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Guy Debord neben Cajo Brendel ohne dass wir not- ...... Partei mit Hilfe bürgerlicher Elemente die Arbeiter ...... Kinder haben, spielt beim Nachweis, wie die.
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Reader Krise, Staat und proletarische Bewegung

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Inhaltsverzeichnis Klasse und Revolution Die «Antiautoritäre Bewegung» und ihr Weg in die Sackgasse (Cajo Brendel)

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Partei und Arbeiterklasse (Anton Pannekoek)

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Partei und Klasse (Amadeo Bordiga)

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Das Proletariat als Subjekt und als Repräsentation (Guy Debord)

25

Spontanität und Revolution (Paul Mattick)

40

Staat Autoritärer Staat (Max Horkheimer)

51

Der Staat des Kapitals (Johannes Agnoli)

64

Warenform, Rechtsform, Staatsform (Ingo Elbe)

96

Krise Die Gemischte Ökonomie und ihre Grenzen (Paul Mattick)

105

Eine Krise des Werts (Sander)

113

19 Thesen zur Krise (Wildcat)

132

Marxismus zwischen Orthodoxie und Erneuerung Traditionelle und Kritische Theorie (Max Horkheimer)

139

Was ist orthodoxer Marxismus (Georg Lukács)

164

Die historische «Invarianz» des Marxismus (Amadeo Bordiga)

179

10 Thesen über Marxismus heute (Karl Korsch)

184

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Vorwort Es sind mittlerweile über acht Jahre ins Land gezogen, seit wir in Zürich den Diskussionszyklus «Kommunistische Dissidenz» begonnen haben. Damals ging es uns um einen Überblick über jene in breiteren Kreisen kaum bekannten Strömungen der kommunistischen Bewegung, die sich der Rigidität des sozialdemokratischen und bolschewistischen Kanons zu entziehen versuchten. Diese Strömungen brachen zumindest in Teilen mit dem Staatsfetischismus, Autoritarismus und Elite-Denken des traditionellen Parteikommunismus und stellten teilweise auch Widerspruch zwischen den vernünftigen anarchistischen Tendenzen und der marxschen Analyse in Frage. Nebst der Diskussion mit einigen Teilen der radikalen Linken und einer Klärung unserer eigenen Vorstellungen wollten wir mit dem Zyklus «Kommunistische Dissidenz» diese Strömungen wieder etwas bekannter machen. Diesen Absichten sind wir bis heute treu geblieben. Dennoch ist der vorliegende Reader keine Neuauflage der «Kommunistischen Dissidenz». Wir stehen heute an einem ganz anderen Punkt als damals: In einer Situation, die von einer tiefgreifenden Krise, massiven staatlichen Eingriffen und autoritären Tendenzen aber auch verschiedenen kaum vorhersehbaren sozialen Explosionen geprägt ist. Die weltweiten Zusammenhänge haben sich in der rasenden Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft in den knapp zehn Jahren unseres Bestehens enorm verändert. Die brisante aktuelle Situation erfordert bestimmte Klärungen und Diskussionen von jenen, die sich mit einer Aufhebung des Kapitalismus befassen und an der Umsetzung dieses Ziels arbeiten. Darum ist der aktuelle Zyklus auch weniger auf einen Überblick ausgerichtet, sondern geht der Frage nach, was wir in Bezug auf Staat, Krise und soziale Bewegungen von den Denkerinnen der Revolution lernen können. Andererseits sind wir heute auch als Gruppe klarer bestimmt. Längst haben wir aufgehört hektisch gegen das jeweils ganz Schlimme anzurennen und dem dann die Weihen der Praxis zu verleihen, ohne am herrschenden Unheil etwas zu ändern; ebenso fern ist uns der theoretische Elfenbeinturm, dessen Bewohner zwar buchstabengetreu den alten Marx und seine Nachdenkerinnen wiedergeben können, aber mit der Aufhebung der herrschenden Umstände nichts am Hut haben. Gleichzeitig können wir uns aber nicht positiv bestimmen. Darum steht im Zyklus auch Amadeo Bordiga neben Anton

Pannekoek, Max Horkheimer neben Karl Korsch, Guy Debord neben Cajo Brendel ohne dass wir notwendig ihre Einsichten gänzlich teilen, aber auch ohne uns von den Widersprüchen zwischen ihnen irre machen zu lassen. Wir sind nicht einer bestimmten Strömung zuzuschlagen, sondern versuchen in aller Redlichkeit die vorwärtsweisenden Momente von den zweifellos vorhandenen Fehlern und Dogmatisierungen zu scheiden und erstere für unsere eigene Sicht auf die Dinge fruchtbar zu machen. Das heisst, dass die zu diskutierenden Texte nicht zwingend nach politischer Übereinstimmung ausgewählt wurden, sondern auch danach, ob sie für die aktuelle Situation wichtige Fragen aufwerfen und für die Diskussion geeignet sind. Der Reader ist in vier Themen gegliedert. Im Teil über die Klassenbewegung nähern wir uns den aktuellen Bewegungen und ihren Beschränkungen dadurch an, dass wir grundsätzliche Fragen stellen. Die historischen Bestimmungen eines Pannekoek oder eines Bordiga beziehen wir auf die aktuellen Entwicklungen. Der Schwerpunkt Staat hat sich angesichts autoritärer Krisenbewältigung, der Transformation der Krise in eine Staatschuldenkrise und der massiven staatlichen Eingriffe geradezu aufgedrängt. Wir diskutieren die Frage des bürgerlichen Staates grundlegend und schauen seine besondere Form wie auch seine Funktion im kapitalistischen Totalitätszusammenhang an. Darauf folgend geht es um die Krise als solche. Trotz aller Beteuerungen und trotz des Zweckoptimismus gewisser Teile des politischen Personals und seiner Vordenkerinnen ist die Krise längst nicht ausgestanden. Wir diskutieren aber weniger die aktuellen Börsenkurse, als vielmehr die fundamentalen Probleme des Kapitalismus, die die Misere zu verantworten haben. Zu guter letzt unterziehen wir die Fundamente des Marxismus selber einer kritischen Prüfung und befassen uns mit der Infragestellung einiger bequemer marxistischer Gewissheiten. Die Teilnahme am Diskussionszyklus erfordert keinerlei Vorkenntnisse. Es sollten aber vorgängig die jeweils vorgeschlagenen Texte gelesen werden. unserer Homepage. Wir freuen uns auf spannende Diskussionen. Eiszeit September 2014 5

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Die «Antiautoritäre Bewegung» und ihr Weg in die Sackgasse Cajo Brendel (1978) Der nachstehende Aufsatz Ist schon vor geraumer Zeit verfaßt worden, Der unmittelbare Anlaß hat damals eine Abhandlung Klaus Hartungs gebildet, welche unter dem Titel «Versuch die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen» vor etwa einem Jahre im «Kursbuch» Nummer 48 veröffentlicht wurde. Die auf der Hand liegende Schlußfolgerung, es handele sich also um einen Gegenstand geringfügiger Aktualität wäre trotzdem falsch. Denn die Krankheit welche der antiautoritären Bewegung seit ihrer Geburt angehaftet und die Hartung zu diagnostizieren versucht hat, ist keineswegs nur auf sie beschränkt. Es handelt sich um ein Übel, das viele Formen aufzeigt und sich immer wieder bei allerhand Gruppen, die auf eine Umänderung der Gesellschaft abzielen, manifestiert. Teilen sie doch fast alle die Ansicht, jene gesellschaftliche Revolution sei entweder von der Verbreitung dieser oder jener «Idee», oder von der Provokation der gefestigten Ordnung zu erwarten, indem diese, gerade durch ihre Reaktion sich salbst als Unterdrückungsmacht entlarve. Es wird somit Übersehen, daß es sich dabei um die Unterdrückung einer bestimmten Klasse handelt, welcher man die Tatsache ihrer Unterdrückung nicht klarzumachen braucht und zwar deshalb nicht, weil sie den Inhalt ihrer täglichen Erfahrung stellt. Sie hat davon schon einen durchaus klareren Begriff als diejenigen die, trotz all ihres Gerades über die Wesenszüge der kapitalistischen Gesellschaft, bisher wenig Verständnis dafür gezeigt haben, daß die betreffende Unterdrückung auf gegensätzliche Interessen zurückzuführen ist und, daß nur der daraus hervorgehende Interessenkampf jene Unterdrückung aufzuheben vermag. Eine bestimmte Form von Unterdrückung hat in der Geschichte immer angehalten bis sie von dem Kampf der Unterdrückten gesprengt wurde. Gewiß, alle die wir hier meinen, hören nicht auf von den Arbeitern zu reden nachdem sie diese einmal «entdeckt» haben. Den Arbeitern wollen sie das Bewußtsein beibringen, daß die Gesellschaft umgewälzt werden soll. Sie können entweder nicht einsehen oder nicht akzeptieren, daß jene, die da nicht müde werden von einer sozialen « Revolution» zu reden, die Gesellschaft nicht zu revolutionieren vermögen, die aber welche bloß ihre materiellen Interessen verteidigen ohne Oberhaupt eine Revolution zu beabsichtigen gerade die Gesellschaft revolutionieren.

