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Renate Lachmann. Eberhard Lämmert ... Dr. Renate Lachmann (Slavistik und Allgemeine Literaturwissenschaft). Prof. ... wird uneingeschränkt und mit großer.
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IN DIESEM HEFT Sonderdruck Beiträge von: Anselm Haverkamp,

K. Ludwig Pfeiffer, Manfred Starke, Miorita Ulrich

Beiträge über: Die Aufhebung

Verschwiegener

Renaissance,

Klassik und dem 18. Jahrhundert

Charles Baudelaires des Sprechens

Lorbeer:

"Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum"

derIin, Andenken) Detektivroman,

POETICA ZEITSCHRIFT FüR SPRACH- UND LITERATURWISSENSCHAFT

von Antike,

im Modernismus Die Nachahmung

aus

Großstadt

oder ein zweiter Weg in die Moderne

Besprechungen über: Vilem Flusser, Die Schrift Theodor Wolpers (Hrsg.), Gelebte Literatur in der Literatur

(Höl-

Herausgegeben

von

Karlheinz Stierle

Mitherausgeber:

Ulrich Broich HeJlmut Flashar Renate

Lachmann

Eberhard

Lämmert

Volker Schupp

20. BAND.

VERLAG

1988 . Heft 3-4

B. R. GRÜNER

AMSTERDAM -VERLAG B. R. GRÜNER AMSTERDAM

INHALT VON HEFT 3-4 DES ZWANZIGSTEN

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"Bread.and-bu tter, bread-and-butter"

BANDES

mel geeignet ist; man könnte etwa brevas-y'-brunos brevas-y-brunos oder butifarra, butifarra vorschlagen, wenn diese Namen von Früchten und dieses Regionalwort (etwa .,Schinkenbrot", "Brötchen mit Schinken und Käse" u. ä.) spanischen Kindern im Alter von Alice bekannt sind. Für das Rumänische schließlich schlagen wir burduf-de brfnza, burduf-de-brinza, "Käsebalg" , oder brinza-de-Braila, brinza-de-Braila, "Bräila-Käse", vor. J

Aufsätze Manfred Starke, Die Aufhebung von Antike, Renaissance, Klassik und dem 18. Jahrhundert im Modernismus Charles Baudelaires

171

Anselm Haverkamp, Verschwiegener Lorbeer: "Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum" (Hälderlin, Andenken), Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Petrarkismus in Deutschland

218

K. Ludwig Pfeiffer, Mentalität und Medium: Detektivroman, stadt oder ein zweiter Weg in die Moderne .

234

Miorita Ulrich, "Bread-and-butter, ahmung des Sprechens

bread-and-butter"

-

Groß-

Zur Nach260

Besprechungen Vilem Flusser, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? mann) ,

(Aleida Ass-

Theodor Wolpers (Hrsg.), Gelebte Literatur in der Literatur. Studien zu Erscheinungsformen und Geschichte eines literarischen lvlotivs (Gerd Stratmann) .

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Büchereingang

292

.

POETICA erscheint vierteljährlich. Der Abonnementspreis beträgt jährlich DM 160,-. Einzelpreis des Heftes DM 44,-. Bezug über jede gute Buchhandlung. Vorzugsabonnement für private Bezieher (bei Bezug direkt vom Verlag) DM 80,-. Manuskripte und Besprechungsstücke werden erbeten an einen der Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Broich (Anglistik) Prof. Dr. Hellrnut Flashar (Klassische Philologie) Prof. Dr. Renate Lachmann (Slavistik und Allgemeine Literaturwissenschaft) Prof. Dr. Eberhard Lämmert (Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft) Prof. Dr. Karlheinz Stierle (Romanistik) Prof. Dr. Volker Schupp (Mediävistik) - Anschriften der Herausgeber s. dritte Umschlagseite Ein Stilblalt wird auf Anforderung zugesandt von der zentralen Redaktion: c/o Prof. Dr. Karlheinz Stierle, Fachgruppe Literaturwissenschaft der Universität Konstanz Postfach 5560 D-7750 Konstanz / Germany Verlag: B. R. Grüner, Nieuwe Herengracht 31, 1011 RM Amsterdam (Holland). Gesamtherstellung: Verlag Ferdinand Kamp GmbH & Co, KG Bochum. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. ISSN 0303-4178

