Reflektierter Intuitionismus

Der Nutzen der Transparenz. (13) Ethische Systeme als Entfremdungsmedium. Kontinuität des Mora- lischen. Das Predigen. (14) Montaignes Nicht-Ethik als ...
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Raatzsch ·

Wenn etwas wirklich neu ist, geschieht es oft, dass wir nicht wissen, was zu tun gut wäre, was schlecht oder böse. Ähnlich verhält es sich in tragischen Situationen. Beide Fälle führen leicht zum Nachdenken, dieses wiederum kann schließlich die Form moralphilosophischen Überlegens annehmen. Stellt man solche Überlegungen an, legt sich die Idee eines ethischen Systems fast von selbst nahe. Was aber könnte für ein solches System den Grundsatz liefern? Hier greifen viele Philosophen auf sogenannte „Intuitionen“ zurück. Warum das vielleicht keine so gute Idee ist, aber dennoch das Beste, was man tun kann, soll in diesem Buch untersucht werden. Dabei kommen eine Reihe von Themen zur Sprache, wie etwa das Gewissen oder die Rolle moderner wissenschaftlicher Methoden für die Moralphilosophie.

REFLEKTIERTER INTUITIONISMUS

HKS 93K Pantone 376C

ISBN 978-3-89785-839-8

Richard Raatzsch

REFLEKTIERTER INTUITIONISMUS

Raatzsch · Reflektierter Intuitionismus

Richard Raatzsch

Reflektierter Intuitionismus

mentis MÜNSTER

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2013 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-839-8

Moral predigen ist leicht; Moral begründen schwer. Schopenhauer

Moral predigen ist schwer; Moral begründen unmöglich. Wittgenstein

Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitung: Skizze des Problems und Andeutung seiner »Lösung« . . . . . . .

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Warum jede Ethik intuitionistisch sein muss – obwohl keine es sein kann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(1) Wenn neben uns jemand auf der Treppe ins Straucheln gerät, strecken wir spontan die Hand aus, um ihm zu helfen. Wenn uns ein Freund in der Not im Stich lässt, riskiert er die Freundschaft. – Unser Leben ist voll von solchen Geschehnissen. In ihnen drücken sich moralische Einstellungen ebenso aus, wie in ausdrücklichen moralischen Urteilen. – Jene Handlungen sind spontan, aber keine Reflexe. Die entsprechenden Urteile haben einen Inhalt, sind aber keine Schlüsse. Und wir sind uns ihrer so gewiss, wie mancher Dinge, die wir mit eigenen Augen sehen. (1*) Einige Festlegungen betreffend »Intuition« und »Intuitionen«. (2) Der starke ethische Reiz der moralischen Intuition(en) hängt zusammen mit der »beständigen Geburt der Ethik«. Moralische Fragen und Konflikte, Unsicherheiten und Tragik. – Wichtige Unterschiede: tatsächliche und vernünftige Lösungen, Zurechtkommen und richtiges Leben, Überreden und Überzeugen. – Ethik soll überzeugen, nicht überreden, begründen, nicht predigen. Urformen. – Als gemeinsame und sichere Ausgangspunkte hierfür scheinen wir nur unsere moralischen Intuitionen zu haben. – Was gegen diese spricht: sie sind gerade nicht einheitlich, widersprechen sich u. a. m. Was aber sagen sie uns dann? Sagen sie uns überhaupt etwas? – Zur Beseitigung von Widersprüchen müssen wir eine zugunsten der andern Intuition aufgeben. Aber wie begründen wir dies? Das Problem: Kein Grund kann mehr als gewiss sein. – Die radikale Schlussfolgerung: Alle Intuition muss fort; ein unabhängiges Prinzip muss her! Aber geht mit der Aufgabe der moralischen Intuitionen nicht auch der Kontakt der Ethik zur Moral verloren? Andererseits scheinen wir mit den moralischen Intuitionen gar nicht von der Stelle kommen zu können. Der Ethiker steckt in einem Dilemma: er kann nicht ohne und auch nicht mit den Intuitionen arbeiten. – Bietet hier nicht der reflektierte Intuitionismus einen Ausweg? (3) Aber ist die Annahme, Widersprüche seien etwas zu Vermeidendes, selbst mehr als nur eine Intuition? Ist die Logik also ein Ausweg? – Was sind logische Prinzipien? Es sind keine Zeichen(reihen)! Aber auch nicht Absichten, mit denen die Zeichen benutzt werden. Es sind

