Schreiben im Blick. Schriftliche Formen der

Untersuchung ebenfalls mit aktuellen Ansätzen aus der embodied cognition, indem sie die Leiblichkeit sowohl des dialogischen Nachvollzugs als auch spe-.
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ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 49 Andrea Karsten Schreiben im Blick Schriftliche Formen der sprachlichen Tätigkeit aus dialogischer Perspektive

Andrea Karsten

Schreiben im Blick Schriftliche Formen der sprachlichen Tätigkeit aus dialogischer Perspektive

Berlin 2014

ICHS International Cultural-historical Human Sciences

ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Andrea Karsten Schreiben im Blick © 2014: Lehmanns Media GmbH • Verlag • Berlin

www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-656-8 Druck: docupoint GmbH • Barleben

Für meinen Großvater Georg Maier

Danke Diese Arbeit ist im Sommer 2012 als Dissertation am Institut für Allgemeine und Typologische Sprachwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen worden. Ich danke meinem Doktorvater Wolfgang Schulze für seine wertvolle Betreuung, sein Wissen und seine so gewinnbringende Bereitschaft zum Dialog mit den Ideen dieser Arbeit. Meine akademische Lehrerin und Zweitgutachterin der Dissertation Marie-Cécile Bertau hat mich mit ihrer Arbeit seit Beginn meines Studiums für eine dialogische Auffassung von Sprache begeistert. Ihre Stimme hat meine Arbeit und mein Denken geprägt und bereichert. Den Mitgliedern verschiedener psycholinguistischer Diskussionsgruppen und Kolloquien bin ich dankbar, dass sie die Entstehung der Arbeit mit ihren Gedanken und Hinweisen unterstützt haben. Besonders möchte ich hier Anke Werani nennen, die außerdem bereit war, Drittgutachterin der Dissertation und Mitglied der Prüfungskommission zu sein. Diese Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne Katharina, Elli und Martin, die eigentlich ganz anders heißen. Sie haben mir tiefe Einblicke in ihre Schreibtätigkeiten gegeben und damit meinen Forschungsprozess zu einem persönlichen Erlebnis werden lassen. Zuletzt gilt ein ganz besonderer Dank meinen Eltern, die mich in meinem Weg bestärkt haben, meiner Familie und meinen Freunden. Einige von ihnen haben Teile dieser Arbeit gelesen und kommentiert – dankeschön! Ich hätte es nicht geschafft ohne Lukas, der immer an meiner Seite war und mich auf ganz unterschiedliche Weise beim Schreiben dieser Arbeit begleitet hat: als erster Leser, Psycholinguist, IT-Fachmann und vor allem mit seiner unendlichen Geduld und liebevollen Unterstützung. Abschließend möchte ich den Herausgebern Georg Rückriem und Hartmut Giest dafür danken, dass die Arbeit nun als Monographie in der ICHS-Reihe erscheinen kann.

Inhaltsverzeichnis Vorwort Marie-Cécile Bertau & Wolfgang Schulze . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einleitung 1.1 Position, Perspektive und Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Argumentationslogik und Kapitelüberblick . . . . . . . . . . . .

21 21 25

I

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Dialogische Perspektive

2 Historische Situierung einer dialogischen Sprachauffassung 2.1 „The road not taken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Jakubinskij, Vygotskij, Vološinov, Bachtin: Thematische und biographische Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Forschungsinteressen konvergieren . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Lev P. Jakubinskij: Formen der sprachlichen Tätigkeit . 2.2.3 Lev S. Vygotskij: Sprechen und Denken . . . . . . . . . 2.2.4 Valentin N. Vološinov: Das Wort als soziales Ereignis . . 2.2.5 Michail M. Bachtin: Dialogizität der Äußerung . . . . . 2.3 Verbindende Quellen: Humboldt, Potebnja und Baudouin de Courtenay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Wissenschaftliche und philosophische Einflüsse . . . . . 2.3.2 Sprache als Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Verstehen: konstruktive und objektivierende Aspekte . . 2.3.4 Einbezug schriftlicher Formen der Rede . . . . . . . . . 2.4 Krisendiskurse und Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . .

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3 Äußerung und sprachliche Tätigkeit 3.1 Der Dialog als Paradigma von Sprache . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Äußerung als situations- und körpergebundene Tätigkeit .