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V iI e m F Iu 5 S er: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen: Immatrix Publications, 1987. 158 S. Modifizierte Ausgabe auf Diskette für IBM~PC und Kompatible. Programm- und Textdiskctte, bearb. von W. Freise. Geschichte und Philosophie der Schrift - ganz im Gegensatz zu der der Sprache - besitzen noch kaum den Status einer etablierten Disziplin. Weder sind Konzessionen und Kompetenzen, noch ist eine klare Diskufsform für dieses Feld fest bestimmt. So handelt es sich noch immer um Neuland, in dem sich Theoretiker und Empiriker verschiedenster Couleur tummeln. Während Medienhistoriker sich mit großem Fleiß daran gemacht haben, das schier unerschöpfliche Material der Buchgeschichte als eine erstrangige Quelle der Mentalitätsgeschichte zu erschließenl, sind es besonders Anfang und Ende der Schrift, an denen sich die Faszination kristalli~ siert. Die Ethnologen und Soziologen, die die Schrift von ihren Anfängen her beschreiben2, lenken den Blick gerne auf jene folgenreiche Weichenstellung der Menschheitsgeschichte, die eine (im wahrsten Sinne des Wortes) unwahrscheinliche kulturelle Evolution in Gang gesetzt hat. Die Kulturkritiker, die sich mit der Schrift. von ihrem Ende her beschäftigen, fassen eine nicht weniger epochale menschheitsgeschichtliche Zäsur in den Blick. Zu diesen letzteren gehört Vilem Flusser. Sein Buch mit dem ebenso schlichten wie imperialen Titel Die Schrift ist - das wäre seine knappste Charakterisierung - gegen dieses Ende der Schrift an- und in es hineingeschrieben. Die im Untertitel aufgeworfene Frage: "Hat Schreiben Zukunft?" wird uneingeschränkt und mit großer Bitterkeit verneint. Auf die Schriftgeschichte, jene "einzige, dreitausend Jahre lang laufende Zeile" (S. 134) blickt das Buch als eine kurze, nunmehr abgeschlossene Episode zurück. Deshalb präsentiert sich der Text konsequenterweise als "erstes wirkliches Nichtmehrbuch" auch in Diskettenform. Gerade diese Alternative, die auf die Erfordernisse und Zwänge der neuen Technologie einstimmen soll, macht freilich die Unentbehrlichkeit und Unersetzlichkeit des guten alten Buches erst wirklich bewußt. Der Reiz, sich auf dem Bildschirm mit Vornamen anreden und mit Text~ Auswahlmenüs bewirten zu lassen, kann den optisch-haptischen GebrauchsKomfort dieses altbewährten Vademecums schwerlich aufwiegen. Wie aber schreibt man, wenn man von der Schrift Abschied nimmt? Mit einem Wort: exponiert. Der Schreiber tritt heraus aus dem Schutzwa!l der Diskurse und der Filiation der Schreibenden. Er ist allein mit sich, der Sprache und der Schrift. Essay oder Versuch ist der Text vor allem in der Aufmerksamkeit, mit der der Schreiber auf die Resonanzen der Worte und Wahrnehmungen lauscht. Für beide Register je eine Kostprobe. Zuerst für das Etymologisieren: ,,,Lesen' (Iegere,legein) bedeutet Herauspicken, Klauben. Die Tätigkeit dieses Klaubens heißt ,Elektion', die Fähigkeit dazu heißt ,Intelligenz', und das Resultat des Klaubens heißt ,Eleganz' und ,Elite'." (S. 79) Sodann für das P h ä n 0 m e n 0 log i sie ren: Die Bibliothekswand bildet eine Wand zweiten Grades, ein Geflecht von Armen, die uns ergreifen, wenn wir "einen Buchrücken aus der Wand herausgreifen und das ergriffene Buch umdrehen, um uns von ihm ergreifen zu lassen" (5. 96). (Dieser Vorgang wird dann näherhin unter dem Stichwort "Revolution" ergründet.)