Hieraus geht hervor, daß die studentischen oder politischen Gruppen nicht nur den Anspruch erheben, sie seien dazu berufen, den Arbeitern die Bedeutung des Klassenkampfes darzulegen, sondern sich dazu noch als dessen Führer aufwerten. Das geht darauf hinaus, daß sie die Arbeiter zu bevormunden versuchen und sich entweder empören oder sich enttäuscht abwenden, wenn die Arbeiter solch eine Bevormundung zurückweisen. Diese Gruppen glauben, der Klassenkampf könne erst «richtig» geführt werden, wenn die Kämpfer sich «Einsicht» angeeignet haben. Sie fassen es nicht, daß irgendeine Einsicht oder irgendein Bewußtsein keine Voraussetzung, sondern eine Folge des Kampfes darstellt, eines Kampfes der sich von dem, welchen die Gruppen zu führen behaupten, grundsätzlich unterscheidet. Es geht den politischen und voluntaristischen Gruppen und Bewegungen das Verständnis dafür ab, daß die Arbeiter von den Naseweisen des Arbeiterkampfes die Nase voll haben. Sie verstehen erst recht nicht, daß ihr Benehmen den Interessenkampf der Arbeiterschaft hemmt und benachteiligt. Darauf hinzuweisen, den Ansprüchen dieser Art Gruppen Schranken zu setzen, ihre Illusionen aufzudecken, das eben ist das Ziel der nachfolgenden Betrachtungen, die, glauben wir, ihre Bedeutung solange beibehalten werden, als von außen her den Versuch unternommen wird, sich in den Klassenkampf einzumischen und die Arbeiter als politische Objekte zu manipulieren. I. Vor zehn Jahren etwa wurde eine Reihe moderner Industrieländer - die USA, die BRD, Frankreich, Japan, Italien und im kleineren Ausmaß auch England, Holland und Belgien - jedesmal auf eigene Weise mit einer radikalen, von den Studenten ausgehenden und von ihnen getragenen Beilegung konfrontiert. Friedrich Mager und Ulrich Spinnarke, die hinsichtlich der Bundesrepublik und Westberlin das Phänomen schon frühzeitig zu analysieren versucht haben, sprachen damals von einer durch Unbehagen geprägten Strömung, welche einer Kritik am Hochschulwesen entsprang und demnächst in einem moralisch-engagierten Protest gegen den vorgefundenen Staat und gegen die vielfach als mündete. Manger und Spinnarke charakterisierten diese Bewegung als eine radikaldemokratische 7

Opposition, welche die autoritären Züge in der Struktur der heutigen Gesellschaft bloßzulegen versuchte, indem sie die ihr innewohnende Unruhe ausbreitete und ihre Gegensätze exponierte. Kurz: mit einer antiautoritären, herausfordernden, außerparlamentarischen Bewegung hatte man es zu tun, welche nach beiden genannten, übrigens selbst nicht mehr der Studentenzeit angehörenden Forschern, «einen bisher verschleierten Tatbestand aufklärte und demzufolge notwendig eine Veränderung der Gesellschaft herbeiführte»[1]. Ähnliche Gedanken wurden auch von den Vertretern der Bewegung selbst entwickelt. Heutzutage stellt diese ganze antiautoritäre Strömung kaum noch etwas vor. Ihr Glanz ist überall gelöscht; was sie zu versprechen schien, hat sich nicht bestätigt. Mager und Spinnarke hielten es durchaus für möglich, daß bestimmte Gruppen der Bevölkerung sich mit ihr solidarisieren würden. Das genaue Gegenteil hat sich ereignet. Sie ist eingeschrumpft und auseinandergerissen, einer tiefen Krise preisgegeben und völlig in die Sackgasse geraten, oder besser: es hat sich gezeigt, daß sie immer schon auf dem Holzweg war. Nirgendwo kann sie sich über einen Erfolg freuen. Sie liegt in den letzten Zügen, sofern sie nicht bereits gestorben ist. Aus welchem Grund hat die antiautoritäre Bewegung Pleite gemacht? Dadurch, so antwortet Klaus Hartung im «Kursbuch»[2], daß sie eine Bewegung von beschränktem Charakter war, eine Bewegung, die nicht imstande war, eine bestimmte Grenze, nämlich die Klassengrenze, zu überqueren. Wäre diese Äußerung Hartungs die Schlußfolgerung seiner Darlegung, hätte er bei seinem Versuch die Krise der antiautoritären Bewegung[3] zu erklaren aufgezeigt, weshalb sie an der innerhalb der modernen Klassengesellschaft gegebenen Schranke notwendigerweis haltmachen mußte, und hätte er daraus die einzig mögliche Konzequenz gezogen, wir hätten seiner Ansicht ohne Weiteres zugestimmt. Jedoch, Hartung folgert nicht, sondern es handelt sich bei ihm um nichts weiteres als eine Behauptung, die abermals erläutert, daß übereinstimmende Thesen, von Hartung geht, nicht mit übereinstimmenden Standpunkten zu verwechseln sind. Wir vertreten den Standpunkt, daß was Mager und Spinnarke sehr richtig als eine radikaldemokratische Opposition umschrieben haben, deshalb nicht zu einer gesellschaftlichen, die herrschende Ordnung umwälzenden Kraft werden konnte, weil diese Opposition keine materiellen Interessen vertritt, die so ausgeprägt waren, daß sie sich den materiellen 8

Interessen widersetzen könnten, die der herrschenden Ordnung und deren Ideologie zugrunde liegen. Eine Opposition, die nicht auf materielle Interessen fußt, kann nie zu einer materiellen Macht werden und verliert früher oder später als Opposition ihre Bedeutung. Auch dann wenn sie sich aus «denkenden Menschen, die sich der bestehenden Gesellschaft gegenüber, kritisch verhalten» zusammensetzt, so ändert das ihre ehrliche Entrüstung, zum Beispiel über das, was sie als die «Auswüchse» der «Konsumgesellschaft» betrachten, noch die Aufrichtigkeit ihrer Proteste gegen Nebenerscheinungen wie Polizeiwillkür, Umweltverschmutzung, Atomkraftwerke oder Bewaffnung, braucht man anzuzweifeln. Dennoch müssen derartig Proteste ohne Wirkung bleiben, solange die Protestierenden sich nicht auf latente Macht stützen können, worüber aber nun die arbeitende Klasse verfugt ,da das gesamte gesellschaftliche Gebäude auf der produktiven Arbeit beruht. Nur die Klasse der Industriearbeiter kann eine gesellschaftliche Umänderung zustande bringen. Die einzig mögliche Revolution welche den Kapitalismus stürzen kann, ist die proletarische. Der Glaube an eine andere Art Umwälzung ist eine Illusion. Wodurch die antiautoritäre Bewegung sich von Anfang an gekennzeichnet hat, ist nicht die Abneigung gegen eine proletarische Revolution, wie man sie selbstverständlich in den Kreisen der eigentlichen ihrer Möglichkeiten. Das Industrieproletariat, so ihre Meinung, weise eine immer geringere Zahl auf und hätte nur noch eine schwindende Bedeutung. Dazu wäre es eine apathische Masse von der ein revolutionärer Widerstand gegen die kapitalistischen Verhältnisse nicht oder nicht mehr zu erwarten sei. Der vorherrschende Mythos der schwindenden gesellschaftlichen Bedeutung der Arbeiterklasse aber ist nur eine der vielen Erscheinungsformen bürgerlicher Ideologie. Infolge der Konzentration das Kapitals und dem Verschwinden des sogenannten Mittelstandes gibt es heute mehr Proletarier als je zuvor. Wie richtig es auch sein mag, daß jetzt mehr Arbeiter im nichtproduktiven, keinen Mehrwert erzeugenden Dienstleistungsbereich wirksam sind, ihre Stellung gegenüber dem Kapital ist dadurch unverändert. Auch sie verfügen, mangels Kontrolle über die Produktionsmittel, nicht über die eigene Existenz. Als Paul Mattick vor etwa zehn Jahren in seiner «Kritik an Herbert Marcuse» darauf hinwies, fügte er hinzu, daß «Lohnarbeiter Proletarier sind, welche Tätigkeiten sie auch immer ausüben»[4]. Sie unterliegen, die herrschende Klasse trifft die