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34 34 35 38 42 46 49 49 51 53 58 63

3.3

3.2.1 Die Sprechsituation als Zeigfeld und Chronotopos . . . . 3.2.2 Gegenseitige Wahrnehmung und Kontext der Äußerung 3.2.3 Position und Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialogische Verkettung, Variation und Typisierung . . . . . . . 3.3.1 Eigenschaften der Äußerung als sprachlicher Form . . . 3.3.2 ‚Vorbenutztheit‘ und Wiederaufnahme von sprachlichen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Typisierung und Verallgemeinerung als Prinzip . . . . .

4 Positionen im Dialog 4.1 Partizipationsstrukturen und Formen der Zugewandtheit Sprecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Andere Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Typisierungsprozesse und dritte Positionen . . . . . . . . 4.3.1 Imaginierte und verallgemeinerte Positionen . . . . 4.3.2 Soziale Deixis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Bachtins Dritte Position . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Konsequenzen für einen dialogischen Sprachbegriff

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der . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 Formen und Bedeuten 5.1 Bedeuten, Präsentieren, Inszenieren: Von der darstellenden zur dargestellten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Das Dargestellte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Bühlers Zweifelderlehre: Zeigarten und Versetzung . . . 5.1.3 Goffmans Rahmen-Analyse: Nachspielung und Einschachtelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Inszenierung: Gestaltung und Strukturierung der dargestellten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Performance und Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Goffmans Figuren: Darsteller und Dargestellte . . . . . 5.2.3 Interaktionale Linguistik: Animation von Figuren . . . . 5.2.4 Kognitive Linguistik: Ereignisvorstellungen und sprachliche Präsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Form zwischen Performativität und Konvention . . . . . . . . . 5.3.1 Wie viel Sprache braucht das sprachliche Theater? . . . 5.3.2 Kristallisierung: verfestigte und typisierte Formen der Präsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Inneres Sprechen – reflexive Zugewandtheit 175 6.1 Sprechen zu sich selbst als Anderer . . . . . . . . . . . . . . . . 175

6.1.1

6.2

6.3

II

Inneres Sprechen als reflexiv-zugewandte Form der sprachlichen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Form des inneren Sprechens und spezielle Beziehung von Gedanke und Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Kognitive Funktion des inneren Sprechens . . . . . . . . Entwicklung: Imitation und Interiorisierung der Positionen der Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Vygotskijs Konzept der Interiorisierung . . . . . . . . . 6.2.2 Imitation, Intersubjektivität und frühe interaktive Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Sprachliche Tätigkeit, Stimme und Interiorisierung . . . Wirkungsbereiche und Wirkungsweisen des reflexiv-zugewandten Sprechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Dialogisches und narratives Selbst . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Problemlösendes Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . .

Konzeptionen von Schreiben

7 Perspektiven der Schreibforschung 7.1 Ethnologische und kulturpsychologische Literalitäts- und Oralitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Soziolinguistische und ethnographische Literalitätsforschung . . 7.3 Kognitive Schreibprozessforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 Schreiben aus dialogischer Perspektive 237 8.1 Annäherung an die Besonderheiten des schriftlichen Modus . . 237 8.2 Folgerungen zum Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

III

Schreiben: Eine dialogische Studie

9 Methodik und Methode 9.1 Zur Methodenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Vorbemerkung: Über die Studie . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Grundlegende methodische Ausrichtung: qualitativ-explorative Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.3 Genetische Methode als kulturhistorisch und dialogisch angemessenes methodisches Vorgehen . . . . . . . . . .

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9.1.4

9.2

9.3

Konversations- und Diskursanalyse als unterstützende methodische Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Ausgangspunkt: Methode der Autokonfrontation als dialogische Methode in der Arbeitspsychologie . . . . . . . 9.2.2 Begründung der Methodenwahl und Variation der Autokonfrontation für die Untersuchung von Schreiben . . 9.2.3 Studienteilnehmer und ihre Schreibsituationen . . . . . 9.2.4 Phasen der Materialgenerierung und resultierende Artefakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.5 Materialanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Gütekriterien für qualitative Forschung . . . . . . . . . 9.3.2 Intersubjektive Nachvollziehbarkeit . . . . . . . . . . . . 9.3.3 Indikation des Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . 9.3.4 Empirische Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.5 Glaubwürdigkeit und Validierung . . . . . . . . . . . . .

