Realität als Relation

Basho (1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131. 5. Nishidas Aufsatz »Die Welt der Physik« . . . . . . . . . . . . 145. 5.1. Acht Thesen zu Nishida .
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Kitarô Nishida (1870-1945) ist der Begründer der »Kyôto-Schule« und gilt als Vater der modernen japanischen Philosophie. In seiner Ontologie denkt er Realität in ihrer Struktur nicht gegenstands- oder sachlogisch, sondern grundlegend feldhaft und relational. Für ihn erhalten Dinge oder Vorgänge erst ihre Realität durch ein zugrundeliegendes und permanent produktives, rein gegenwärtiges und endlos dynamisches Feld absoluter Relationalität. In diesem Buch wird die naturphilosophische Tiefe dieses Gedankens ausgelotet. Dabei wird deutlich, dass Nishida in seinem Spätwerk seinen philosophischen Gedanken auch anhand der modernen Physik und Quantenmechanik zu veranschaulichen versuchte, einer lebenslangen mathematisch-naturwissenschaftlichen Neigung folgend. Nishida selbst erscheint dabei in völlig neuem Licht als naturwissenschaftlich-positivistisch orientierter, neorealistischer Denker, ohne aber gefangen zu sein in Begriffen und Weltbildern westlicher Wissenschaftstradition. Statt dessen erarbeitet er ein neuartiges Grundparadigma, das in seiner Anwendung weit über den engen Bereich der Physik hinausgehen kann und dessen Umrisse in dieser Studie veranschaulicht werden.

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Groh · Realität als Relation Kitarô Nishidas Philosophie der modernen Physik

Max Groh

Realität als Relation Kitarô Nishidas Philosophie der modernen Physik

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Groh · Realität als Relation

Max Groh

Realität als Relation Kitarô Nishidas Philosophie der modernen Physik

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: Kitarô Nishida im Februar 1943

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Für Anne

Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1 1.1 1.2 1.3

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kernelemente und Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wegmarken und Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 11 19

2 2.1 2.2

Rätselhafte Quantenwelt und klassische Physik . . . Quantenpolizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Problematik einer Interpretation der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das gegenstandslogische Weltbild klassischer Physik . . . . Die philosophische Rolle der Quantenmechanik . . . . . . . . Phänomenologie der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . Klassische Physik und Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . .

. .

23 23

. . . . .

25 30 34 40 53

3.1 3.2 3.3 3.4

Die moderne Physik im Dienste westlicher Weltbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antirealismus und Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antirealistische Interpretationstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Realistische Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 61 70 80 90

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Kitarô Nishidas progressiver Denkweg . . . . . . . . . . . . Zur Nishidarezeption in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerngedanken und Leitmotiv in Nishidas Philosophie . . . . Zen no kenkyû (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rickert, Kant und Nishida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . James, Fichte, Schelling und Nishida . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basho (1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93 93 97 103 118 127 131

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Nishidas Aufsatz »Die Welt der Physik« . . . . . . . . . . . . Acht Thesen zu Nishida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zu Inhalt, Form und Stil . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Kapitel 1: Was ist Selbstgewahren? . . . . . . . . . . . . . . . Zum Kapitel 2: Wie wird eine Wissenschaft selbstgewahrend? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145 145 149 156

2.3 2.4 2.5 2.6 3

181

8

5.5 5.6 6 6.1 6.2 6.3 6.4 7 7.1 7.2

Inhaltsverzeichnis

Zum Kapitel 3: Woher kann man biologische Phänomene ableiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Nishida und die Physik . . . . . . . . . . . . . Interpretation der Quantenmechanik aus der Perspektive Nishidas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schrödingergleichung als feldlogischer Selbstausdruck der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionsweise und Rolle des Feldes »Basho« für die Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Quantenmechanik als realitätsgemäßes »Denken des Fremden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195 199 203 203 213 219 227

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht und Kurzzusammenfassung der einzelnen Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung, Einordnung und kritische Betrachtung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233 233