Entscheidungen, welche das Leben aller anderen in jeder Hinsicht bestimmen. Das alles bedeutet, daß trotz einer Verschiebung von produktiver nach unproduktiver Arbeit die latente Macht der arbeitenden Klasse gewachsen ist. Die Entwicklung der modernen Technik hat die Gesellschaft völlig von einem ununterbrochenen Produktionsvorlauf abhängig gemacht. Eine ungestörte Funktion der Dienstleistungen ist dafür eine der unentbehrlichen Bedingungen. Das erklärt, weshalb trotz des Geschwätzes von der verringerten Bedeutung der Arbeiterklasse, Parsonalvorstände, Betriebsärtze, Historiker und Volkswirtschaftler, Juristen und Organisationsberater ihr mehr Aufmerksamkeit widmen, als in der Vergangenheit. Was die vermeinte Apathie betrifft: daß dieselben Arbeiter, die unter bestimmten Umständen gleichgültig scheinen, unter anderen Umständen zu rebellieren anfangen, ist ohne Zweifel ganz richtig aber nicht das wichtigste, was in diesem Zusammenhang zu bemerken ist. Der Vorwurf, die Arbeiter seien nicht mehr imstande oder nicht mehr dazu geneigt «revolutionären Widerstand» zu leisten, geht an der Tatsache vorbei, daß die Arbeiter nie kämpfen oder gekämpft haben, um eine Umänderung der Gesellschaft herbeizuführen, sondern nur um entweder ihre proletarische Lage zu verbessern oder deren Verschlechterung vorzubeugen. Womit man es bei diesem ungerechten Vorwurf zu tun hat ist ein doppelter Irrtum, ein Irrtum in Bezug auf das, was die Arbeiterklasse ist und ein Irrtum in Bezug auf das, was sie demzufolge zu tun gezwungen sein wird. Der Kampf der Arbeiter - wofür diejenigen, die sich da irren, übrigens kaum einen Blick haben - ist zwar der Motor aller gesellschaftlichen Entwicklung, aber es wäre falsch, die objektive Folge des proletarischen Verhaltens als sein subjektives Ziel hinzustellen. Kritiker welche der Arbeiterklasse «Apathie» vorwerfen unterschieben ihr faktisch eine Gleichgültigkeit für etwas, das sie nie angestrebt hat um nachher festzustellen, daß sie infolge ihrer «Verbürgerlichung» darauf verzichtet habe. Von dieser sogenannten Verbürgerlichung der Proletarierklasse ist aber schon deshalb keine Rede weil, die Arbeiterschaft, auch wenn die Löhne steigen und das Arbeitsklima sich bessert, doch immer die Negation der bürgerlichen Gesellschaft bildet, und

er sich stetig als relativer Mangel abzeichnet. Unter kapitalistischen Verhältnissen, gleichviel ob sie durch Privatbesitz oder durch Staatseigentum geprägt

werden, existieren die Herrschenden auf Kosten des Proletariats. Aus diesem Grunde vergegenwärtigt jede proletarische Aktion, wie unbedeutend sie immer scheinen könnte, eine wesentliche Bedrohung der gefestigten Ordnung, welche andrerseits gar nicht in Frage gestellt wird von irgendeinem Benehmen, das aus der Idee, es gelte diese Ordnung zu stürzen, hervorgeht, eine Idee die nicht in proletarischen Bestimmungen wurzelt. Die Klassentrennung der kapitalistischen Gesellschaft, ist gleichzeitig die Trennung zwischen denjenigen die Revolution machen wollen, ohne es zu können, und denjenigen welche die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionieren, ohne es zu sollen. II. Was immer Klaus Hartung mit seiner Bemerkung, «die Grenze antiautoritärer Militanz war eine Klassengrenze», auch gemeint haben soll, jedenfalls nicht, daß die antiautoritäre Bewegung, zwar begeistert von der antibürgerlichen Idee der sozialen Umwälzung, jedoch nicht auf dem Fundament antibürgerlicher Interessen gewachsen, zu einer Machtlosigkeit verdammt war, die ihr Mißlingen unumgänglich machte. Daß sie an der Klassengrenze haltmachte - für ihn, anders als für uns, keine logische Folge ihrer wesentlichen Züge -, betrachtet er daher nicht als eine Unvermeidlichkeit, sondern als einen der von ihr begangenen Fehler. Er gesteht offen ihren Mißerfolg, doch er stellt ihn gleich mit einer politischen Niederlage oder mit einer verlorenen Schlacht. Er spricht davon, als handele es sich um einen Mißerfolg bis jetzt und er schließt seine Auseinandersetzung mit der vertrauensseligen, denn unbegründeten Versicherung, die antiautoritäre Bewegung werde trotzdem siegen. Für eine solche Vertrauensseligkeit gibt es in unserer Anschauung keinen Platz. Wir sehen keinen Ausweg aus der Sackgasse, in welcher die als «neue Opposition» begrüßte, außerparlamentarische und nach unserer Meinung immer schon befunden hat. Nicht infolge ihrer sogenannten Fehler ist sie in diese Sackgasse geraten, sie wurde dort geboren. Die Keime der Zersetzung hat sie seitdem mit sich herumgetragen. Ihr endgültiger Untergang ist das unerbittliche Schicksal, dem sie nicht entrinnen konnte. Was Hartung und anderen als Fehler, daß heißt als vermeidbare Dinge, betrachten, das sind nur ebensoviele Merkmale ihrer wirklichen Position. Wenn man davon tatsächlich schon lernen kann, dann nicht was die Bewegung hätte tun sollen oder künftig unterlassen soll, sondern was sie ist. 9

Die antiautoritäre Bewegung nun ist das was sie von Anfang an war: eine Protestbewegung jungar Leute aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Verhältnissen, die sich zwar gegen die bürgerliche antibürgerlich gehalten wurden - aber keineswegs darüber hinausgingen. Sie Überholten die bürgerlichen Verhältnisse nicht, es war ihnen faktisch darum zu tun, zu deren Anfang zurückzukehren. Sie waren sich allerdings dessen nicht bewußt und konnten sich das betreffende Bewußtsein kaum aneignen, weil ihre «sozialistische» Ideologie sie daran hinderte. Indem sie, und nicht von ungefähr, Voluntaristen, das heißt politische Idealisten waren, unterhielten sie ein bestimmtes Zukunftsbild. Was sie aber für die Zukunft ansahen, war in Wirklichkeit die in die Zukunft projizerte Vergangenheit. Bernd Rabehl, einer der sich angestrengt hat, aus dieser «neuen Opposition» eine, wie er es nannte, «sozialistische Opposition» zu machen, hat bemerkt, daß «der Protest der Studenten gegen die Entwicklung der formierten Gesellschaft zunächst eine moralische Empörung war, die das Postulat der Demokratie gegen deren tatsächliche Entwirklichung in der Bundesrepublik kehrte»[5]. Das bedeutet soviel, als daß sie den erstarrten Formen der parlamentarischen Demokratie mit ihrem bürokratischen Machtapparat das Ideal einer echten und unmittelbaren Demokratie gegenüberstellten. Charakteristik für richtig und möchten hinzufügen, daß hierbei die Ideale der jakobinischen Demokratie anstelle der heutigen demokratischen Wirklichkeit gesetzt wurden. An die Arbeiterdemokratie wurde einstweilen nicht gedacht. «Das Proletariat», erklärt Klaus Hartung, «war uns zunächst gleichgültig»! Anschließend schreibt Hartung, daß «nichts falscher wäre, als gerade darin die (klein)bürgerliche Herkunft der Studentenrevolte nachweisen zu wollen». Die Bemerkung trifft nicht auf uns zu. Wir leiten den kleinbürgerlichen Charakter der «neuen Opposition» nicht her von ihrer Gleichgültigkeit hinsichtlich der Arbeiterklasse, sondern wir erklären umgekehrt diese Gleichgültigkeit aus ihrem kleinbürgerlichen Charakter. Wenn Hartung behauptet, das Proletariat wurde ignoriert, weil es sich nicht rührte und «zum geschichtslosen Produzenten des Mehrwerts geworden war», ohne an seinen Ketten zu zerren, so hat man es, im Gegensatz zu dem was er als seine Meinung äußert, nicht mit «einer richtigen geschichtlichen Wahrnehmung» zu tun, sondern mit einem geradezu kleinbürgerlichen Zerrbild. Dessen Kleinbürgerlichkeit wird dadurch noch unterstrichen, daß Hartung hinzufügt, die neue Opposition 10