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Inhaltsverzeichnis übliche Arten ihrer Verwendung. – Auch Laute wie »Gut gemacht!« oder »Feigling!« sind keine moralischen Urteile. Die Absicht, sie moralisch verstanden zu wissen, macht sie auch nicht dazu. Auch hier ist es ihre übliche Verwendung. – Die Verwendung durch wen? Durch den Laien? Ist die Logik also ein Explizieren von Implizitem? Woher weiß man, was die Logik explizit macht? Durch eine Meta-Explikation? – Der Logiker ist nicht besser dran als der Ethiker. Genau darum kann sein Schicksal für die Ethik aufschlussreich sein.

2.

Intuition als Einsicht und als Element des Handelns . .

41

(4) Die Logik und das Wort »wahr«. Wahrheit, Behauptung und Denken. Wahr-Sein und Fürwahrhalten sind zu unterscheiden. Logik ist nicht Psychologie. – Die Ethik und das Wort »gut«. Gut und Fürguthalten sind zu unterscheiden. Ethik ist nicht Psychologie. – Nur: wer kann mehr tun, als etwas für wahr resp. für gut zu halten? – Aber wer kann an den logischen Gesetzen zweifeln? Ist, wer anderen »Denkgesetzen« folgt als wir, nicht verrückt? – Ist die Hässlichkeit wahrer Laster nicht offenkundig? Ist also, wer sie nicht sieht, dumm oder unwissend? – Wenn Verrücktheit, Dummheit und Unwissenheit etwas ausschließen, dann nur begrifflich. – Richtig oder falsch denken, und gar nicht denken. Gut oder böse sein, und außermoralisch sein. – Wahrheit, Gutsein und Verstehen. (5) Eine Doppeldeutigkeit im Begriff der Intuition: etwas intuitiv wissen und mit etwas vertraut sein. – Die Ersetzung der epistemischen durch eine handlungsorientierte Perspektive. Die Vertrautheit mit einer Technik als Ausgangspunkt für die Aneignung einer neuen Technik. – Der Urfehler beim Betrachten der moralischen Intuition. – Wie die Wahrheit und das Epistemische wieder ins Spiele kommen: Übereinstimmung in der Sprache als Voraussetzung für Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung im Urteil. (6) Intuitionen als Festlegungen, Begriffsbestimmungen, Regelausdrücke. – Eine kurze Anmerkung zum moral sense. – Die Rolle von Beispielen.

3.

Formen, Natur und Subjekt moralischer Intuitionen . .

(7) Stolz und Scham, Gewissen und Reue, Bewunderung und Verachtung usw. als Stimmen der moralischen Intuition. – Ausdruck des Bewusstseins, gegen die Regel verstoßen zu haben, und Zeichen der Unsicherheit bezüglich der Einschlägigkeit von Regeln. – Die Asymmetrie von gutem und schlechtem Gewissen. Das schlechte Gewissen: der (logische) Ursprung der Moralität; das gute Gewissen: der durchkämpfte Streit mit sich selbst; Tragik: das Zugleichsein von gutem und schlechtem Gewissen. Der Rollenkonflikt. – Tragik als ethische Scheidelinie. – Prichards Einsichten und Erkenntnisse; Ross’ prima facie duties; Audis »Intuitionismus«.

