Rettende Geschwister

plantation zwischen Kindern etabliert. Kinder spenden nachwachsende Kör- pergewebe für ein Geschwisterkind, wenn es diesem im Falle einer schweren.
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Die Knochenmarkspende von Kindern für Geschwister, die an Leukämie erkrankt sind, ist eine lebensrettende Therapie. Kinder sind aber noch nicht in der Lage, selbst eine Einwilligung zu geben. Wie sollen Kinder beteiligt werden? Welche ethischen Fragen stellen sich? Die Beiträge diskutieren moralische, rechtliche, psychologische, philosophische und gesellschaftliche Aspekte: Fragen zur Freiwilligkeit bei der Einwilligung zu einer Spende, zur Verletzlichkeit des Kindes und zu Verstrickungen in Familienbeziehungen, zum Verhältnis von Recht und Ethik, zur möglichen Diskrepanz von Kindeswohl und Kindeswille und zu den Kinderrechten. Wie sich zeigt, geht es um mehr als um die Einwilligung selbst, nämlich um das Integrierenkönnen der Spende (oder in seltenen Fällen der Entscheidung gegen sie) in die Biographie des Spenderkindes, um die psychische und narrative Verarbeitung innerhalb der Familiengeschichte, um die Sicht auf die Geschehnisse aus der Retrospektive Jahre später. Diese Aspekte haben Implikationen für das Verständnis und die Bedeutung von »Zustimmung« und »Zumutung« auch in anderen Bereichen der Medizin, in denen eine rettende Behandlung kaum abzulehnen ist.

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Schües | Rehmann-Sutter (Hrsg.) · Rettende Geschwister

Christina Schües | Christoph Rehmann-Sutter (Hrsg.)

Rettende Geschwister Ethische Aspekte der Einwilligung in der pädiatrischen Stammzelltransplantation

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Schües/Rehmann-Sutter (Hrsg.) · Rettende Geschwister

Christina Schües, Christoph Rehmann-Sutter (Hrsg.)

Rettende Geschwister Ethische Aspekte der Einwilligung in der pädiatrischen Stammzelltransplantation

mentis MÜNSTER

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INHALTSVERZEICHNIS

Christina Schües und Christoph Rehmann-Sutter Einleitung 7 Ingo Müller Klinische Praxis – Spenderfindung und Stammzelltransplantation 25 Sarah Daubitz Die Stellung des HLA-Tests im Entscheidungsablauf – Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Pilotstudie 33 Volker Krötz Psychosoziale Betreuung

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Interview mit Susanne Kästner, Dieter Linhart, Reinhard Schneppenheim 61 Kai von Klitzing Die Knochenmarkspende zwischen Geschwisterkindern aus entwicklungspsychologischer und kinderpsychiatrischer Sicht 77 Alain Di Gallo Mit Kindern sprechen 91

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Inhaltsverzeichnis

Christoph Schickhardt Bedeutung und Wert von Einwilligung unter besonderer Berücksichtigung der Gewebespende zwischen Geschwisterkindern 101 Bert Heinrichs Die normative Bewertung der pädiatrischen Stammzelltransplantation 121 Adrian Schmidt-Recla Humanfähigkeiten als unbestimmte Rechtsbegriffe 133 Lina Busch Geschwisterspender oder Fremdspender: Wer zuerst? – Diskrepanzen zwischen Gewebegesetz und klinischer Praxis hinsichtlich der Knochenmarkspende nichteinwilligungsfähiger Minderjähriger. 149 Christoph Rehmann-Sutter Notwendig zustimmen – Über die Freiwilligkeit der elterlichen Einwilligung zur Gewebeentnahme bei einem Kind 167 Thorsten Moos Nicht ohne seinen Willen – Theologisch-ethische Überlegungen zur Gewebespende eines Geschwisterkindes 189 Christina Schües Dem Willen des Kindes folgen? – Das Kindeswohl zwischen Gegenwart und Zukunft 215 Pascal Delhom Verletzlichkeit und Integrität von Spenderkindern 241 Burkhard Liebsch Gewebespende als »Gabe«? – Ethische Implikationen von Gewebespenden an Geschwisterkinder 259 Autorinnen und Autoren 281