glaubte nicht «daß der Arbeiter, wenn er der Spur seiner materiellen Interessen folgt, schon auf den revolutionären Weg stoßen wird» und, daß sie sich eine revolutionäre Entwicklung nur vorstellen konnte als «der Ausbruch aus seiner Situation», als «der Übertritt in das antiautoritäre Lager». Jakobinertums wieder: die Varkennung der wirklichen proletarischen Lage, die großartige Unterschätzung des Interessenkampfes und die ebenso großartige Überschätzung der (revolutionären) Idee. Keine Spur von der Erkenntnis, daß Ideen sich in der Geschichte immer nur blamiert haben, dafür aber das Mißverständnis, die Arbeiter könnten nur «auf den revolutionären Weg stoßen», falls sie sich unter die Fahne einer von radikalen Ideen erfüllte Bewegung stellen würden, einer Bewegung also die sich selbst als revolutionäre Vorhut deutet. III. Die «neue Opposition» - sie mag den Anspruch recht weniger klar erheben als die verschiedenen bolschewistischen Gruppen und Parteien -, betrachtet sich tatsächlich als revolutionäre Vorhut. Das wird auch von Klaus Hartung festgestellt. Er spricht in diesem Zusammenhang von der «historischen Krankheit der Studentenbewegung». Wo er den Versuch unternimmt die Ursache dieser Krankheit aufzudecken, da meint er, sie wäre aus einer Enttäuschung über das, was er, mit charakteristischer jakobinischen Wortwahl, «das Volk» nennt, zu erklären. Er geht jedoch nicht so weit, daß er die Enttäuschung selbst analysiert; jakobinischen Theorie und der gesellschaftlichen Praxis. sie sich als Partei konstituiert hat oder nicht. Das ist Hartung insofern nicht entgangen, als er seine Kritik insbesondere auf diese Organisationsform verlegt. Er hat erkannt daß die Partei, das heißt jede Partei, ihre Theorie oder ihre Wahrheit als die Wahrheit hinstellt; er hat gleichfalls erkannt, daß eine Partei ihren Mitgliedern die Sicht auf die, immer komplizierte, Wirklichkeit benimmt. Aber er schweigt darüber, daß, wo immer die Kenntnis der Wirklichkeit beschränkt ist, diese oder jene besondere Wahrheit als die allgemeine Wahrheit hingenommen wird und somit ein geistiges Klima geschaffen wird, das für die Partei einen günstigen Nährboden bildet. Um konkret zu werden: sobald die radikale jakobinische Wahrheit bezüglich der Unterdrückung des «Volkes» bei großen Teilen davon, das heißt

da wird das nicht der Tatsache zugeschrieben, daß die proletarische Realität und der Arbeiterkampf etwas ganz anderes sind, als als die jakobinische Studentenopposition glaubt, sondern es wird den Arbeitern fehlendes Bewußtsein und demnächst einen Mangel an revolutionärem Willen vorgeworfen. Der Avantgarde oder der Partei wird alsdann die Aufgabe zugeteilt, die Arbeiter bewußt zu machen. Ihren «Mangel an einem revolutionären Willen» soll durch den revolutionären Willen einer sogenannten Vorhut kompensiert oder sogar ersetzt morden. So stark ist diese Tendenz, so kräftig setzt diese Entwicklung sich jeweils durch, daß die gelegentlich dämmernde Ahnung, es komme doch weniger auf den revolutionären Willen als auf die soziale Eigengesetzlichkeit, die reellen Widersprüche und die wirklichen Kämpfe an, sie kaum abzuschwächen vermag. Der ehemalige Studentenführer Rudi Dutschke zum Beispiel hat mal an jene Kritik erinnert[6], welche Marx an der Fraktion WillichSchapper im einstigen Bunde der Kommunisten geübt hat, nämlich daß sie «an die Stelle der kritischen Anschauung eine dogmatische setze, an die Stelle der materialistischen eine idealistische» und, daß «ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution» werde[7]. An der betreffenden Stelle erörtert Marx, daß die Arbeiter «15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Volkskriege durchzumachen haben, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um sich selbst zu ändern». Dutschke aber versteht die Änderung um die es hier geht trotzdem nicht sosehr als Selbständerung, jedoch vielmehr als eine die von außen her zustande gebracht werden soll. Das ergibt sich daraus, daß er den Klassenkampf nicht als einen sozialen, sondern als einen politischen Kampf versteht, den nicht die Arbeiter selbst, sondern die sogenannten Arbeiterparteien zu führen haben[8]. Nach Dutschke wäre dieser «politische Klassenkampf» mit einem «bewußten Klassenkampf» identisch. Darüber hinaus behauptet er, daß «nur im bewußten Klassenkampf das... Selbstbewußtsein des Proletariats» entstehe, das er späterhin als «revolutionäres Klassenbewußtsein» Buchstäblich heißt das nichts geringeres als, daß in einem bereits b e w u ß t geführten Kampfe abermals ein bestimmtes Bewußtsein erweckt würde. Was für eins schon?,könnte man da fragen. Die einzig vernünftige Antwort kann nur diese sein, daß hier das proletarische Bewußtsein der Öffentlichen Wirkung einer politischen Avantgarde zugeschrieben, also als ein politisches Bewußtsein verstanden wird. Das ist tatsächlich exakt die Auffassung der neuen Opposition, welche - wie es auch Mager

und Spinnarka getan haben - es von Anfang an für möglich gehalten hat, daß ihre Aktion andere Teile der Gesellschaft zur Erkenntnis bringe und somit zum Handeln veranlasse. Es wird damit völlig verkannt, daß man sich nie etwas anderem als der materiellen Wirklichkeit bewußt werden kann und, daß die Wirklichkeit der Studenten grundverschieden ist von jener der industriellen Arbeiterschaft, daß die erstere den politischen Verstand erzeugt, die letztere aber den sozialen Instinkt, der sich zwar anfangs noch vom politischen Verstand belügen läßt, nicht aber, wenn ein gewisser Entwicklungsgrad erreicht worden ist[10]. Daraus erklärt sich das, was Hartung ohne Zurückhaltung als die Ablehnung der von den Studenten herangetragenen «Wahrheit» beschrieben hat, ein Verhalten ihnen gegenüber, für welches eben von Arbeitern verwendete Wort wie «Euch müßte man mal ...» charakteristisch sind. Die Studenten, die nicht am Produktionsprozeß in einer besonderen Situation. Insofern manche von ihnen anerkennen, daß die Änderung der Umstände und die menschliche Tätigkeit oder Salbstveränderung zusammenfallen und nur als revolutionäre Praxis gefaßt werden können, handelt es sich bei ihnen um Situation erklärt. Mit «revolutionärer Praxis» meinen sie, statt jener der tätigen Produzenten, die Praxis der Revolutionäre für die es, wie immer für Leute die sich als «Heerführer» betrachten, in erster Linie auf eine Strategie ankommt[11]. Falls so ein faustischer Revoluzzer einem, der täglich am Fließband steht, zu erkennen gibt: «Geschäftiger Geist, wie nah fühl’ ich mich dir», kann der Angeredete mit Maphistopheles erwidern: «Du gleichst dem Geist den du begreifst, nicht mir!» IV. Der lebensgroße Unterschied zwischen der Wirklichkeit der Studenten und jener der Arbeiter, wie auch dessen Folgen für das respektive Bewußtsein kann man eindeutig erläutern anhand das Verhältnisses der neuen Opposition zum Staatsapparat das - hier sind wir mit Hartung einverstanden - in der Geschichte der antiautoritären Bewegung eine zentrale Rolle gespielt hat. Die Tatsache ist leicht zu verstehen. Wenn die Studenten zu rebellieren anfangen, streben sie eine Hochschulreform an, damit sie nicht länger von professoralen Fachidioten zu Fachidioten ausgebildet werden[12]. Sie wollen die Chance haben, sich «als Staatsbürger» zu entwickeln mittels politischer Information, politischer Meinungsäußerung und politischer Diskussion. Sie verlangen eine 11