10 Ergebnisse der Analyse: Signifikante Episoden in den Einzelfällen 10.1 Signifikante Episoden – Katharina . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Anlage des Texts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.2 Erster Textversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.3 Verwerfen des ersten Textversuchs und Neuanfang . . . 10.1.4 Zweiter Textversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.5 Zusammenfassende Ergebnisse der signifikanten Episoden bei Katharina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Signifikante Episoden – Elli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Vorüberlegung, Konzeption und Planung . . . . . . . . . 10.2.2 Eine Szene als Texteinstieg . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Positionierung der Figuren im Text . . . . . . . . . . . . 10.2.4 Zusammenfassende Ergebnisse der signifikanten Episoden bei Elli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Signifikante Episoden – Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Programmiersprachen-Analogie . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Explikationsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3 Etablierung von sprachlichen Formen . . . . . . . . . . . 10.3.4 Am konkreten Beispiel: ein Argument entsteht . . . . .

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10.3.5 Zusammenfassende Ergebnisse der signifikanten Episoden bei Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 11 Ergebnisse der Analyse: Kernthematiken im Vergleich 11.1 Identifizierung von Kernthematiken für die kontrastive Analyse 11.2 Dialogizität des Schreibprozesses: Form und Funktion reflexivzugewandten Sprechens beim Schreiben . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Reflexiv-zugewandte Positionen und ihre Stimmen . . . 11.2.2 Erzeugung synchronisierter Heterotopien . . . . . . . . . 11.3 Transformationen zwischen Vorstellen und Inszenieren im schriftlichen Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 Rekursives ‚Sich-selbst-Lesen‘ formt die Inszenierung . . 11.3.2 Der umgebende visuell präsente Kotext nimmt Einfluss auf die Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.3 Erinnerung und ‚aufgeschriebene Erinnerung‘ beeinflussen sich gegenseitig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Gattungskonventionen und assoziierte Adressaten- und Leserpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.1 Sprachliche Gattung und korrespondierende Positionen . 11.4.2 Katharinas Fall: knowledge transforming oder knowledge crafting? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Kognitive Funktionalität der aisthetischen Präsenz schriftlicher Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5.1 Nutzung von Räumlichkeit und Verdauerung zur sprachlichen Objektivierung von Vorstellungen . . . . . . . . . 11.5.2 Schriftliche Erinnerungshilfen durch Sinn-Einfluss . . . . 11.6 Fazit zu den Ergebnissen der kontrastiven Analysen . . . . . . 11.6.1 Formen und Funktionen reflexiv-zugewandten Sprechens beim Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6.2 Aisthetische Präsenz und rekursive Präsentation . . . . 11.6.3 Sprachliche Gattungen und Adressaten schriftlicher Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6.4 Objektivierung und Typisierung beim Schreiben . . . .

437 437

12 Reflexion der Analyse-Ergebnisse

497

13 Resümee: Schreiben im Blick 13.1 Blick zurück: Zentrale Begriffe und Ergebnisse . . . . . . . . . . 13.2 Ausblick: Implikationen und Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.1 Zur dialogischen Sprachauffassung . . . . . . . . . . . .

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13.2.2 Zur Methode der Autokonfrontation . . . . . . . . . . . 520 13.2.3 Zu den Ergebnissen im Hinblick auf Schreiben . . . . . . 521 Literaturverzeichnis