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Hierfür nur drei Beispiele, zwei davon unter der Ägide von Roger Chartier: Prat;ques de la leeture, Marseille 1985 und Les Usages de l'imprime, Paris 1987 sowie neuerdings Ivan Illich/Barry Sanders, Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988. Von Jack Goody zuletzt: The Interface Between the Written and the Oral, Cambridge 1987.

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Die Geschichte der Schrift von ihrem Ende her schreiben heißt, die Gegenwart als eine epochale Zäsur dramatisieren. Von solcher Dramatisierung lebt das Buch. Das ist nichts neues. Man denke an Günther Anders' Postulat von der "methodischen Übertreibung". Latente Gefahren einer embryonalen Lage, so meinte er, könne man nur sichtbar machen, wenn man sie um ein Vielfaches herausvergrößere3• Flussers Dramatisierung ist jedoch von anderer Art. Sein Buch versteht sich als ein letzter Text. Letzte Texte, ob es sich nun um Schlußworte, Vermächtnisse, Testamente oder Nekrologe handelt, besitzen ihre eigene Weihe; sie sind pathetischer, apodiktischer, radikaler als andere Texte. All das trifft für das vorliegende (Nicht-mehr-)Buch zu. Es versteht sich als eine Brücke über dem Abgrund zwischen alter Schriftkultur und neuer Medienwelt. Indem es von den historischen Gestaden westlicher Kultur zur terra incognita der Zukunfts kultur über-setzt, inszeniert es die Schwelle zwischen Gestern und Morgen. Worum geht es bei diesem imposanten Abbruch und Aufbruch? Es geht präzis um jene technische Revolution, die Informationen aus ihrem alphabetisch materiellen in einen elektromagnetisch immateriellen Status überführt. Wer aber meint, es handle sich da lediglich um Varianten der Notationsverfahren, geht fehl. Diese Revolution, die ohne Thesen und Parolen daherkommt, vollzieht sich lautlos und unsichtbar. Aber sie bewirkt nichts weniger als eine tvIutation der conditio humana von noch unabsehbarer Reichweite. "Wir sind dar an, körperlich und noch stärker gedanklich von der Erde abzuspringen, alles Chthonische, nämlich alles sich auf die l\lutter Erde stützende hinter uns zu lassen." (S. 105) Es ist nicht vorrangig zu entscheiden, ob wir reicher oder ärmer werden dabei - wir werden auf alle Fälle anders. Die Welt ist im Begriff, sich in einen Traum oder in ein Spiel unendlicher Variabilitäten zu verwandeln. Digitalisierung, also die numerische Manipulation auditiver und visueller Wahrnehmungen öffnet einen Möglichkeitsraum, welcher die menschliche Phantasie beschämt. Die Technik selbst übernimmt das ehemals Gott bzw. dem Menschen zugesprochene Prädikat ,schöpferisch', da sie im Zufallsspiel komputierter und permutierter Gestalterzeugung alles menschliche Ausdruckswollen in den Schatten stellt. Da der Mensch nicht nur Schöpfer sondern auch Geschöpf seiner Werkzeuge ist, rribt es keine Technik, die nicht auf seine bild bare Substanz zurückschlüge. Die Schrift ist eben nicht nur eine Technik, sie ist auch ein Existential. Nach Flusser ist die Alphabet-Schrift verantwortlich für das "historische Bewußtsein" (S. 11), die ,historisch-politisch-ethische' (vgl. S. 60) Denkart, kurz: die westliche Ku~tur. ?ie spitzfindige Technik, die Sprache in distinkte Laute zu zerlegen und sodann Iß ZeIlen geordnet zu kombinieren gilt als Quellgrund eines ganzen Bündels von Errungenschaften und Garant von Werten wie Reflexion, Kritik und Freiheit. Diesseits also die Allianz von Schrift und Geschichte, jenseits die Allianz von technischen Bildern und Nachgeschichte; auf der einen Seite die historisch-politisch-ethische, auf der an~ deren die funktionell-kybernetisch-wertfreie Denkart. Es ist die These des Buches, daß dieser Exodus aus einer menschen bezogenen in eine apparatgerechte Welt mit der Verabschiedung der Alphabet.Schrift zusamme~fällt. Wir wollen einige Beispiele aufführen, die zeigen, wie sich diese These in wemger monolithischer Form ausnimmt. .. Die Aus zeh run g der Kr i t i k. Die Alphabetschrift bietet eine fädelnde, m Zeilen geordnete Kodierung sprachlicher Gedanken. Wo es Zeilen gibt: kann und