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

234

Danksagung

Toshiaki Kobayashi prägte durch maßgebliche Ideen und große Sachkenntnis zum Gesamtwerk Kitarô Nishidas die vorliegende Schrift – nicht nur durch seine Übersetzung des Essays »Die Welt der Physik«. Denn er war es auch, der mich im Studium frühzeitig mit Kitarô Nishida konfrontierte. In seinem Umfeld entstanden nicht nur Freundschaften, sondern auch Ideen, die ihren Niederschlag in dieser Arbeit fanden. Mit seiner Übersetzung von Nishidas Essay trug er einen ganz entscheidenden Teil zu dieser Arbeit bei. Zur gleichen Zeit stand ich unter dem starken Eindruck der sprachphilosophischen und analytischen Lehre von Georg Meggle, dessen Ansporn zu definitorischer Klarheit, exakter, verständlicher Sprache und zum eigenständigen Denken mich stets zutiefst beeindruckt hat. Diesen beiden Lehrern gebührt daher großer Dank. Meine Veröffentlichung fußt ferner auf den Übersetzungsarbeiten von Rolf Elberfeld (Übersetzung und Kommentierung Nishidas »Logik des Ortes« und weiterer Texte) und Peter Pörtner (Übersetzung und Kommentierung »Über das Gute«), weshalb ich auch diesen Wissenschaftlern meinen größten Dank und Respekt aussprechen möchte. Ebenfalls danken möchte ich meinen Korrekturlesern Dr. Thomas Wollschläger und Hans Liew. Last but not least möchte ich meiner Familie danken, ohne deren Unterstützung ich diese Schrift neben meiner Berufstätigkeit nie hätte vollenden können. Meiner Frau Anne, der ich diese Arbeit widme, und meiner Tochter Henriette möchte ich sagen: Danke, dass es euch gibt. Bad Dürkheim, im Oktober 2013

1 Einführung

1.1 Vorbemerkung Die vorliegende Schrift könnte missverstanden werden als eine Einführung in die Philosophie Kitarô Nishidas. Sie verfolgt aber einen gänzlich anderen Zweck: Sie möchte der Nishidaforschung einen neuen Aspekt hinzuzufügen. Es geht um die Vervollständigung des für die Philosophie Nishidas zentralen Begriffes »Basho« um die Dimension seiner Feldhaftigkeit; letzteres nicht ausschließlich, aber ausdrücklich und vordergründig im Sinne moderner Physik. Dies geschieht im Kern der Arbeit anhand des Nishidaaufsatzes »Die Welt der Physik«, der bislang vollkommen unbeachtet blieb und vorliegend zum ersten Mal analysiert wird. Um diese Argumentationslinie auszubreiten, wird es zunächst notwendig sein, jeweils ausschnitthaft in beide Bereiche einzutauchen (d. h. sowohl in Nishidas Philosophie als auch in die moderne Physik). Es sollte jedoch von Beginn an klar sein, dass dies allein im Hinblick auf den hier verfolgten Zweck stattfindet und damit weder dem einen, noch dem anderen Aspekt in seiner vollen Breite gerecht werden kann. Für beides existiert jedoch bereits ausreichend Literatur in hoher Qualität. 1

1.2 Kernelemente und Problemfelder Der japanische Philosoph Kitarô Nishida wurde geboren am 19. Mai 1870 im Beginn der japanischen Meiji-Restauration und starb in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges, am 7. Juni 1945, genau zwei Monate vor dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki und der nachfolgenden Kapitulation Japans. 2 Seine Biografie umfasst somit die Zeit der radikalen Modernisierung Japans, an der er selbst großen Anteil hatte. Nishida zählt unumstritten zu den bedeutendsten japanischen Philosophen. Er war es, der durch sein bahnbrechendes und überaus auflagenstarkes Buch »Zen no kenkyû« (1911) die japanische universitäre Philosophie quasi im Alleingang revolutionierte, indem er in philosophischer Hinsicht einen 1

2

Zum Zweck einer Einführung kann in Bezug auf Nishida Elberfeld 1998, Mafli 2001, Kobayashi 2002 und Maraldo 2012, in Bezug auf die Quantenmechanik Audretsch 2002 und Nortmann 2009 empfohlen werden. Vgl. Maraldo 2012.

12

1 Einführung

Mechanismus wiederholte, der Japan aus kulturwissenschaftlicher Sicht zutiefst zu eigen ist: Er verband in eklektizistischer Manier wesentliche Momente aus einer kulturfremden, westlichen Philosophietradition mit typischen Denkmustern asiatischer Philosophie, um daraus ein grundlegend eigenständiges und andersartiges, enorm leistungsfähiges und vielseitiges philosophisches System zu erschaffen. In seinen jungen Jahren hatte Nishida sowohl westliche Philosophie studiert als auch die Meditation des Zen-Buddhismus geübt. Beides konnte ihn allein jedoch nicht zufriedenstellen. Nachdem er zunächst in Tôkyô (1891–1894) Philosophie studiert und dann ab ca. 1897 bis ca. 1904 intensiv die Zen-Übung betrieben hatte, flossen beide Quellen ab 1905 in seinem philosophischen Schaffen zusammen. 3