Demokratisierung der Universität. Diese hat jedoch nicht nur eine sehr bestimmte, jenem Verlangen wenig entgegenkommende Funktion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sie ist zugleich eine Anstalt der Obrigkeit. Hinter dem akademischen Senat, hinter dem Rektor und hinter allen universitaren Instituten stehen das bürgerliche Gesetz und die bürgerlichen zwischen Studenten und Universität ist somit ein Freiheiten handelt, in erster Instanz um das Recht, Sondermeinungen zu äußern Über politische Fragen über zum Beispiel den Vietnamkrieg. Daß gerade hinsichtlich des Vietnamkrieges moralische Gefühle stark mitgespielt haben, ändert den politischen Charakter der Sache nicht im geringsten. Im Gegensatz nun zu den Arbeitern, die bei ihrem sozialen Widerstand an erster Stelle mit dem Unternehmertum, mit Betriebsverwaltungen, möglicherweise auch mit der Gewerkschaftsbürokratie konfrontiert werden und erst indirekt, in einer späteren Phase die Machtmittel der Obrigkeit zu spüren bekommen, haben es die rebellierenden Studenten bei ihrem politischen Widerstand sofort mit der Obrigkeitsgewalt zu tun. Das ist der Fall innerhalb der Universität, wenn die Polizei den Befehl bekommt, eins der Universitätsgebäude auszuräumen, wie in Berlin am 19, April 1967. Es ist genau so außerhalb der Universität, das heißt auf der Straße wohin der Streit auch dadurch je langer je mehr verlegt wird, daß vom 16. Februar 1966 an innerhalb der Universität keine politischen Zusammenkünfte oder Veranstaltungen mehr abgehalten werden dürfen. Somit wird der Zusammenstoß der neuen Opposition mit der Obrigkeit von früh an einen Zusammenstoß im buchstäblichen Sinne. Immer und immer wieder treffen die Studenten auf die bewaffnete Macht. Für die Arbeiter ist der Klassengegensatz zum Unternehmertum die tägliche und vorherrschende Lebenserfahrung; für die Studenten aber ist es die Polizeigewalt. Nicht im Produktionsbereich begegnen sie der bürgerlichen Gesellschaft und dem bürgerlichen Staat, sondern auf der Straße, das heißt gerade dort wo der bürgerliche Staat ihnen gegenüber das strategische Übergewicht besitzt. Über Hartungs Bemerkung, daß die antiautoritäre Bewegung nicht auf der Straße geschlagen worden ist, kann man andrer Meinung sein. Unbestreitbar aber ist es, daß sie dort keineswegs gesiegt hat. Daher auch weist Hartung zwei Seiten weiter darauf hin, daß die Studenten einen Begriff vom Staatsapparat im Kopf haben, «der so umfassend und total ist, daß sich gegen ihr nichts machen läßt». Daraus wird dann allerdings 12

von den Studenten gefolgert, es käme darauf an, ihn «endgültig zu zerschlagen». Das aber ist eine reine Phrase; was da vorhergeht ist genau die theoretische Abspiegelung von dem was die Studenten in ihrer Praxis erfahren haben. Die Arbeiter machen eine ganz andere Erfahrung, wenn da zum Beispiel im Frühling 1969 in der bundesdeutschen Industrie ganz spontan «wilde» Streiks losgehen und die BRD von einer Streikwelle getroffen wird welche schließlich in den Septembertagen ihren Höhepunkt erreicht, so ist nicht bloß das Unternehmertum, nicht bloß die Gewerkschaftsbewegung, sondern die ganze

Für die antiautoritäre Bewegung kamen, schreibt Hartung, die Septemberstreiks als ein Schock. Sie war, fügt er hinzu, «auf die spontanen Kämpfe des Proletariats nicht vorbereitet.» Sie war es tatsächlich nicht, trotz ihrer anfänglichen Erwartung, die Universitätsrevolte könnte auf andere gesellschaftliche Bereiche und Klassen übertragen werden. Bernd Rabehl nannte etwa ein Jahr vor dem Ausbruch der Streikbewegung von 1969 den Gedanken an solch eine Übertragung «leichtfertig», «den Ausdruck einer ‘ungestümen’ Logik» (mehr ungestüm als logisch soll er wohl gemeint haben) und er charakterisierte ihn als ein «Wunschdenken»[13]. Die Ereignisse vom «Herbst 1969 - und spätere die eine Wiederholung derartigen spontanen Streikbewegungen verzeichneten - haben keineswegs den Nachweis gebracht daß Rabehl sich damals irrte. Denn die Septemberstreiks sind etwas ganz anderes als eine Übertragung der Studentenbewegung auf die Arbeiterklasse; sie bedeuten durchaus nicht, daß die Arbeiter sich unter die Fahne der neuen Opposition stellen. Die wesentliche Bedeutung dieser Streikwelle - das Vorgehen von unten auf, das Fehlen einer traditionellen Streikführung seitens der Gewerkschaften[14] und viele andere Einzelheiten weisen es nach - ist diese, daß die Arbeiter selbst 1969 zeigen die Arbeiter nicht, daß sie die Studenten als ihre Vorhut akzeptieren, sie liefern im Gegenteil den Beweis, daß sie keine solche Vorhut brauchen. Die Septemberstreiks von 1969 liegen als soziale Bewegung nicht auf der gleichen Längenachse wie die politische Studentenbewegung, sie stehen damit in geradem Widerspruch. Der Gedanke, die antiautoritäre Bewegung solle als eine Avantgarde der Arbeiterklasse funktionieren, sie verkörpere «den revolutionären Willen», sie sei dazu berufen, dem Proletariat bewußt zu machen, daß es gegen die bestehenden Verhältnisse zu kämpfen habe, ist während der Septemberstreiks abermals als ein Mythos entlarvt worden, und zwar

nicht mittels theoretischer Argumente, sondern vom Klassenauftritt der Arbeiter, der unmittelbar aus ihrer Situation hervorging, Also: die studentische Ideologie entspricht nicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit. seinen Grund. V. Hartung, wir haben schon darauf hingewiesen, spricht nicht vom Untergang der antiautoritären Bewegung. Er träumt noch immer von ihrem künftigen Sieg. Dennoch hat er einen Blick für ihre Mißerfolge, aber er sucht deren Ursache nicht dort wo er sie nach unsrer Meinung suchen sollte. Deswegen faßt er sie als Mißerfolge, welche die antiautoritäre Beilegung überwinden könnte. Was er zum Beispiel die ‘’Dogmatisierung» der neuen Opposition nennt, die Tatsache, daß sie unter Hochdruck seitens der wie Pilze emporgewachsenen bolschewistischen Gruppen gerät und dadurch zu einer bestimmten politischen Linie gezwungen wäre, verstehen wir ganz anders als er. Infolge des politischen und jakobinischen Charakters der neuen Opposition, den wir schon kennengelernt haben - und der sie weniger «neu» macht als sie wohl scheinen mag - haben bolschewistische Theorien für sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Denn der Bolschewismus ist nun einmal die konsequenteste Form des modernen Jakobinertums in der heutigen Gesellschaft. Nicht der Dogmatismus hat die Realität beiseite geräumt, wie es Hartung behauptet, sondern die reelle Gestalt der antiautoritären Bewegung macht sie zu einer leichten Beute des bolschewistischen Dogmas. Nicht die bolschewistischen Gruppen zwingen die antiautoritäre Bewegung auf eine politische Linie. Deshalb weil die neue Opposition naturgemäß eine politische Linie verfolgt, wird sie gleichsam von selbst zum Bolschewismus[15] gedrängt. Darüber zu streiten, ob damit ein künstlicher Nebel ringsum die politische Wirklichkeit erzeugt wird - wie Hartung behauptet - oder schon an einem früheren Zeitpunkt, hat kaum einen Zweck. Es kommt nicht sosehr darauf an wann, sondern darauf weshalb die politische Wirklichkeit sich vermischt und sie vermischt sich weil die neue jakobinische Opposition immer schon der gesellschaftlichen Wirklichkeit den Rücken zugekehrt hat. Nach Hartung hat sie «die Bühne der Klassengesellschaft gebaut» auf der ihre Angehörigen sich bis jetzt «um die richtigen Kulissen streiten». Das Bild trifft zu unter der Bedingung, daß dabei besonders betont wird, daß es sich um eine Bühne handelt auf der eine bestimmte Auffassung der Klassengesellschaft in