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Die Antiquierlheit des Menschen, 2 Bde., München 1956-1980, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, S. 15.

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muß man auch zwischen den Zeilen lesen. Es reicht nicht, entlang der Linien Zeichen zusammenzuklauben. man muß auch den eingefalteten Mehrwert aufzuspüren und das implizite Geheimnis aufzuklären trachten. Das kritische Lesen wie das kritische Denken richtet sich auf das Ungesagte. Es setzt Kriterien, d. h. Unterscheidungen, Betonungen, Wertungen voraus. Die künstlichen Gedächtnisse jedoch kennen keine Scheidung zwischen Hintergrund und Vordergrund mehr. Es bleibt nichts aufzubre. ehen übrig, wo alles bereits in seine kleinsten Bestandteile zerlegt ist. Was immer über den Bildschirm flimmert - es steckt nichts dahinter. Nichts als kornputierte Elektronen in netzartigen, ewig neu kombinierbaren Arrangements. Strukturwandel der Kommunikation. Die in Zeilen sortierten Schriftzeichen sind gerichtet. Sie laufen zunächst auf einen Punkt und sodann, über diesen hinaus, auf einen Adressaten zu. Geschriebene Texte sind ,Halbfabrikate' in dem Sinne, daß sie den Anderen brauchen, um sie zu vollenden. Briefe sind der Inbegriff dieses Lesens und Schreibens. Einen Text wie einen Brief zu lesen heißt, die Gegenwart des Anderen anzuerkennen. Wenn Texte nicht mehr geschrieben und gelesen werden, ändert sich das. Apparate werden programmiert und Informationen permutiert. Bedienung und Selbstbedienung sind 'die neuen Formen der ,Kommunikation' (übrigens ein Wort, das im Vokabular des langjährigen Professors für Kommunikationsphilosophie in Sao Paulo ni c h t vorkommt). Zum Strukturwandel der Kommunikation gehört, daß Informationen global diffus und synchronisch präsent werden. Sie verdichten sich in einem Dauerstrom, der gespeichert, ausgestrahlt, quergeschaltet, abgerufen wird. Das für die Briefkultur konstitutive Warten erübrigt sich und mit ihm ein wesentlicher Teil vom Geheimnis des Anderen. Der Strukturwandel der Macht. In der westlichen Tradition ist die für jede Kulturformation wesentliche Allianz von Wissen und Macht als Allianz von Geist und Schrift geschichtsmächtig geworden. Schrift wurde dabei ebenso zum Träger der Macht wie zu ihrem Widerpart. Das ,Machtfeld der Feder' (vgl. S. 125) kann deshalb geradezu als Unterbau der westlichen Gesellschaft bezeichnet werden. Nur im Zeitalter der Schrift hatte die einsame Stimme eine Chance, die sich gegebenenfalls zwischen den Zeilen artikulieren konnte. Mit der Informatisierung der Gesellschaft geht die Macht mit dem Wissen ein neues Verhältnis ein. Sie erweist sich nicht mehr an ihrem Widerstand, "um überhaupt erst wirklich zu werden" (S. 124). Das Ende der Schrift ist auch der Untergang der Politik. Die kybernetische ist die entpolitisierte Macht: "Die Entscheidungszentren sind automatisch geworden, sie greifen komplex ineinander über, und die getroffenen Entscheidungen sind nicht mehr politisch zu fassen: Sie sind nicht mehr Funktionen von Interessen, sie sind Funktionen von anderen Apparatfunktionen. " (S. 113) Die Barbarisierung der Sprache. Über drei Jahrtausende war die Alphabetschrift der schützende Behälter der Sprache. Im Gefäß der Schrift aufgehoben konnte sie von Generation zu Generation weitergereicht zu einem immer feingliedrigeren und elastischeren Instrument ausgebildet werden. Die Alphabetschrift, die ja im Gegensatz zu den ikonischen Schriften nicht unmittelbar auf die Welt, sondern stets mittelbar auf die verschiedenen Einzelsprachen zeigt, machte es erforderlich, daß alles Denken, Wollen, Fühlen und Erleben stets ,den langen Umweg über die Sprache' nehmen mußte. Schrift und Sprache waren zusammengejocht. Die digitalen Codes verzichten wieder auf den Umweg über die Sprache, sie befreien Schrift und Sprache vom gegenseitigen Joch. Die schriftlos gewordene Sprache vagabundiert, plappert, raunt. Sie ist von einer Generation zur nächsten kaum noch wiederzuerkennen und verliert den Status einer kontinuierlichen, kollektiven kulturellen Investition. Es werden sich kaum noch Eliten und Institutionen finden, die mit ihrer Pflege und Bewahrung betraut werden könnten.