Christina Schües und Christoph Rehmann-Sutter EINLEITUNG Der medizinische Fortschritt ermöglicht es, Kinder zu rettenden Geschwistern zu machen. Im Rahmen einer Transplantation von Blutstammzellen kann ein gesundes Kind für ein schwer krankes Geschwisterkind das nötige Heilmittel spenden. Diese hämatopoietischen Stammzellen können aus Knochenmark oder nach einer medikamentös induzierten Mobilisierung aus dem peripheren Blut gewonnen werden. Es gehört heute zur etablierten klinischen Praxis, dass auch kleine Kinder, die nicht einwilligungsfähig sind, als Spender für ein schwer erkranktes Geschwister herangezogen werden. Mit einer Knochenmarkspende kann der Tod eines kranken Kindes und damit schweres Leid für eine Familie abgewendet werden. Gleichwohl bleibt die Spende eines minderjährigen Kindes familiär, gesellschaftlich, juristisch und ethisch brisant. Diese Spendepraxis bringt das durch die Ideengeschichte tradierte Verständnis, dass Kinder lediglich im Zusammenhang von Erziehung und Förderung, Fürsorge und Schutz zu sehen sind, ins Wanken. Es sind nicht mehr nur Schutz und Fürsorge, die Kinder erfahren, sondern es sind auch Zumutungen impliziert, die mit Verantwortung und Hilfeleistung assoziiert werden. Die Gewebeentnahme bleibt eine medizinisch nicht indizierte und mit gewissen Risiken und Belastungen verbundene Verletzung des Kindes zum Nutzen einer anderen Person, auch wenn das Gewebe selbst wieder nachwächst. Gesellschaftlich und kulturell wurden Kindern häufig Pflichten aufgetragen, wie etwa die Aufsicht über jüngere Geschwister, Mithilfe im Haushalt oder sogar Mitverdienst durch Arbeiten. Viele dieser mehr oder weniger freiwilligen Pflichten sind Bestandteile familiärer Praxis. Die medizinische Praxis allerdings unterliegt dem ärztlichen Ethos, therapeutisch zu helfen und nicht zu schaden. Nur mit freiwilliger Einwilligung kann ein Erwachsener zur Forschung oder zur Spende von Blut, Gewebe oder Organen herangezogen werden. Noch bis in die 1970er Jahre, unter dem Eindruck der grausamen Humanexperimente des Nationalsozialismus, waren Minderjährige und nicht-einwilligungsfähige Personen explizit von medizinischen Praktiken ausgeschlossen, die ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzen.

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Ausgenommen sind in Deutschland nur Forschungen, die im Zusammenhang mit therapeutischen Maßnahmen stehen und somit für die Person selbst einen Nutzen darstellen. In anderen Ländern werden Kinder sowohl in eigennützige als auch unter der Voraussetzung, dass das Risiko und die Belastung minimal sind und ein Gruppennutzen besteht, in fremdnützige Forschungen einbezogen. In Deutschland hat sich seit Mitte der 1970er Jahre die Stammzelltransplantation zwischen Kindern etabliert. Kinder spenden nachwachsende Körpergewebe für ein Geschwisterkind, wenn es diesem im Falle einer schweren Erkrankung therapeutisch hilft. Die stellvertretende Einwilligung der Erziehungsberechtigten soll im Rahmen ihres Sorgerechtes (etwa § 1629 Abs. 1 des BGB) hierfür die juristische Legitimation geben. Die moralische Legitimation bleibt aber auch in der Wahrnehmung Beteiligter nach wie vor diskussionsbedürftig, obwohl – oder gerade weil – sie im konkreten Fall so offensichtlich erscheint. Das 20. Jahrhundert war nicht nur durch eine wechselvolle, teilweise menschenverachtende Medizingeschichte gekennzeichnet. Es war auch die Epoche, in der explizit Kinderrechte formuliert und anerkannt wurden, die dazu führten, dass das Kind moralisch und rechtlich den Status eines Subjekts erhielt. Der Begriff des Kindeswohls rückte in die Aufmerksamkeit von Gesellschaft, Wertediskursen und Rechtsforderungen. Besonders die Jahre 1924 mit der Genfer Erklärung der Rechte für das Kind und 1989 mit der Konvention der Vereinten Nationen für die Rechte der Kinder stehen exemplarisch für diese Umbrüche. Sie sind Meilensteine in der Rechtsgeschichte. Seit ungefähr 40 Jahren ist die Stammzelltransplantation für viele Leukämiearten und für andere Krankheiten des blutbildenden Systems zu einer Standardtherapie geworden. Diese Praxis schließt auch Kinder, die nicht einwilligungsfähig sind, als Spender mit ein. 1 Dass die Praxis medizinisch etabliert ist, bedeutet nicht, dass sie ethisch und rechtlich keine Fragen und Zweifel aufwirft. Das gilt für beteiligte Mediziner ebenso wie für die betroffenen Familien. Es sind Fragen, die mit den traditionellen Entscheidungsparametern und -modellen, wie sie in der Ethik entwickelt wurden, schon deshalb nicht angemessen adressiert werden können, weil die Subjekte der Spende Kinder 1