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Stichwortverzeichnis

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Anhang

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Vorwort Marie-Cécile Bertau & Wolfgang Schulze Eine neue, andere Sichtweise eröffnet das vorliegende Buch auf Schreiben, eine Sichtweise, die Schreiben im doppelten Sinn in den Blick nimmt. Zunächst im konkreten Sinne einer zeitlich sich erstreckenden und entwickelnden Tätigkeit mit ihrer ganz eigenen Phänomenalität. Diese zeigt den schreibenden, und das heißt hier, den denkenden und sprachlich tätigen Menschen in seiner körperlich-psychischen Aktivität auf bestimmte Weise. Etwas wird dabei dem betrachtenden Blick offen gelegt – vieles bleibt zugleich verborgen, ist doch Schreiben gerade an einem eher stillen Körper realisiert. Und dennoch wird auch die suchende, heuristische Bewegung zwischen Gedanke und Wort in dieser Phänomenalität manifest, sie wird zum Beispiel sichtbar an den Formulierungsversuchen, den Worten, die verändert, verworfen, behalten, erweitert oder umgestellt werden bis das Produkt entsteht, das wir „Text“ nennen: ein ablösbares Objekt, das Schreibende vor sich halten und weggeben können. Karstens empirische Studie nimmt diese zeitlich sich entfaltende Phänomenalität ernst, sie nimmt ihren Verlauf mit seiner je spezifischen Qualität auf und macht diesen in einem zweiten Schritt zum Gegenstand eines Gesprächs zwischen der Untersucherin und der schreibenden Person. Zusammen sehen sie die filmische Aufnahme des beobachtenden Blicks an, dieser Blick wird so in einem zweiten Schritt in einen gemeinsamen überführt, und im Dialog wird nun die fixierte Phänomenalität erkundet. Mit der qualitativen Methode der Autokonfrontation werden auf diese Weise die beiden Grundformen sprachlicher Tätigkeit verbunden: die individualsprachliche, hier schreibende, und die sozialsprachliche, sprechend-zuhörende Form der sprachlichen Tätigkeit. Es ist dieser ganze, beide Formen sprachlicher Tätigkeit umfassende Zusammenhang, der als erkenntnisstiftend angesehen und analysiert wird. In einem konzeptionellen Sinn wird das Schreiben anders in den Blick genommen, insofern es für Karsten eine Konzeption von Schreiben zu entwickeln gilt, die sich als Alternative zu aktuell dominanten Konzeptionen aus der kognitiven Schreibforschung versteht. Diese Alternative beruht auf einer dialogischen Auffassung sprachlicher, insbesondere sprachpsychologischer Prozesse, welche die sprachliche Tätigkeit gegenüber dem sprachlichen Werk privilegiert. Da-

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mit kommen Prozesse und Praktiken in den Vordergrund, welche die soziale, dialogisch geformte Kommunikation aufrufen und den Anderen der sprachlichen Tätigkeit präsent machen – als Adressaten, als Zuhörer, als Beurteiler, als Empfänger, der verstehen soll. Es ist also die Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, die hier zugrundeliegt, der Sprache nicht als ergon (Werk), sondern als energeia (Tätigkeit) gilt, und wo sich der klare Begriff erst in der Anrede an den Anderen und an dessen Erwiderung bildet (Humboldt, 1827/1994): ein Objektivierungsvorgang, der den Gedanken im Wort vollzieht, klärt, objektiviert und damit öffentlich macht. Eben dies hat die sowjetische Sprachpsychologie in der kulturhistorischen Psychologie der Tradition Lev Vygotskijs aufgenommen und entwickelt. Es ist bemerkenswert, dass diese Tradition mit dem Kernbegriff der Tätigkeit auf Humboldts energeia verweist: Aleksandr Potebnja 1894/1976) hat nicht nur die Humboldt’sche Tradition in Russland begründet, sondern auch der Humboldt’schen energeia das Wort dejatel’nost zugewiesen (Seifrid, 2005) – Tätigkeit also, mit der kulturhistorischen Psychologie und der Tätigkeitstheorie zum Terminus geworden. Demgemäß wird von Karsten die Tätigkeit des Schreibens als sprachliche Praxis aufgefasst, die in sprachliche und soziale Praktiken eingebunden ist – keine monologische Leistung der Individualkognition, sondern eine Form sozialer Praxis, deren psychologische Dimension sowohl von dem Aspekt des Sozialen als auch von dem der Praxis geprägt ist. Wie diese Prägung im Schreibprozess an den sprachlichen Formen manifest wird, ist die grundlegende Frage von Karstens Untersuchung: Wie gestaltet sich die schriftliche Tätigkeit, wie „erscheint“ Schreiben? Mit dem erklärten Ziel auf diese Weise eine dialogische Konzeption von Schreiben zu entwickeln ist Karstens Untersuchung ein wertvoller Beitrag zu einem Forschungsparadigma, das – in einer Anzahl von beispielsweise sprach-, identitäts- und sozialpsychologischer sowie sprachpragmatischer Ansätze – Gegenentwürfe zum methodologischen Individualismus erarbeitet (Gallagher, 2012). So trägt die Untersuchung wesentlich dazu bei, eine kulturhistorisch fundierte Psycholinguistik mit einer dialogischen Konzeption von Sprache weiter zu entwickeln (Bertau, 2011). Die Arbeit differenziert und vertieft das Verständnis der Dialogizität und Sozialität von Sprache und Denken, Grundlegendes leistet sie insbesondere bei der Erforschung des inneren Sprechens und seiner Verwobenheit mit sozialsprachlichem Sprechen. Die gewählte, für sprachpsychologische Fragen innovative Methode der Autokonfrontation erweist sich dabei als äußerst fruchtbar, denn sie erzeugt Formen der Widerspiegelung und Brechung der in der Schreibtätigkeit stattfindenden individualsprachlichen Sprech-Denkprozesse. Theoretisch und empirisch ist die Studie damit höchst anschlussfähig an die aktuelle internationale tätigkeitstheoreti-