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Hier sind wir sicherlich am neuralgischen Punkt der Gegenwartsdiagnose angelangt. Auf dem Spiel steht nicht nur die Schrift sondern - durch sie hindurch das zentrale Organon menschlicher Kultur und Vergesellschaftung, die Sprache. Wir kennen bereits ähnliche Stimmen. Vor zwanzig Jahren hat Hannah Arendt auf die Entsprachlichung der Welt in den Naturwissenschaften hingewiesen. Sie sah deutlich die Schere, die sich auftat zwischen einer sprachlichen und einer sprachlosen Welt, die nämlich der logischen und mathematischen Symbole, welche sich auf keine Weise in Gesprochenes zurückverwandeln läßt. Die Wissenschaftler, so schrieb sie, leben "in einer sprach-losen Welt, aus der sie qua Wissenschaftler nicht mehr herausfin. den", und sie macht sich Sorgen über eine mit dem Sprachentzug verbundene Verkümmerung der Urteilsfähigkeit4• Was bis vor kurzem das Problem einer Elite war, ist im Zeitalter der pes eine universale Möglichkeit. Heute kann jedermann aus der Sprache auswandern und es mit anderen Codes versuchen. Die Sprache, nach Heideggers beschaulicher Formel das Haus des Seins, ist jetzt abbruchreif und wird geräumt. Wir stehen, so heißt es, im Schatten von Maschinen, die das Sprechen obsolet werden lassen und, wie einstmals die Gestik, auf das Niveau eines Hilfscodes absenken. Von diesem Absterben der Sprache als Träger menschlicher Kultur ist Flusser überzeugt. Mit einer geradezu masochistischen Schärfe insistiert er darauf, daß "in Zukunft alle wie immer gearteten Laute dem Bild zueilen werden" (S. 132). Man wird den affektiven Gehalt eines solchen Satzes schwerlich ermessen können, wenn man das zugrundeliegende Denkmuster mißkennt. Es ist der Kampf zwischen Bild und Wort im archetypischen Kulturkonflikt Ägypten versus Israel, der hier, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, mit unverminderter Kraft das Denken heimsucht. Von Ägypten und Israel ist nicht die Rede, wohl aber von einer in mythischen Kreisen eingeschlossenen Bildkultur und einer geschichtlich fortschreitenden alphabetischen Schriftkultur . In der späten Bronzezeit trug die zweite über die erste den Sieg davon, heute, nach dreitausend Jahren sind ihre Potentiale ersc~.öpft und die erste gewinnt wieder die Oberhand. Wir sind im Begriff, in ein zweites Agypten zurückzukehren in eine Welt in der die geschichtslosen Bilder herrschen. Dies~s Deja vu, w~lches die postmoderne elektronische Situation verhohlen mit dem idolatrischen Ägypten, die bewußtlos und ohnmächtig konsumierte Bilderflut mit dem mythischen Dämmerzustand der Prähistorie koppelt, ist verantwortlich f~r eine phobische Einfärbung der aktuellen Kulturdiagnose. Das Trauma der Idolatne schimmert durch die Beschreibung der Gegenwartskultur durch. Die Script-writer etwa die die Schrift in den Dienst der Bilder stellen, sind Frevler (Stichwort: la trahison des clercs!), die "dem Bilderteufel [... ] opfern" (S. 136). Gegen den dogmatischen Akzent dieser Perspektive ist mit Argumenten nicht anzukommen. Es wäre müßig, zu betonen, daß Ägypten kaum dem Zerrbild einer schlechthin prähistor~sehen Kultur entspricht, jener Folie, auf die das antike jüdische Selbstverständms ebenso angewiesen war wie das der Aufklärung. Ebensowenig kann die Evidenz etwas ausrichten, daß lineare Silbenschriften in Mesopotamien und Vorderasien bereits zweitausend Jahre vor der phönizischen Alphabet-Schrift in Gebrauch waren, daß in Ägypten Bilder nicht nur unkritisch kontemplierte Idole waren, sondern meist als eine Schrift gelesen wurden, daß bildliche und schriftliche Codes in aller Reg:l in einem Komplementär-Verhältnis stehen und ihre gegenseitige Ausschließlichkeit allenfalls historische Ausnahmen (wie den jüdischen oder puritanischen Ikonoklasmus) kennzeichnet.