jeweiliger Regie dargestellt wird. Auf diese Darstellung, nicht auf die soziale Realität, richtet die neue Opposition das Auge. Aber weder die lebensechteste Kulisse, noch selbst das fundierteste Kostüm können etwas daran ändern, daß solch eine Darstellung mit der wirklichen Klassengesellschaft und mit dem wirklichen Klassenkampf nicht identisch ist. Nachdem man sich vorher einem Wunschtraum hingegeben hat, vergafft man sich in einer Wunschuorstellung, in einer Illusion. Hartung mag daran nicht glauben, das Ende solcher Illusionen ist immer die Katastrophe! Daß und wie der Bolschewismus immer kräftiger in die antiautoritäre Bewegung durchstößt, das geht sonnenklar aus Hartungs Schilderung hervor. In dieser Hinsicht ist sie besonders eindringlich. An gewisser Stelle spricht er von dem Bestreben der neuen Opposition, sich auf der Basis von «Was tun?», das heißt den leninistischen Prinzipien gemäß, zu organisieren. An andrer Stelle ist die Rede von dem von uns auch bei Rabehl verzeichneten Versuch einer «Transformation der antiautoritären Beilegung in eine proletarische Bewegung». Hartung bringt dazu ein Zitat in dem es sogar heißt «der studentische Kampf» (Hervorhebung von mir - C.B,) sei «in einen proletarischen Kampf transformierbar»[16]. Wo er auf die durch den Versuch ausgelöste Diskussion eingeht, betrachtet er sie als «die Wende der Bewegung». Sie kommt in eine Stromschnelle. Kaum ein halbes Jahr später ist der Spaltpilz an der Arbeit. Die Einheit der neuen Opposition gehört der Vergangenheit an. Aber, so immer noch Hartung, die Studenten schätzen das für Nichts «weil es das Proletariat zu organisieren galt». Hartung nennt das «eine Selbsttäuschung», eine haben. Er beschreibt diesen Gang der Ereignisse auch so, daß die Studenten anfangen «für andere, für den Arbeiter Politik zu entwerfen». Wieder anderswo stellt er fest, daß «die radikale Bewegung sich in eine militante Minderheit verwandelt», Aber es gelingt ihm nach unserer Überzeugung nicht, die Ursachen von alledem aufzudecken; er faßt die von ihm geschilderte Entwicklung nicht als eins natürliche Entwicklung. Wenn er sich schon kritisch über die Nachahmung der leninistischen Organisationsform äußert, dann nur, weil «Lenin die Organisationsprinzipien von ‚Was tun?’ unter der historischen Bedingung der Allmacht der russischen Geheimpolizei entwickelt» habe, also innerhalb einer Situation die es in Deutschland nicht Spur jener anderen, doch schon längst bekannten Anschauung, daß die jakobinische Auffassung der Revolution, nach welcher das Proletariat nicht 13

salbst das erforderliche «revolutionäre Bewußtsein» erwerben kann[17], für Lenin entscheidend gewesen ist. Dadurch, daß Hartung im jakobinischen Milieu gebildet worden und mit der jakabinischen Ideologie politisch aufgewachsen ist, legt er den Finger nicht auf die eigentliche Wunde, nicht auf Lenins Jakobinismus. Es leuchtet ihm nicht ein, daß gerade dieser Jakobinismus der verhängnisvolle Stern ist, unter dem die neue Opposition auf die Welt gekommen ist. Tatsächlich: die Anschauung, den Arbeitern sollte man von außen her Bewußtsein beibringen, sie könnten um die Worte Hartungs zu wiederholen - nicht von sich aus «auf den revolutionären Weg stoßen», haben wir schon als ein Merkmal auch der frühen antiautoritären Bewegung zu unterscheiden gelernt. Wenn Hartung darauf etwas näher eingeht bemerkt er, das Proletariat Welt». Das ist eine Ansicht die völlig übergeht, auf welche Weise im Kapitalismus ökonomische zustande kommen, und die faktisch nichts anderes ist, als die auch von Lenin verkündete Theorie der sogenannten «Arbeiteraristokratie». Der Zusammenhang dieser Theorie mit dem Jakobinertum der Bolschewiki kann ebensowenig verneint werden, wie der Zusammenhang der jakobinischen Auffassungen mit dem der neuen Opposition anhaftenden Voluntarismus. Hierüber äußert sich Hartung besonders unbestimmt. Bald scheint er dessen Vorhandensein zuzugeben, bald scheint er sich von einer Kritik daran zu distanzieren, zum Beispiel wenn er erwähnt, daß einer wie Jürgen Habermas den Studenten ihre voluntaristische Ideologie vorgeworfen hat. Jedoch, das Jakobinertum der Studentenbewegung, ihr von Haus aus politischer Charakter und ihr Voluntarismus, das heißt die Bedeutung, welche sie dem «revolutionären Willen» zuschreibt, bilden ein unzertrennbares Ganzes, das sich aus ihrer Distanz von der Arbeiterklasse ergibt. Von dieser Distanz bringt Hartung treffende Beispiele ohne daran die nach unserer Meinung unentrinnbare Schlußfolgerungen zu verbinden. Er betrachtet die Klassengrenze, vor welcher die Studenten stehengeblieben sind als eine Kluft, die sie nach seiner Meinung hätten überbrücken sollen, nicht als ein Hindernis, woran sie zerschellt sind. Nicht weil als antiautoritär oder nicht antiautoritär genug war ist die neue Opposition zugrunde gegangen, sondern weil sie glaubte, sie müsse die Arbeiter bevormunden. Aber die Arbeiter brauchen keine Bevormundung und sie lassen sich nicht länger bevormunden. Die antiautoritäre Bewegung hat es erfahren. Zu ihrem Verhängnis. 14

Fussnoten: [1] Mager und Spinnarke, «Was wollen die Studenten?», Frankfurt am Main/ Hamburg 1967, S. 152/153. [2] Kursbuch 48: Klaus Hartung, «Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen», weiterhin abgekürzt als Hartung. [3] Bequemlichkeitshalber sprechen wir von der antiautoritären Beilegung. Wir sind uns bewußt, daß diese sich in mancherlei Formen darbietet und, daß es sich nicht um eine Bewegung handelt, die sich als solche konstatiert hat. Es gibt in der Gesellschaft eins Menge Erscheinungen die alle antiautoritäre Tendenzen aufweisen. Bald gehen sie in einander über, bald treten sie scharf getrennt auf und wie das mit den meisten sozialen Erscheinungen oder Bewegungen der Fall, ist, ihr Anfang kann des öfteren nur schwer festgestellt werden. Zu der antiautoritären Bewegung könnte man auch den autonomen Arbeitskampf rechnen, weil er die bürgerlichen Machtverhältnisse in Frage stellt. Wir tun das hier nachdrücklich nicht. Wo in diesem Aufsatz von der antiautoritären Bewegung die Rede ist, verstehen wir darunter jene Bewegung, die sich zwar gegen die existierende Ordnung richtet, dabei aber nicht über die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hinwegschreitet, sogar dann nicht wenn sie selbst vom Gegenteil überzeugt ist. Weil es sich bei alledem im Allgemeinen um Bewegungen oder Kundgebungen junger Intellektuelle handelt, steht im Mittulpunkt unserer Betrachtungen das, was man gewöhnlich die Studentenbewegung nennt. [4] Paul Mattick, «Kritik an Herbert Marcuse», Frankfurt am Main 1969, S. 60. [5] Bernd Rabehl, «Von der antiautoritären Bewegung zur sozialistischen Opposition» in: Uwe Bergmann, Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre und Bernd Rabehl, «Rebellion der Studenten oder die neue Opposition», Reinbek 1968. Dort S. 174. Weiterhin abgekürzt als Rebellion der Studenten. [6] Rudi Dutschke, «Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt» in: Rebellion der Studenten, S. 40 [7] Karl Marx, «Enthüllungen über den KommunistenProzeß zu Köln», MEW, Band 8, S. 41 [8] Dutschke, Rebellion der Studenten, S. 41

[9] Dutschke, Rebellion der Studenten, S. 40 und 41. [10] vgl. Karl Marx, «Kritische Randglossen zu dem Artikel ‘Der König von Preußen und die Sozialreform’ von einem Preußen», MEW, Bd. 1, S. 406

Jakobiner und er charakterisierte dort seine Gegner als Girondisten (vgl. Lenin, «Ausgewählte Werke», Bd. 2 a.0. S. 436).

