das Weltgericht auch als Partikulargericht unter Vorsitz Gottes auf einem großen, weißen Thron als eine Aburteilung jedes Einzelnen nach seinen individuellen Taten: „Und das Meer gab die Toten heraus, die darin waren, und der Tod und sein Reich 7

Seit 1215 dient die wenigstens einmal im Jahr als verbindlich vorgeschriebene Ohrenbeichte der Kirche als zusätzliche restriktive Maßnahme zur Überwachung des Pönitenten in der Gemeinschaft der Gläubigen, im Falle der Nichteinhaltung gar unter Androhung der Exkommunikation. Die Ausformung einer den kollektiven Normen angepassten Individualität zieht sich dabei durch alle gesellschaftlichen Schichten, von den bäuerlichen Landarbeitern über den Klerus bis in die feudalen Strukturen des Hofes, von zunehmender Komplexität gekennzeichnet, als erzieherische Restriktion hier wie dort im Laufe der Zeit zunehmend in die Kindheit und Jugend verlagert. Sünde kann bereits durch einen bloßen Gedanken erfolgen, der sich gegen die göttlichen Gebote richtet, durch die bereits ausgeführte Handlung oder in ihrer Ankündigung durch das gesprochene Wort. So dient das bei den Klerikern in so hohem Ansehen stehende Schweigen der inneren Einkehr und Kontemplation und schützt vor den gotteslästerlichen, gefährlichen wie verderblichen Sünden der Zunge. In Psalm 140 bittet David um Errettung und Schutz vor „den bösen Menschen“ (Ps 140, 1), die mit ihren „scharfe[n] Zungen“ und „Otterngift […] unter ihren Lippen“ (Ps 140, 4) tagtäglich Streit erregen, metaphorisch mit der Vorstellung verknüpft, „dass der Mund sich als Türe schließen und öffnen lässt“5. Das selbstkontrollierte Schweigen und Hören in Demut dienen dem Schüler und Jünger zu seinem eigenen Schutz, da seine Unerfahrenheit jederzeit zu unbedachter Rede und Zungensünde verleiten kann: „Tod und Leben stehen in der Zunge Gewalt; und wer sie liebt, wird ihre Frucht essen.“ (Spr 18, 21) Der neutestamentliche Brief des Jakobus versteht sich als ein Appell für eine reine und wahrhaft christliche Lebensführung im Gegensatz von den immer auf dem Falschen und damit der Lüge basierenden Zungensünden, die ihren Ursprung nicht selten innerhalb von häretischen Bewegungen finden. Der Autor beschreibt die Zunge als die Wurzel allen Übels, ihre Gefährlichkeit als ein kleines Glied, das große Dinge anrichtet, indem sie nicht nur in der Lage ist, die ganze Welt anzuzünden, sondern selbst von der Hölle entzündet ist.6 Die Zunge also gilt es

gaben die Toten heraus, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken.“ (Offb. 20, 13) 5

Schyder 2003, S. 162. „So ist auch die Zunge ein kleines Glied und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an! Auch die Zunge ist ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit. So ist die Zunge unter unsern Gliedern: sie befleckt den ganzen Leib und zündet die ganze Welt an und sie ist selbst von 6

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stets im Zaum und unter Beobachtung zu halten. Anders ist eine wahrhafte innere Reinheit nicht zu erreichen. Eine zweite bedeutsame Textstelle des Neuen Testaments findet sich im Evangelium nach Matthäus, wo eindringlich vor dem unbedachten Gebrauch der Zunge gewarnt wird. So wird die Zungensünde der Pharisäer wider den Heiligen Geist nicht vergeben werden, die Jesu beschuldigt hatten, dieser habe die bösen Geister nicht anders ausgetrieben als durch ihren Obersten Beelzebul, weder in dieser noch in jener Welt.7 Und auch jedes nichtsnutzige Wort wird Rechenschaft verlangen am Tage des Gerichts.8 Die Thematisierung des sündigen Sprachverhaltens zielt auf die sorgsame Abwägung des gesprochenen Worts, noch bevor dieses über die Zunge in die Welt gelangt. Dies legt den Schluss nahe, dass im Zweifelsfall dem Schweigen gegenüber dem gesprochenen Wort generell der Vorzug zu geben sei. „Wenn das Nicht-Sprechen also auch kein Allheilmittel ist, sondern durchaus auch problematische Aspekte birgt, so setzen die Theologen doch vorrangig seine heilbringenden Seiten ins Licht, um im Gegenzug das Sprechen zu dämonisieren.“9