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Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1960, S. 10.

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INHALT DES NÄCHSTEN

Der Reiz wie die Gefahr dieses Epilogs liegen in der Radikalität des Denkens. Das messianische Versprechen: "siehe, es wird alles neu werden" hat seine Entsprechung in der kulturkritischen Warnung: "es wird nichts beim alten bleiben". Beide Sätze sind performativ in dem Sinne, daß ihre Rhetorik selbst ein Motor jenes ersehnten oder gefürchteten Umschlags ist. Die religiöse Konversion und der wissenschaftliche Paradigmawechsel sind Beispiele für die Forderung totaler Ersetzungen, die so in der Geschichte mit all ihren geistigen und technischen Revolutionen nicht vorkommen. Der Mensch - so ist zu hoffen - ist ebenso wie die mit ihm gewachsene Kultur nur begrenzt revolutionierbar .

Aufsätze:

Heidelberg

Besprechungen

Aleida Assmann

Stefan Nienhaus, Die "scharfe Spitze der Unendlichkeit". Baudelaire.Zitates im \Verk Hugo von HofmannsthaIs

••Wir sprechen in diesem Band von ,gelebter Literatur in der Literatur', wenn eine literarische Figur aufgrund von Begegnung mit (schöner) Literatur [... J einen Prozeß von bewußter oder unbewußter, von zeitweiliger oder zum Habitus gewordener Literaturnachahmung durchläuft." (5. "lI) Das Motiv, welches "sich auch als das des literaturnachlebenden Helden oder der literaturnachlebenden Heidin bezeichnen ließe" (S. 7), scheint damit in ausreichender Eindeutigkeit definiert. Auch seine geistes geschichtliche Bedeutsamkeit leuchtet unmittelbar ein. Indem es nämlich, ob im Don Qllljote (dem Prototyp) oder z. B. in Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W., die Literatur gegen die Wirk. lichkeit und diese gegen die Literatur ausspielt, wird es zum Indiz einer spezifisch neuzeitlichen Skepsis und Gespaltenheit, die mit entsprechend ,modernen' poetologischen Positionen einhergeht. Doch was auf den ersten Blick so plausibel erscheint, verliert zunehmend an Kon. tur, sobald sich das Vorwort der mühsamen Aufgabe stellt, das Motiv einzugrenzen, genauer; eine Reihe von Varianten und Aspekten begründet aus der Betrachtung

Bedeutung eines

Jürgen Sieß, "Plätze, 0 Platz in Paris, unendlicher Schauplatz". Ort in Rilkes Paris-Schauplätzen \Vilhelm Füger, Intertextualia Orwelliana. Untersuchungen und Praxis der Markierung von Intertextualität

BEIHEFTE