Kitarô Nishidas System stellt den intellektuellen Anfang der modernen Philosophie Japans dar. Durch Kritik und Auseinandersetzung mit Nishidas Werk entstand die sogenannte »Kyôto-Schule«, die erste und bis heute wichtigste moderne japanische Denkrichtung, die ihren Ursprung und Bezugspunkt somit im Denken Nishidas festmacht. Obgleich dieses Denken in seinen philosophischen Dimensionen und Bereichen äußerst vielfältig ist, interessierten sich westliche Interpreten bislang vorwiegend für religionsphilosophische Aspekte in Nishidas Werk. Natürlich hat diese Sichtweise ihre jeweiligen Anlässe und Gründe, gleichzeitig aber verengt sie den Blick auf das Werk in unangemessener Weise und wird dessen tatsächlicher Breite und Tiefe nicht gerecht. 4 In Teilen wirkt sie sogar stark kontraproduktiv. Daher konstatiert einer der führenden Köpfe der Nishidaforschung in Deutschland, Rolf Elberfeld, in einem Aufsatz über Nishida: Bisher ist der japanische Philosoph Kitarô Nishida (1870–1945) in der westlichen Literatur oft als buddhistischer Denker mit primär religiösem Interesse behandelt worden, wobei seine eigentlichen philosophischen Leistungen eher unberücksichtigt blieben. 5 3 4

5

Elberfeld 1998, S. 96. Womöglich stellt diese Annäherung ein ganz grundlegendes Problem der Beschäftigung mit philosophischen Texten aus dem asiatischen Raum dar, welches wohl historische Ursachen hat in einem romantisierenden Orientbild, das sich maßgeblich im 19. Jahrhundert durchsetzt und teilweise bis heute die Sicht speziell auf die japanische Philosophie verstellt und erschwert. Im Falle Nishidas ist dieser Mechanismus besonders stark ausgeprägt, was aber letztlich in seinem Werk begründet ist: Denn gerade sein auch im Ausland erfolgreichster Text »Zen no kenkyû« aus dem Jahr 1911 behandelt die Religion im letzten Kapitel. Liest man da Buch vom Ende her, fällt es leicht, das Religiöse im Sinne ganzheitlicher Wirklichkeitserfahrung als Ziel und Endpunkt seiner Philosophie zu präsumieren und diese Sicht auf sein gesamtes Werk pars pro toto auszudehnen. Elberfeld 1998, S. 95.

1.2 Kernelemente und Problemfelder

13

Es wird zwar stets von allen Interpreten zugestanden, dass Nishida in seinem Kern Metaphysik im Sinne der Lehre vom Óntwc Ón betreibt; Ziel oder Endpunkt, die »höchste Realität« oder »letzte Wahrheit«, so wird in aller Regel behauptet, sei dabei aber stets eine ideale Welt, die mit »Gott« im religiösen Sinne allegorisch umschrieben werde. 6 Es gibt mehrfach Versuche, unter dieser Prämisse Nishidas Werk zu lesen, und sein Schaffen im Hinblick auf dieses Ziel in verschiedene Phasen einzuteilen. Ein Beispiel findet man etwa bei Lydia Brüll, deren grundlegendes Werk zur Philosophie Japans in Bezug auf Nishida einen mittlerweile fast standardisierten Gedanken fasst: Ausgehend von der Vorstellung, Nishida gieße Zen-Gedanken in eine westlich-philosophische Sprache 7, gelangt sie zu dem Schluss, dass er sich erst im Höhe- und Schlusspunkt seines (von Brüll in fünf Phasen eingeteilten) Werkes, im Jahre 1944, voll und ganz und exklusiv der für ihn eigentlichen zentralen, religiösen Frage widmen kann: In den letzten Jahren seines Schaffens – Phase fünf – rückt für Nishida das Problem der religiösen Frage ganz in den Mittelpunkt seines Denkens, das er auf Basis der Einheit der Gegensätze eingehend beleuchtet. 8