der Hölle entzündet. Denn jede Art von Tieren und Vögeln und Schlangen und Seetieren wird gezähmt und ist gezähmt vom Menschen, aber die Zunge kann kein Mensch zähmen, das unruhige Übel, voll tödlichen Giftes.“ (Jak 3, 5-8) 7 „Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben. Und wer etwas redet gegen den Menschensohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet gegen den heiligen Geist, dem wird’s nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt.“ (Mt 12, 31-32) 8 „Ich sage euch aber, daß die Menschen Rechenschaft geben müssen am Tage des Gerichts von jedem nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben. Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.“ (Mt 12, 36-37) 9 Bettina Lindorfer: Bestraftes Sprechen. Zur historischen Pragmatik des Mittelalters, München 2009, S. 48. 9

2. Das Schweigen in der Literatur „Jeder Sprechakt, heißt es, sei eine momentane Überschneidung des Gesagten und des Ungesagten.“10 Diese Äußerung Burkes erscheint mehr als berechtigt, entsteht doch das Gesagte ursächlich aus dem Ungesagten. Im Schweigen entstehen die ungesagten Gedanken gleichsam einem Netz aus einer mehr oder minder umfassenden Vielfalt an sprachlichen Optionen, die dem Sprecher zur Verfügung stehen, und die gesprochene Rede schließlich wird zu einem Desiderat, einem aus dem Netz der Optionen gebildeten funktionalen Ausschnitthaften, das der Sprecher dem Netz der Wörter in einer steten Mischung aus Berechnung und Willkür entnimmt. Der Ausschnitt entspricht hier der Überschneidung des Gesagten in der Rede und des Ungesagten im Schweigen, welches tatsächlich nur für den Moment der Rede gilt und im weiteren Verlaufe von Reflexion als einem Rasterverfahren durchaus stark differierende Redeergebnisse lieferte. Reden und Schweigen sind Mitteilungsformen. Das Schweigen und das gesprochene Wort sind, sich gegen- und wechselseitig bedingend, wichtige Kennzeichen kollektiver Identität und damit tragende Elemente aus ein und demselben Programm. Indessen ist jedes Sprechen „historisch, weil es in einer Tradition des Sprechens steht und damit einen historischen Gebrauch der Sprache reflektiert“11. Die Form der Sprache, die Wahl der Worte oder der Umfang der Rede, jedoch auch die Art und Weise des Schweigens sind stets dem historischen Kollektiv verhaftet, die Sprechakte selbst an historische Konventionen gebunden. Sprechakte wie das Versprechen, das Stottern aus Verlegenheit oder aus Unsicherheit, das Bitten und das Danken hingegen erscheinen weitgehend außerhalb eines historischen Kontextes und vielmehr dem Wesen des historischen wie des zeitgenössischen Menschen gleichermaßen inhärent als zeitgenössische wie „historische Formen des Eingehens von Verpflichtungen“12. Zwingt Schweigen als ein ‚Atem holen‘ schon aus physiologischen Gründen zur Leerstelle in der Rede, so ist deren Markierung zwischen Elemente und Fragmente von Gedanken gesetzt, die mit Hilfe von Interpunktion in der Schrift ein Gewebe (textus) 10

Peter Burke: Randbemerkungen zu einer Sozialgeschichte des Schweigens. In: ders.: Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin 1994, S. 65. 11 Bettina Lindorfer: Bestraftes Sprechen. Zur historischen Pragmatik des Mittelalters, München 2009, S. 21. 11