In Europa ist ein jährlicher Anstieg der Anzahl von Blutstammzelltherapien zu verzeichnen. 2010 wurden erstmals mehr als 30.000 Transplantationen durchgeführt (autologe und allogene zusammengezählt), die Zahl hat zwischen 2011 und 2012 um 6% zugenommen; 14 165 allogene Transplantationen fanden 2012 statt. Davon waren 11 % in der Pädiatrie: 2877 allogene Transplantationen wurden durchgeführt, bei denen der Empfänger unter 18 Jahre alt war. Der Überblick hat 661 von 680 Zentren in 48 Ländern berücksichtigt (European Society of Blood and Marrow Transplantation (EBMT), Annual Report 2013). Vgl. Junghanß, Fortschritte in der Behandlung maligner Erkrankungen durch die Transplantation hämatopoietischer Stammzellen; Antin, Raley, Manual of Stem Cell and Bone Marrow Transplantation.

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sind. Ethische Konzepte – wie die Aristotelische Tugendethik, die Kant’sche Pflichtenethik, Mills Utilitarismus, die Vertragstheorien, existenzialistische Varianten der praktischen Philosophie und auch die Care-Ethik – wurden vor allem für die Regelungen der Beziehungen entwickelt, die von Erwachsenen ausgehen. Sie betreffen entweder symmetrische Beziehungen zwischen mündigen Bürgern oder Verpflichtungen mündiger gegenüber nicht-mündigen bzw. nicht-einwilligungsfähigen Personen. Üblicherweise darf dem mündigen Erwachsenen aufgrund seiner freiwilligen Zustimmung Körpermaterial entnommen werden. Erwachsene können aufgrund einer eigenen Entscheidung spenden, während dies von Kindern, die nicht einwilligungsfähig sind, nicht in dem selben Sinn gesagt werden kann. Ist der Spender oder die Spenderin ein nicht-einwilligungsfähiges Kind, wird, neben der elterlichen Zustimmung, vor allem die Heilungschance, also der Nutzen für das andere, das kranke Kind als ethische Rechtfertigung für die Verletzung der körperlichen Integrität des Spenderkindes angeführt. In der modernen Medizinethik ist das zentrale Anliegen bei der Bewertung einer Entscheidungspraxis neben dem Wohl und der Gerechtigkeit die Autonomie der Betroffenen. 2 Wenn eine Handlung nicht-einwilligungsfähige Kinder betrifft, bleibt die informierte Einwilligung (informed consent) das Leitkonzept, auch wenn zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens maßgeblich die fürsorgeberechtigten Eltern angehört werden. Das Recht verlangt aber, dass auch dem kindlichen Willen Rechnung getragen wird. Die informierte Einwilligung basiert wesentlich auf der Einwilligungsfähigkeit. Anhand der Kriterien für Einwilligungsfähigkeit lassen sich auf die wesentlichen Aspekte der informierten Einwilligung schließen: Kriterien der Einwilligungsfähigkeit sind 1) das Informationsverständnis (understanding); 2) das Abwägen der Konsequenzen und der alternativen Möglichkeiten (reasoning); 3) die Krankheitseinsicht und die Gewichtung der Informationen im Kontext der eigenen Werte (appreciation); 4) das Treffen und Kommunizieren von Entscheidungen (communication). 3 Entsprechend muss eine informierte Einwilligung, um Gültigkeit zu haben, auf einem Verständnis der relevanten Informationen beruhen, aus einer Abwägung der Konsequenzen und Alternativen erwachsen, auf einem Verständnis der Ausgangslage im Kontext der eigenen Werte erfolgen und klar geäußert worden sein. Die Regelung, dass für jemanden, der nicht selbst einwilligen kann, eine stellvertretende informierte Zustimmung eingeholt wird, betrifft nicht-einwilligungsfähige Kinder im gesamten Bereich der Medizin und auch Menschen mit Demenz. Jedoch können diese Verfahren nicht einfach auf die 2 3

Beauchamp, Childress, Principles of Biomedical Ethics. Grisso, Appelbaum, Assessing Competence to Consent to Treatment: A Guide for Physicians and Other Health Professionals.