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sche Schreibforschung, wie sie etwa in den Arbeiten von Bazerman und Russel (2003) und von Prior (2001, 2003) gegeben ist. Im Weiteren differenziert die Untersuchung die sozialpsychologische, an aktuellen Interaktionsprozessen interessierte Positionierungstheorie (Langenhove & Harré, 1999), indem sie die der sprachlichen Tätigkeit zugrunde liegenden Positionierungsdynamiken im Schreibprozess analysiert: dieser zeigt eben dann deutlich seine Dialogizität. Unter anderem wird deutlich, anhand welcher Positionen Schreibende ihre Tätigkeit gestalten, und die formende Rolle dieser Positionen für die sprachliche Ausformung des Textes, für seine Beurteilung und seine Revisionen wird klar. Die Leser- oder Adressatenposition wird einer Differenzierung unterzogen: für die Schreibforschung ergibt sich damit, dass weniger von einer Leserrepräsentation als von einer Positions- oder Perspektivenübernahme auszugehen ist. Die Präsentations- und Inszenierungsformen dieser Positionen zeugen von der Komplexität der Abstraktions- und Entfaltungs- oder Konkretionsmöglichkeiten, die Schreibende beim Schreiben haben können, und die sich in „Objektivierungsgrade“ niederschlagen. Transformationen zwischen verschiedenen Objektivierungsgraden verbinden unterschiedliche Materialisationen des Gedachten und zu Schreibenden (akzeptierter Fließtext im Computer, Notiz auf Beiblatt, Skizze u.a.) mit dem Geschriebenen. Schließlich verbindet sich die Untersuchung ebenfalls mit aktuellen Ansätzen aus der embodied cognition, indem sie die Leiblichkeit sowohl des dialogischen Nachvollzugs als auch spezifischer Momente der dialogisch-sprachlich Tätigkeit beim Schreiben genau analysiert. Der Abschied von der Individualkognition ist damit konsequent vollzogen, sprachliche Tätigkeit ist in allen ihren Formen eine soziale Praxis, die leibliche, gesellschaftliche Individuen aufeinander bezieht. Systematisch schließt sich die Arbeit demnach an Traditionen der Schreibforschung an, die versuchen qua Experiment und Modell das ‚Unsichtbare‘ der zugrunde liegenden (sozio-)kognitiven Prozesse sichtbar zu machen. Allerdings geht Karsten wie oben schon gesagt weit über diesen Punkt hinaus, indem sie sich bemüht, den Prozess des Schreibens im dreifachen Sinn des Wortes zur Sprache zu bringen – im dreifachen Sinne deshalb, weil neben das Sichtbarmachen einerseits noch die Dimension der Sprache an sich tritt, als konstitutive Größe innerhalb der Schreibprozesse, und weil andererseits im Experiment die Schreibenden (bzw. geschrieben Habenden) ihre Schreibprozesse qua Sprache reflektieren. Karsten macht klar, dass für sie Prozesse des Schreibens ohne ein adäquates Verständnis von Sprache nicht zu greifen sind. Dies ist sicherlich zutreffend, gerade weil in den klassischen Sprachwissenschaften die Dimensionen Sprache und Sprachtätigkeit (bzw. -handeln) in ihrem Zusammenspiel selten genauer modelliert werden und mal zu scharf, mal zu unscharf abge-