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Inhaltsverzeichnis

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(8) Der radikale Antiintuitionismus. Peter Singers Argumente dagegen, der Intuition irgendein moralphilosophisches Gewicht zuzusprechen, erläutert anhand zweier Beispiele und mit Blick auf evolutionsbiologische, moralpsychologische und neurowissenschaftliche Thesen. (9) Der Einzelne: die Summe seiner Rollen, das »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«? Die Gemeinschaft: die Summe der aufeinander bezogenen individuellen Verhaltensweisen? – Ein König, der nicht herrschen will. – Der rationale Seelenteil als dem Einzelnen inwohnendes Abstraktum? – Erste und zweite Natur. (10) Das Fremde, Verrückte, Anormale, Pathologische offenbart uns die Grundlagen. Die natürliche Form des Menschlichen. – Ein Fall von »mathematischer Verrücktheit«. – Im Anormalen wird uns das Normale als solches bewusst, und umgekehrt. – Die Grundlagen unseres Urteilens liegen nicht jenseits des Urteilens, sondern in ihm. Begründetes und Grundlage hängen intern zusammen.

4.

Radikalisierung des Ganzen und Versuch der Beantwortung der Frage, ob man Ethik am Ende nur predigen kann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(11) Das eigentliche moralische Subjekt entsteht durch die »Geburt in dem inwendigen Menschen«. – Wissen und Wollen. – James über den Ursprung der Moral. (12) Begründen, Erklären, Verstehen. – Der Nutzen der Transparenz. (13) Ethische Systeme als Entfremdungsmedium. Kontinuität des Moralischen. Das Predigen. (14) Montaignes Nicht-Ethik als richtige Ethik.

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Skizze des Problems und Andeutung seiner »Lösung«

Eine Tatsache macht sich beim Philosophieren über Moralisches immer wieder von selbst fühlbar: die ungeheure Vielfalt ethisch relevanter Phänomene. Man glaubt etwa, irgendein ethisches Problem gelöst zu haben, oder doch auf dem richtigen Weg zu einer Lösung zu sein, und dabei ist es nur eine Frage der Zeit, bis man selbst oder jemand anders auf einen Zusammenhang des Problems mit einem Phänomen stößt, der jene Lösung fragwürdig macht resp. Zweifel daran weckt, auf dem rechten Weg zu sein. Insofern verweigern auch nur wenige der Vielfalt des Moralischen ihre Anerkennung als Tatsache. Diese Vielfalt als eine ursprüngliche Tatsache anzuerkennen, fällt jedoch schon deutlich schwerer. Denn es legt nahe, dass die Ethik sich zunächst mit dieser tatsächlichen Vielfalt des Moralischen vertraut macht. Aber wie soll sie damit je an ein Ende kommen, wenn jene Vielfalt wirklich so ungeheuer ist? Gegen diese Gefahr schützt die Idee, dass jene Vielfalt nur eine Seite der Sache ist, und zwar die unserem gewöhnlichen Menschenverstand zugängliche. Hinter ihr, oder ihr zugrunde, liege dagegen ein im Vergleich zur Komplexität des Erscheinenden einfaches Wesen alles Moralischen. Um dieses Wesen geht es der Ethik. Diese hat ihm verschiedene Namen gegeben: »Nutzen«, »Mitleid«, »guter Wille«, »Tugend« u. a. m. – Soweit es einen das Selbstverständnis betreffenden Ausgangspunkt für das Folgende gibt, besteht er in der gegenteiligen Einstellung. Wie schon angedeutet, drückt die herrschende Einstellung keinen einfachen Mangel an Respekt gegenüber den Tatsachen aus. Denn wenn gesagt wird, die Vielfalt des Erscheinenden sei eine Sache, die Einfachheit des Wesens eine andere, dann heißt dies nicht schon, dass beide Seiten nichts (Wesentliches) miteinander zu tun hätten. Je mehr sie miteinander zu tun haben, umso schwerer werden die logischen Bedenken sein, die sich einstellen, wenn man die empirischen Wissenschaften (und erst recht den gesunden Menschenverstand) als für die erscheinende Vielfalt, die Ethik dagegen als für das Wesen zuständig betrachtet, und dann meint, beide seien dank der Verschiedenheit ihrer Gegenstände so unabhängig voneinander wie Botanik und Musikwissenschaft. Die dem Folgenden zugrundeliegende Einstellung zur Vielfalt des Moralischen geht daher auch von einer Art der Beziehung zwischen ihr und dem Wesen des Moralischen aus, wie sie nicht enger sein könnte: von ihrem Zusammenfallen. Die Hinsicht, in der sie hier als zusammenfallend aufgefasst werden, ist genau die Hinsicht, in der das Wesentliche hinter der erscheinenden Vielfalt, oder ihr zugrunde, liegen soll. Sie fallen, der hier vertretenen