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Spende von Knochenmark übertragen werden. Denn dabei geht es um eine Intervention, die das Spenderkind in eine unklare Rolle bringt, sich nicht auf klar erschließbare Interessen des Kindes begründet und einen moralischen Ansatz wählt, der in erster Linie den Nutzen für das Geschwisterkind und die Familie sieht und dem Spenderkind den Eingriff samt seiner Belastungen und Risiken zumutet. Kinder als Subjekte anzuerkennen, bedeutet, ihre speziellen Bedürfnisse und Rechte wahrzunehmen, ihnen eine Stimme zu geben, ihre Beteiligung an Entscheidungen zu bedenken und sich an den für sie relevanten Aspekten des »Kindeswohls« zu orientieren. Allerdings ist nicht immer klar, was eigentlich die Orientierung am Kindeswohl wirklich bedeutet und wie diese Orientierung zur »richtigen« Entscheidung beitragen kann. 4 Entscheidungen im medizinischen Kontext werden meistens aus schwierigen und äußerst belastenden Situationen heraus verlangt. Sie betreffen mehrere Personen – Familienmitglieder und weitere Verwandte, aber auch das medizinische Personal. Und sie betreffen auch die Beziehungen und Verhältnisse, in denen die Betroffenen vor dem Hintergrund ihrer selbst (oder aber für sie) getroffenen Entscheidungen werden leben müssen. Sie haben biographische Konsequenzen, die in die Zukunft der betroffenen Individuen und der Familienbeziehungen hineinwirken. Daher werden viele dieser schwierigen und unumkehrbaren Entscheidungen im medizinischen Bereich auch als Zumutung oder mindestens als schwere Last der Verantwortung empfunden. Wenn Erwachsene für Kinder entscheiden (sollen), dann kann eine stellvertretende Entscheidung bereits viel, vielleicht sogar zu viel Verantwortung beinhalten. Werden Kinder fremdnützigen medizinischen Interventionen ausgesetzt, wie sie z. B. bei der Forschung mit Kindern verlangt sein können, oder eben, wenn Kinder für ihre Geschwister Gewebe spenden, dann wird die Entscheidungskonstellation problematisch und strukturell widersprüchlich. Menschenrechtlich argumentiert, darf ein Individuum nicht ohne seine Einwilligung verletzt werden. Dieser Grundsatz ist in das deutsche Grundgesetz eingegangen. 5 Allerdings haben sich medizinische Praktiken etabliert, in denen dieser individuelle Ansatz, der nur das Wohl und die Integrität eines einzelnen Kindes im Blick hat, keine Geltung zu haben scheint. Eine therapeutische Stammzelltransplantation für die Rettung eines leukämiekranken Kindes setzt voraus, dass eine andere Person mit den passenden Blutmerkmalen bereit sein muss, ihr Knochenmark zu spenden. Und wenn diese passende Person das Geschwisterkind ist, dann wird das von der Familie nicht als Zumutung, sondern als großes Glück empfunden, denn nun können sie Hoffnung auf die Heilung des kranken Kindes schöpfen. Das 4 5

Schües, Rehmann-Sutter, The Well- and Unwell-Being of the Child. Art. 2 Abs. 2 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit).