Die Übersetzung des Aufsatzes »Die Welt der Physik«, den Nishida knappe zwei Jahr vor seinem Tod 1943 erstveröffentlichte und der gängigerweise auf 1944 datiert wird 9, widerlegt nun diese These – zumindest in ihrer starken, absoluten Lesart. Nishida führte fein säuberlich Buch über alle von ihm gelesenen Werke. Diese Tagebücher offenbaren zahlreiche, teilweise auch (zur damaligen Zeit) hochaktuelle Titel aus dem mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich, neben einer Vielzahl damalig aktueller sowie klassischer philosophischer Schriften (wobei in diesem Zusammenhang auch interessant ist, anzumerken, dass Nishida in seiner letzten Schaffensphase großes Interesse an Leibniz’ Philosophie hatte). Nishida war zeitlebens stark an Mathematik und den Naturwissenschaften interessiert, und dieses Interesse intensivierte sich sogar noch gegen Ende seines Lebens. Der Text »Die Welt der Physik« offenbart nun, dass Nishida bis unmittelbar vor seinem Tode – also in einer Phase, in der er sich, wie oben dargestellt, vermeintlich exklusiv religiösen Fragen widmete – sehr exakt informiert und interessiert zeigte an der Forschungsentwicklung und am Fortgang der »hard sciences«, und dass dieses 6

7 8 9

Tatsächlich verwendet Nishida »Gott« des Öfteren, stets jedoch als Metapher, die die Absolutheit oder Letztgültigkeit seines ontologischen Fundaments verdeutlichen soll. Niemals handelt es sich dagegen um ein dezidiert spirituelles Prinzip, schon gar nicht um die christliche Vorstellung eines persönlichen Gottes. Brüll 1989, S. 166. Ebenda, S. 168. Vgl. dazu Nishida 2012, S. 7.

14

1 Einführung

Interesse auch direkt in seine eigene philosophische Arbeit einfloss. Darüber hinaus ist es prinzipiell fraglich, ob Nishida überhaupt als Religionsphilosoph gelesen werden sollte, da er sich, wie später dargestellt wird, enttäuscht von der eigenen Zen-Erfahrung, relativ frühzeitig fast vollständig von religiöser Praxis abwendete. Wenn überhaupt, so könnte man Nishida als kritischen, religionsphilosophischen »Outsider« lesen. Womöglich übersieht man in einer religionsphilosophisch verengten Lesart auch viel zu leicht den zentralen Aspekt Nishidas, der ihn in der hier dargebotenen Sicht als Denker gerade in der heutigen Zeit aktuell und interessant macht. Denn dieser Aspekt ist gerade nicht religiös, sondern ganz und gar säkular: Nishida kreierte eine im höchsten Maße eigenständige Ontologie, die fast schon organisch aus seinem ersten bedeutenden Werk »Zen no kenkyû« heraus entwächst. 10 In seinen eigenen Worten: Einer alten Tradition folgend denke ich die Philosophie als die Lehre von der wahren realen Wirklichkeit. Das ist die Lehre vom Óntwc Ón bzw. es ist Ontologie. Dort liegt das Wesen der Philosophie. 11

Bemerkenswerterweise vollführt er dies Jahre nach einem im Westen verkündeten Tod der Metaphysik, als ein ontologischer Realismus aus westlicher Sicht vielen bereits unrettbar erscheinen musste (obgleich einige Philosophen freilich noch dessen Banner emporhalten). In einer solchen Phase entsteht buchstäblich am anderen Ende der Welt ein philosophisch-ontologisches System, das einen erkenntnistheoretischen Realismus als sich selbst beweisende Tatsache anstrebt (und damit vor allem die Möglichkeit einer direkten, wahrheitsgemäßen Erfahrung der Wirklichkeit postuliert). Und mehr noch: Nishida postuliert keinen Zugang zu einer Realität, der sich in elitären Elfenbeintürmen vollzieht, sondern der egalitär jedem Menschen durch simples gegenwärtiges Handeln offensteht. Der Zugang zur Welt steht in Nishidas System prinzipiell und jedem offen, da er in seinen Augen im grundlegenden Erfahrungsmodus des Menschen verankert liegt, der wiederum aus der feldhaften Selbstbestimmung der Realität entspringt. Zumindest ist dies die Sichtweise, die sich in der hier erstmalig vorgestellten Lesart seines Aufsatzes »Die Welt der Physik« im Hinblick auf sein Gesamtwerk einstellt. Im Aufsatz »Die Welt der Physik« legt sich Nishida darüber hinaus sogar in der Aussage fest, dass seine eigenen Thesen mit den seinerseits neuartigen (und bis zum heutigen Tag durchaus sonderbaren) Befunden und Entwicklungen 10

11

Aus diesem Grund ist eine Einteilung in Werkphasen für vorliegenden Zweck nicht zielführend. Es sei allerdings erwähnt, dass Paul Mafli jene bereits erwähnte, sozusagen »klassische« Fünfteilung im Werk Nishidas in seiner Dissertation aus Gründen der systematischen, überblicksartigen Einführung in dessen Werk mit großem Gewinn für den Leser verwendet. Vgl. Mafli 1996. Zitiert aus Elberfeld 1999, S. 80.