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Einleitung: Skizze des Problems und Andeutung seiner »Lösung«

Auffassung zufolge, also nicht in dem Sinne zusammen, schlechthin identisch zu sein, sondern nur insoweit, dass sie Goethes Diktum gerecht werden: Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre. Weil Phänomen und Wesen nicht identisch sind, kann man durchaus sagen, die Wissenschaft (und erst recht der gesunde Menschenverstand) sei Unphilosophie. Soweit sie aber dennoch zusammenfallen, ist mit diesem Satz eher ein Problem als eine Einsicht formuliert. Wer bei diesem Spruch stehen bleibt, bleibt zu früh stehen, auch wenn dies die einzige Art sein sollte, überhaupt zu einem Ende zu kommen. Das Wesen als (Hinter-)Grund der erscheinenden Vielfalt zu betrachten, legt als Aufgabe der Ethik die Begründung der Moral nahe. Dies wiederum drängt einem leicht eine Ansicht von der Form der Ethik auf: man begründet die Moral, indem man die Grundlagen entdeckt, auf denen sie ruht. Wenn es sich um eine Entdeckung handelt, muss man natürlich auch damit rechnen, dass das, was uns als ein moralisches Phänomen vorkommt, gar keines ist, da es keine moralische Grundlage hat. Denn in dem Sinn, in dem hier von einer Grundlage die Rede ist, kann es aus begrifflichen Gründen kein Gebäude ohne eine Grundlage geben. Und erwies sich nicht tatsächlich manches von dem, was uns als gut (oder böse) erschien, bei näherer Betrachtung als nicht wirklich, sondern nur als vermeintlich, gut (oder böse)? Wir glaubten, jemand sei gut, jetzt aber wissen wir es besser. Die erscheinende Form des Guten muss also nicht seine wirkliche Form sein; und manches, was zunächst als Form des Guten erscheint, kann sich am Ende als Realisierung des Bösen oder gar des Amoralischen erweisen. Dieses Bild, oder ein gewisser Teil desselben, gehört zum Thema der folgenden Betrachtungen. Die Annäherung an dieses Thema erfolgt auf Umwegen: hauptsächlich über die Logik, jedoch nicht über die intuitionistische Logik. An die denkt man heute beim Wort »Intuitionismus« wohl fast automatisch. Der ältere Namensvetter, der ethische Intuitionismus, führt unter diesem Namen seit längerem ein Schattendasein. Da sich in der jüngeren Vergangenheit die Bemühungen mehren, das Blatt zu wenden (und damit auch die, sein Wenden zu verhindern 1), könnte man auch die vorliegende Untersuchung leicht für den Versuch einer solchen Rehabilitierung durch Revitalisierung halten. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Ein kurzer Blick auf den vollständigen Namen der vorliegenden Untersuchung sollte dies deutlich machen. Das Wort »reflektiert«, wenn mit dem zweiten Wort im Titel der vorliegenden Arbeit verbunden, spezifiziert in einem Sinne eine Unterart aus 1

Siehe: Peter Singer, »Ethics and Intuitions«, in: The Journal of Ethics (2005) 9, S. 331–352. Ausführlich dazu unten: Abschnitt 8.