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potenzielle Spenderkind ist ein Kind, das gesund ist, aber von Rechts wegen nicht selbst einwilligen kann und manchmal auch zu jung ist, um in einen Prozess der Aufklärung und Entscheidung überhaupt einbezogen zu werden. Darüber hinaus stellt unter Umständen die Stammzelltransplantation die einzige mögliche lebensrettende Maßnahme für das kranke Kind dar. Die Eltern des kranken und des gesunden Kindes sind vor die Entscheidung gestellt, das gesunde Kind für die mögliche Rettung und Heilung ihres kranken Kindes zu verletzen. Als Eltern müssen sie für das Wohl mehrerer Kinder sorgen, doch die therapeutische Notwendigkeit einer Stammzellspende stellt die elterliche Fürsorge auf eine harte Probe. Eine Ablehnung der Spende kann einen Nachteil für das kranke Kind im Hinblick auf seine Genesung darstellen, für die Familie emotional belastend sein oder in besonderen Fällen, in denen sich kein anderer Spender finden lässt, sogar den Tod des kranken Kindes bedeuten. Diese Art Zwangssituation scheint die Entscheidungsspielräume der Betroffenen drastisch einzuengen: Oft ist es Tod oder Leben. Das vorliegende Buch behandelt die pädiatrische Stammzelltransplantation zwischen Geschwistern als Fall, an dem sich grundsätzliche fundamental- und bioethische Fragen exemplarisch diskutieren lassen. Dazu wird diese Praxis in ihren verschiedenen wesentlichen Facetten untersucht. Es werden Entscheidungsspielräume der betroffenen Personen ausgelotet und diskutiert. Und es soll die schwierige mitmenschliche Konstellation, die durch die Frage nach einer Spende entsteht, entfaltet und auf ihre ethischen Implikationen untersucht werden. Die Artikel des Buches beschreiben aus unterschiedlichen Perspektiven den Prozess, wie ein Kind zu einem Gewebespender oder einer Gewebespenderin wird. Es diskutiert moralische, rechtliche, psychologische und gesellschaftliche Aspekte, die für die Betroffenen und Beteiligten relevant und wichtig sind. Im Fokus des Buches ist die Frage, welchen Status und welche Struktur die Entscheidung und die »informierte Einwilligung« in der pädiatrischen Spendenpraxis hat und haben kann. Wie werden Entscheidungsprozesse gestaltet? Wie wird die Aufgabe interpretiert, die ihnen zukommen? Wann werden Entscheidungen (zu Recht) vermieden? Ist es eine oder sind es viele Entscheidungen, die zu einer Einwilligung oder einer Ablehnung führen? Was geschieht bei der Zu- oder Absprache von Entscheidungsfähigkeit in der Beziehung zu den betroffenen Personen? Und was ist eigentlich das Ziel der Einwilligungsverfahren? Ist es die moralische Legitimität, die rechtliche Gültigkeit, die Abwendung von Klagen oder ist es etwas anderes, nämlich die Sorge für die Integrität der betroffenen Kinder, die mit dem Erlebten weiterleben und die diese Ereignisse in ihre Biographie integrieren müssen? Die Beiträge diskutieren diese Fragen aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven. Trotz der disziplinären Vielfalt ist es den meisten Autorinnen und Autoren besonders wichtig, für die Diskussion dieser Fragen die Zeitperspektive