Theodor Wolpers (Hrsg.): Gelebte Literatur in der Literatur. Studien zu Erscheinungsformen und Geschichte eines literarischen Motivs. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliehe Motiv. und Themenforschung 1983-1985 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philo. logisch.Historische Klasse. Dritte Folge. 152). Göuingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 1986. 364 S. Der Sammelband, aus der mehrjährigen Arbeit einer Forschergruppe entstanden, ist vor allem in zweifacher Hinsicht anregend und lehrreich: einmal als der gemeinsame und ehrgeizige Versuch von Literaturwissenschaftlern verschiedener Philologien, die Grenzen des Motivbegriffs zu erweitern und seine komparatistische bzw. literar. historische Bedeutung exemplarisch zu bekräftigen; zum anderen als eine vergleichsweise geschlossene Folge von Einzelstudien, die die jeweilige Erscheinungsweise und Funktion eines anfangs definierten Motivs in bestimmten Werken der spanischen, englischen, französischen, deutschen, tschechischen, russischen und skandinavischen Romanliteratur untersuchen. Das "Gemeinsame Vorwort der Beiträger" (5. 7-29), für dessen Schluß fassung Theodor Wolpers verantwortlich zeichnet, bemüht sich zunächst um eine möglichst präzise Bestimmung, Klassifikation und Eingrenzung des Gegenstandes:

HEFTES

Zeit und

zur Theorie

ZU POETICA

Zuletzt erschienen: Heft 18: Ursula Link-Heer, Prousts A la recherche du temps perdu und die Form der Autobiographie. Zum Verhältnis fiktionaler und pragmatischer Erzähltexte, 1988. 348 S. Leinen 95,- DM In Vorbereitung: Heft 19: Elmar Lehmann, Drama und Gesellschaft. schen Restaurationszeit, 1660-1685

An~chriften der Herausgeber

Eine Studie zur engli-

von POETICA:

Prof. Dr. Ulrich Broich, Institut für Englische Philologie der Universität München Schellingstraße 3 D-8000 München 40 / Germany Prof. Dr. Hellmut Flashar, Institut für Klassische Philologie der Universität München Geschwister-Scholl-Platz I D-8000 München 22 I Germany Prof. Dr. Renate Lachmann, Fachgruppe Literaturwissenschaft der Universität Konstanz Postfach 5560 D-7750 Konstanz / Germany Prof. Dr. Eberhard Lämmerl, Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der F. U. Berlin Hüttenweg 9 D-1000 Berlin 33 / Germany Prof. Dr. Karlheinz 5tierle, Fachgruppe Literaturwissenschaft der Universität Konstanz Postfach 55 60 D-7750 Konstanz / Germany Prof. Or. Volk er Schupp, Deutsches Seminar der Universität Freiburg Werthmannplatz D-7800 Freiburg i. Br. / Germany

VERLAG B. R. GRÜNER AMSTERDAM