[11] Nicht von ungefähr liest man in der Einführung zum Büchlein von Bergmann, Dutschke usw.: «In diesem Buch soll versucht werden, eine mögliche Strategie für eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung aufzuzeigen». [12] So buchstäblich in einem Flugblatt das am 26. November 1966 in der Berliner Universität verlesen wurde. Man sehe: Rebllion der Studenten, S. 22/23 [13] Bernd Rabehl, Rebellion der Studenten, S. 176 [14] Man sehe z, B. den Bericht «Die Septemberstreiks 1969», herausgegeben vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen, Frankfurt am Main 1919, worin auf S. 59 den Gang der Ereignissse bei den Stahlbetrieben «Union» und «Phoenix» geschildert wird. In einem Spiegel-Interview gab damals der inzwischen verstorbene IG Metall-Führer, Otto Branner, zu, daß er von den Septemberstreiks völlig überrascht wurde» [15] Wenn wir in diesam Zusammenhang vom «Bolschewismus» reden, dann meinen wir nicht irgendeine besondere politische Position, wie jene der DKP, der KP-ML oder sonstige entweder trotzkistischen oder maoistiachen Organisation, von welchen die antiautoritäre Bewegung sich immer, wenn auch nicht immer scharf genug, distanziert hat, sondern den Bolschewismus im allgemeinen. Wir beziehen uns auf eine Position, die wesentlich als

[16] Hartung, S. 34. [17] In «Was tun?» behauptete Lenin, ein «sozialistisches Bewußtsein» könne den Arbeitern «nur von außen her beigebracht werden»; aus derselben Zeit wie jener Broschüre stammt der Aufsatz «Die dringendsten Aufgaben unserar Bewegung». Darin hieß es: «Ohne politische Partei..., ist das Proletariat nicht imstande, sich zum bewußten Klassenkampf emporzuschwingen» (vgl. Lenin, «Ausgewählte Werke», Wien/Berlin 1932, Band 2, S, 52 und S. 14). In seinem Aufsatz «Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück» (geschrieben 1904) nannte Lenin sich selbst nachdrücklich einen 15

Partei und Arbeiterklasse Anton Pannekoek (1936) Wir sehen erst die allerersten Anfänge einer neuen Arbeiterbewegung emporkommen; die alte Bewegung ist verkörpert in Parteien; der Glaube an die Partei ist das schwerste Hemmnis, das die Arbeiterklasse jetzt machtlos macht. Daher vermeiden wir es, eine neue Partei zu bilden; nicht, weil wir zu wenig sind — jede Partei mußte klein anfangen — sondern weil eine Partei jetzt eine Organisation bedeutet, die die Arbeiterklasse führen und beherrschen will. Demgegenüber stellen wir das Prinzip: die Arbeiterklasse wird nur emporkommen und siegen können, wenn sie selbst ihre Geschicke in die Hand nimmt. Die Arbeiter sollen nicht gläubig die Losungen eines Anderen, einer Gruppe übernehmen, auch nicht die unsrigen, sondern selbst denken, selbst handeln, selbst entschließen. Daher betrachten wir als ihr natürliches Organ zur Aufklärung in dieser Zeit des Übergangs die Arbeitsgruppen, die sich selbst bildenden, ihren Weg selbst suchenden Studien- und Diskussionsorganisationen. Diese Anschauung steht im schärfsten Widerspruch zu den überlieferten Auffassungen über die Rolle der Partei als wichtigstes Organ zur Aufklärung des Proletariats. Daher stößt sie in vielen Kreisen, die von der sozialistischen oder kommunistischen Partei nichts mehr wissen wollen, auf Widerstand und Ablehnung. Teilweise ist das die Macht der Tradition; wenn man immer den Arbeiterkampf als Parteikampf und Kampf der Parteien betrachtet hat, ist es sehr schwer, die Welt vom Gesichtspunkt der Klasse allein und des Klassenkampfes zu sehen. Aber teilweise steckt darin auch das Bewußtsein, daß trotz alledem die Partei eine wesentliche und wichtige Rolle in dem Befreiungskampf des Proletariats zu spielen hat. Diese wollen wir jetzt näher betrachten. Der Unterschied, um den es sich hier handelt, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: eine Partei ist eine Gruppierung nach Anschauungen, eine Klasse ist eine Gruppierung nach Interessen. Die Klassenangehörigkeit wird bestimmt durch die Rolle im Produktionsprozeß, die bestimmte Interessen mit sich bringt. Die Parteiangehörigkeit beruht auf dem Zusammenschluß von Personen, die die gleichen Ansichten über die wichtigen gesellschaftlichen Fragen hegen. Früher hat man geglaubt, aus theoretischen und praktischen Gründen, daß dieser Gegensatz verschwinden werde in der Klassenpartei, der «Arbeiterpartei». Während des Emporkommens 16

der Sozial-Demokratie schien es, als ob diese Partei allmählich die ganze Arbeiterklasse umfassen sollte, teils als Mitglieder, teils als Mitläufer. Und weil die Theorie besagte, daß gleiche Interessen notwendig gleiche Ansichten und gleiche Ziele bewirken müssen, müßte der Unterschied zwischen Klasse und Partei stets mehr verschwinden. Die geschichtliche Entwicklung hat dann ganz andere Dinge gezeigt. Die Sozialdemokratie blieb eine Minderheit, andere Arbeitergruppen organisierten sich gegen sie, Teile spalteten sich ab, ihr eigener Charakter änderte sich, ihre Programmpunkte wurden revidiert oder bekamen eine andere Bedeutung. Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nicht nach einer glatten Linie, sondern in Kämpfen und Gegensätzen. Mit dem Wachstum des Arbeiterkampfes wächst auch die Macht des Gegners und wirft immer wieder neue Unsicherheit und Zweifel in die Herzen der Kämpfer, welchen Weg sie zu wählen haben. Und jeder Zweifel bewirkt Spaltungen, innere Gegensätze und Richtungskämpfe innerhalb der Arbeiterbewegung. Man soll diese Spaltungen und Richtungskämpfe nicht einfach bejammern als etwas Schädliches, das nicht sein sollte und die Arbeiter machtlos hält. Es ist schon oft in diesen Schriften gesagt worden: die Arbeiterklasse ist nicht schwach weil sie innerlich gespalten ist, sondern sie ist innerlich gespalten weil sie schwach ist. Weil die Macht des Gegners gewaltig ist und die alten Mittel gegen ihn sich unfähig zeigten, deshalb muß die Arbeiterklasse sich ihre neuen Wege suchen. Was sie zu tun hat, kann nicht als eine Erleuchtung von oben kommen; sie muß es sich in schwerer Arbeit, in Denkarbeit, im Zwiespalt entgegengesetzter Meinungen, im harten Meinungskampf erringen. Selbst muß sie den Weg suchen, und dazu dient der innere Kampf. Sie muß alte Gedanken und Illusionen aufgeben und neue ist, deshalb ist die Spaltung so groß. Man soll auch nicht die Illusion haben, daß diese scharfen Partei- und Meinungskämpfe nur für diese Übergangszeit natürlich sind und nachher in einer großen Einheit verschwinden werden. Gewiß, in der Entwicklung des Klassenkampfes kommen Zeiten vor, daß auf einmal alle Kräfte sich auf einen großen erreichbaren Erfolg konzentrieren, und die Revolution von einer mächtigen Einheit getragen wird. Aber dann, wie nach jedem Sieg, kommen sofort die Differenzen über die weiteren Ziele. Auch

wenn die Arbeiterklasse siegreich ist, steht sie immer wieder vor den schwierigsten Aufgaben, die Gegner weiter niederzuwerfen, die Produktion aufzubauen, neue Ordnung zu schaffen. Es ist unmöglich, daß dabei alle Arbeiter, alle Schichten und Gruppen mit ihren oft noch verschiedenen Interessen dabei ganz dasselbe denken und fühlen, und sofort von selbst einmütig sind in dem weiteren Handeln. Gerade weil sie Menschen sind, die es selbst machen müssen, schärfsten Meinungsverschiedenheiten auftreten, die sich gegenseitig bekämpfen, und dadurch erst die Gedanken zu Klarheit bringen können. Wenn dabei nun die Personen mit gleichen Grundanschauungen sich zusammentun, zur Besprechung der praktischen Möglichkeiten, zur Klärung durch Diskussionen, zur Propaganda ihrer Ansichten, dann kann man solche Gruppen auch Parteien nennen. Der Name ist gleichgültig; das Wesentliche ist, daß in der Sache diese Parteien eine ganz andere Rolle haben als was die Parteien von heute für sich beanspruchen. Die Tat, das Handeln, der materielle Kampf ist die Sache der Arbeitermassen selbst, in ihrer Gesamtheit, in ihrer natürlichen Gruppierung als Fabrikbelegschaften, weil diese die Einheiten im praktischen Kampfe sind, oder in anderen natürlichen Gruppen. Es wäre widersinnig, wenn die Anhänger einer Parteimeinung in einen Streik treten und die Anhänger einer anderen Richtung weiter arbeiten sollten. Aber beide Richtungen werden durch ihre Anhänger ihren Standpunkt über Streik oder Nichtstreik in der Fabrikversammlung verfechten, und dadurch der Gesamtheit eine wohlbegründete Entscheidung ermöglichen. Der Kampf ist so groß, der Feind so mächtig, daß nur die Kraft der Massen in ihrer Gesamtheit einen Sieg erringen kann; materielle und moralische Kraft der Tat, der Einheit, der Begeisterung, aber zugleich geistige Kraft der Einsicht, der Klarheit. Und darin liegt die große Bedeutung solcher Parteien oder Meinungsgruppen, daß sie diese Klarheit bringen, durch ihre gegenseitigen Kämpfe, ihre Diskussionen, ihre Propaganda. Sie sind die Organe der Selbstaufklärung der Arbeiterklasse, mittels deren Es versteht sich dabei, daß solche Parteien und ihre Anschauungen nicht fest und unveränderlich sind. Mit jeder neuen Lage der Dinge, mit jeder neuen Kampfaufgabe werden sich die Geister trennen und vereinigen; andere Gruppierungen bilden sich mit anderen Programmen. Sie haben einen stets neuen Situationen an.