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zu berücksichtigen. Jede Entscheidung reicht zeitlich über den Gegenwartshorizont hinaus, jedes Kind lebt in den Zeithorizonten des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen. Unter der Berücksichtigung von Zeit und Zeitlichkeit wird eine Entscheidung nicht nur unter den gegenwärtigen Parametern von »richtig« oder » falsch« betrachtet, sondern auch in der nachträglichen Perspektive, wenn die Zukunft Gegenwart geworden und die Gegenwart Vergangenheit sein wird. Im Rückblick, dann wenn das Spenderkind älter oder erwachsen ist, wird es sich zeigen, ob die Erfahrungen der Spendensituation gut in die Biographie integriert werden konnten, ob das Kind nachträglich seine Zustimmung zur Spende geben würde, ob in der Retrospektive – sei es des Kindes, der Familie oder weiteren Personen – angemessen für das Wohl des Kindes gesorgt wurde, oder ob tatsächlich sich die »Spende« als Gabe bewahrheitet. Das Beispiel der geschwisterlichen Blutstammzellspende wurde auch aus dem Anliegen heraus gewählt, um im Ausgang dieser Konstellation vielfältige Facetten und Dimensionen einer Ethik für Kinder zu diskutieren. Es soll deshalb nicht nur darum gehen, ob eine pädiatrische Stammzellspende in konkreten Fällen legitim sei oder nicht. Tatsächlich ist sie gesetzlich erlaubt, in vielen Ländern sogar explizit gesetzlich reguliert, während die Lebendspende von Organen von Kindern in den meisten Ländern verboten ist. Der Aufbau des Buches ist zweigeteilt: im ersten Teil wird die Praxis der Spende von verschiedenen Seiten betrachtet. Im zweiten Teil geht es um ethische und rechtliche Analysen der unterschiedlichen Fragestellungen. Zum ersten Teil: Der Kinderarzt Ingo Müller stellt den Prozess dar, wie ein Kind in der Klinik zu einem Gewebespender für ein krankes, oft sterbenskrankes Geschwisterkind wird. Blutstammzellen befinden sich im Knochenmark oder können mit Hilfe des Hormons G-CSF in den periphären Blutkreislauf geschwemmt werden. Knochenmark ist ein regenerierbares Gewebe. Müllers Bericht aus der Praxis zeigt, dass neben der Sicherung einer informierten Zustimmung durch den Stammzellspender für die Eltern weitere Gesichtspunkte ausschlaggebend sind. Wenn es vor allem um die informierte Einwilligung ginge, müsste das ja eigentlich zu einer Bevorzugung eines HLA-identischen Erwachsenen als Spender führen, sofern man einen solchen finden kann. Denn dieser könnte informiert zustimmen. Die Familien bevorzugen aber de facto eine Geschwistertransplantation. Diese wünschen sie sogar dann, wenn das potentielle Spenderkind noch klein und nicht in der Lage ist, die Tragweite des zugemuteten Eingriffs zu verstehen. Offenbar steht aus der Elternperspektive die informierte Zustimmung des Spenderkindes nicht so im Vordergrund, wie es in der sich am Autonomieideal orientierenden Medizinethik der Fall ist. Wie der Test auf die passenden Blutmerkmale und die Auswahl des medizinisch passenden Spenders von den betroffenen Eltern erfahren wird, wird

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von Sarah Daubitz mit Hilfe qualitativer Interviews erläutert, die sie mit betroffenen Eltern geführt hat. Formal wird die Entscheidung der Eltern für ihr Kind erst nach der Abklärung der Gewebekompatibilität, aber noch vor der Spende getroffen. Aber zeigt das wirklich die Praxis? Daubitz veranschaulicht, wie der HLA-Test tatsächlich die Entscheidungen vorwegnimmt, die eigentlich später erst getroffen werden sollten, die aber auch dann zugunsten eines gelingenden Behandlungsablaufs kaum real getroffen werden können. Von diesen Erfahrungen mit den betroffenen Eltern wird auch im Interview berichtet, das mit der Sozialpädagogin und Psychotherapeutin Susanne Kästner, dem Psychologischen Psychotherapeuten Dieter Linhart und dem Mediziner und Klinikdirektor für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Reinhard Schneppenheim am Universitätskrankenhaus HamburgEppendorf auf der pädiatrischen Abteilung für hämatologische Onkologie geführt wurde. Hier kommen Fachleute zu Wort, die Kinder medizinisch und psychosozial in dieser schweren Situation begleiten und behandeln. Für den Sozialpädagogen Volker Krötz ist die psychosoziale Beratung und Betreuung der ganzen Familie wichtig. Denn wenn eine Stammzelltransplantation angeraten wird, dann handelt es sich um eine sehr schwere und lebensbedrohliche Krankheit, die niemals nur eine Person alleine betrifft. Die Eltern sind in großer Sorge. Sie versuchen, ihren unterschiedlichen Rollen gerecht zu werden, und die Geschwisterkinder spüren, dass die Eltern sich sorgen, und entwickeln schon sehr früh Strategien, um auf ihre persönliche Art, sei es voller Angst oder Zuversicht, mit der Krankheitssituation umzugehen. Krötz legt dar, wie sich in die Freude und den Stolz des Spenderkindes, etwas Entscheidendes zur Genesung des Geschwisters beitragen zu können, auch die Furcht drängen kann, nun für das Überleben des geretteten Kindes verantwortlich zu sein. Für diese Verantwortungserfahrung in der Perspektive des Spenderkindes, die zu intensiven Gefühlen der Angst, Trauer, Wut, Schuld und Eifersucht beitragen kann, ist im Zustimmungsmodell der medizinischen Ethik aber kein Platz. Dieses kann diese kindliche Verantwortung nicht angemessen aufnehmen, weil sie über den zeitlichen Moment der Einwilligung hinaus führt – oder sich in der Zeit nach der Operation überhaupt erst einstellen wird. Es kann für das Spenderkind eine zusätzliche Belastung darstellen, zu der Operation und zu einem Prozess, in dem es selbst an den Rand gedrängt wird, auch noch zustimmen zu müssen, bzw. zugestimmt zu haben, selbst wenn dies nur in der reduzierten Geltungslogik der »Zustimmung« bleibt. Diese Geschwisterkinder brauchen eine andere Form der elterlichen Zuwendung, als sie mit dem Zustimmungsmodell impliziert ist. Sie muss kontinuierlich sein, auf die kindlichen Sorgen ausgerichtet werden, die vielleicht wenig mit der Spende als solche zu tun haben. Krötz plädiert für eine langfristige Betreuung, um Belastungen aufzufangen, Überforderungssituationen auszugleichen und um Krisen zu bewältigen.

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Weitere Beiträge diskutieren moralische, rechtliche, psychologische und gesellschaftliche Aspekte, die für die Betroffenen und Beteiligten relevant und wichtig sind, wenn ein Kind zum (legalen) Spender von hämatopoietischen Stammzellen und zum »rettenden Geschwister« wird. Die Fragen hier sind: Wie werden Entscheidungsprozesse gestaltet? Wann werden Entscheidungen vermieden? Ist es »eine« Entscheidung oder sind es viele Entscheidungen, die zu einer Einwilligung oder Ablehnung führen können? Hierbei fragt der Kinder- und Jugendpsychiater und Psychoanalytiker Kai von Klitzing aus moralpsychologischer Perspektive eindringlich, ob Kindern eine Entscheidung überhaupt zumutbar ist. Seine Analyse zeigt, dass die Frage an ein kleines Kind, ob es seinem möglicherweise sterbenden Geschwisterkind durch eine Transplantation helfen will, eine traumatisierende Herausforderung sein kann. Wenn es durch diese Frage für die Spende für selbstverantwortlich erklärt wird, werden Größenphantasien ebenso wie Ängsten Tür und Tor geöffnet, da das Überleben des Geschwisters plötzlich in seine eigene Hand gelegt wird. Phantasie und Realität werden zusammengeschmolzen, was die flexible Phantasiewelt des Kindes zusammenbrechen lässt, worin es auch aggressive Phantasien ohne reale Folgen leben kann. Die durch die Entscheidung zur Transplantation in die Hände des Kindes gelegte Möglichkeit, Phantasien in die Realität umzusetzen, kann beim Spenderkind zu nicht integrierbaren Schuldgefühlen führen. Die Fokussierung auf die Einwilligung des Spenderkindes bedeutet deshalb im Grunde eine Gefährdung des Kindeswohls. Stattdessen wird auf die Aufgabe der späteren psychologischen Integration der im Zusammenhang mit der Transplantation entstehenden Gefühle verwiesen. 6 Wenn diese Einschätzung zutrifft, verfehlt die medizinethische Interpretation des Zustimmungsakts als Ausübung der Selbstbestimmung die Bedeutung, die sie für die betroffenen Geschwisterkinder selbst hat. Letztere lässt sich nur im Kontext der besonderen familienpsychologischen Dimensionen der Geschwisterbeziehung entschlüsseln. Darin geht es nicht nur um Liebe, sondern auch um Eifersucht, Angst, kindliche Aggressionsphantasien und Schuldgefühle. Diese Überlegungen gründet Klitzing auf die Untersuchung der verschiedenen Stadien der Moralentwicklung und ihre Implikationen dafür, wie Kinder ansprechbar sind und wie sie in Entscheidungen und Handlungen einbezogen werden oder auch sich selbst einbringen können. Kinder, die sich sorgen, die Angst haben oder auch ganz einfach verunsichert sind, erzählen nicht einfach, was sie bedrückt. Dennoch ist das Gespräch mit ihnen, die ja zentral betroffen sind – sei es als Kranke, Spender oder als nicht-spendendes Geschwisterkind – eminent wichtig für die Verarbeitung der Geschehnisse 6

Zur schwierigen Integrationsarbeit vgl. Kai von Klitzing, Die Kommunikation mit dem schwerkranken Kind.