Die heutigen Arbeiterparteien haben einen völlig entgegengesetzten Charakter. Sie haben ja auch ein anderes Ziel; sie wollen die Herrschaft für sich erobern. Sie wollen nicht Hilfsmittel der Arbeiterklasse sein sich zu befreien, sie wollen selbst herrschen, und sagen, daß das die Befreiung des Proletariats sein wird. Die Sozialdemokratie, die im Zeitalter des Parlamentarismus aufwuchs, denkt sich diese Herrschaft als eine Parlamentsmehrheitsregierung. Die kommunistische Partei führt die Parteiherrschaft zur äußersten Konsequenz, als Parteidiktatur. Solche Parteien, im Gegensatz zu dem oben Gesagten, müssen starre Gebilde sein, die sich fest abgrenzen, durch Mitgliedsbuch, Statut, Parteidisziplin, Aufnahme- und Ausschlußverfahren. Denn sie sind Machtapparate, kämpfen um die Macht, halten ihre Anhänger durch Machtmittel bei der Stange, und suchen ihre Ausdehnung, ihr Machtgebiet stetig zu erweitern. Ihre Aufgabe ist nicht, die Arbeiter zum Selbstdenken zu erziehen, sondern sie zu gläubigen Anhängern gerade ihrer Lehre zu dressieren. Während daher die Arbeiterklasse für ihre Machtentwicklung und ihren Sieg die unbeschränkteste Freiheit der geistigen Entwicklung braucht, muß die Parteiherrschaft alle anderen Meinungen als ihre eigene zu unterdrücken suchen. Bei «demokratischen» Parteien geschieht das verhüllt, unter dem Scheine der Freiheit, bei den Diktatur-Parteien geschieht es durch offene brutale Unterdrückung. Es gibt schon viele Arbeiter, die einsehen, daß die Herrschaft der sozialistischen oder der kommunistischen Partei nur eine verhüllte Form der Herrschaft einer bürgerlichen Klasse sein würde, wobei die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse bestehen bleibt. Aber statt derer soll nun nach ihrer Ansicht eine «revolutionäre Partei» aufgebaut werden, die wirklich die Herrschaft der Arbeiter erstrebt und den Kommunismus verwirklichen will. Nicht eine Partei in dem Sinne als wir im ersten Stück darlegten, eine Meinungsgruppe, die nur aufklärt, sondern eine Partei im heutigen Sinne, die selbst um die Macht kämpft, die als Vorhut der Klasse, als Organisation der bewußten revolutionären Minorität die Parteiherrschaft erobert, um sie für die Befreiung der Klasse auszunutzen. Wir behaupten demgegenüber: In dem Namen «revolutionäre Partei» liegt schon ein innerer Widerspruch. Eine solche Partei kann nicht revolutionär sein. Es sei denn, daß man einen Regierungswechsel mit etwas Gewalttätigkeit — wie z.B. den Beginn des dritten Reiches — eine 17

Revolution nennt. Wenn wir über «revolutionär» reden, ist dabei natürlich immer an die proletarische Revolution, die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse gedacht. Die «revolutionäre Partei» beruht auf der Idee, daß die Arbeiterklasse eine Gruppe von Führern braucht, um für sie die Bourgeoisie zu besiegen und eine neue Regierung zu bilden — m.a.W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig zur Revolution ist. Sie beruht auf der Idee, daß diese Führer dann durch Gesetzesdekrete den Kommunismus einführen, — m.a.W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig ist, ihre Arbeit und Produktion zu verwalten und zu ordnen. Ist aber diese Idee vorerst nicht richtig? Da jetzt, in diesem Augenblick, die Arbeiterklasse als Masse sich noch nicht fähig zeigt zur Revolution, ist es daher nicht nötig, daß jetzt die revolutionäre Vorhut, die Partei, es für sie macht? Und gilt das nicht solange die Massen den Kapitalismus ruhig ertragen? Demgegenüber muß die Frage gestellt werden: welche Macht könnte eine solche Partei zur Revolution aufbringen? Wie ist sie imstande, die kapitalistische Klasse zu besiegen? Nur dadurch, daß die Massen hinter ihr stehen. Nur dadurch, daß die Massen aufstehen und durch Massenangriff, Massenkampf, Massenstreik die alte Herrschaft stürzen. Also ohne das Auftreten der Massen geht es auf keinen Fall. Dann kann zweierlei geschehen. Entweder die Massen bleiben bei der Aktion. Sie gehen nicht nach Hause, um der neuen Partei die Regierung zu überlassen. Sie organisieren ihre Macht in Fabriken und Werkstätten, sie bereiten den weiteren Kampf zur völligen Besiegung des Kapitals vor, sie bilden durch Arbeiterräte eine feste Verbindung, um damit die Leitung der ganzen Gesellschaft in die Hand zu nehmen — kurz, sie zeigen, daß sie nicht so ganz unfähig zur Revolution sind als es schien. Dann Partei, die selbst die Herrschaft in die Hand nehmen will, und die durch ihre Lehre, daß die Partei Führerin der Klasse sein müsse, diese Selbsttätigkeit der Klasse nur als Unordnung und Anarchie betrachtet. Es kann dann geschehen, daß die Bewegung der Arbeiterklasse sich machtvoll entwickelt und über die Partei hinweggeht. Oder umgekehrt könnte die Partei mit Hilfe bürgerlicher Elemente die Arbeiter niederwerfen. Aber jedenfalls ist die Partei dann ein Hemmnis der Revolution. Weil sie mehr sein will als Propaganda- und Ausklärungsorgan. Weil sie als Partei herrschen und führen zu müssen glaubt. Oder die Arbeitermassen befolgen die 18

Parteilehre und überlassen ihr die weitere Leitung der Sachen; sie folgen den von oben gegebenen Parolen, haben Zutrauen in die neue Regierung (wie in Deutschland 1918), die den Sozialismus oder Kommunismus verwirklichen wird, und gehen nach Hause an die Arbeit. Sofort setzt nun die Bourgeoisie ihre ganze Klassenkraft ein, deren Wurzeln noch ungebrochen sind: ihre Geldmacht, ihre gewaltige geistige Macht, ihre wirtschaftliche Macht in Fabrik und Großunternehmen. Dagegen ist die regierende Partei zu schwach; sie kann nur durch Mäßigung, durch Zugeständnisse, durch Nachgeben sich aufrecht erhalten. Dann sagt man, daß mehr im Augenblick nicht zu erreichen ist, und daß es Torheit bei den Arbeitern ist, durch Drängen unerfüllbare Forderungen durchsetzen zu wollen. So wird die Partei, beraubt von der Massenkraft einer revolutionären Klasse, zum Werkzeug der Erhaltung der bürgerlichen Herrschaft. Wir sagten vorher, daß eine «revolutionäre Partei» ein innerer Widerspruch sei, im Sinne der proletarischen Revolution. Man könnte es anders sagen: in dem Wort «revolutionäre Partei» bedeutet revolutionär immer eine bürgerliche Revolution. Immer wenn die Massen auftreten, um eine Regierung zu stürzen, und dann die Herrschaft einer neuen Partei überlassen, haben wir eine bürgerliche Revolution, die Ersetzung einer herrschenden Schicht durch eine neue frische herrschende Schicht. So kam in Paris in 1830 die Geldbourgeoisie an die Stelle des Grundbesitzes, in 1848 die industrielle Bourgeoisie an Stelle der Finanz, in 1870 die gesamte kleine und große Bourgeoisie. So kam in der russischen Revolution die Parteibürokratie als regierende Schicht zur Herrschaft. Aber in West-Europa und Amerika ist die Bourgeoisie so viel mächtiger und fester verankert in Betrieben und Banken, daß sie sich durch eine Parteibürokratie nicht beiseite schieben läßt. Sie kann nur besiegt werden, indem immer wieder an die Massen appelliert wird und diese die Betriebe beschlagnahmen und ihre Räteorganisation aufbauen. Aber dann stellt sich immer wieder heraus, daß in den Massen die wirkliche Kraft liegt, die in der fortschreitenden eigenen Aktion die Kapitalsherrschaft vernichtet. Diejenigen, die also von einer «revolutionären Partei» träumen, ziehen nur eine halbe, beschränkte Lehre aus der bisherigen Entwicklung. Weil die Arbeiterparteien, die S.P. und die K.P. zu bürgerlichen Herrschaftsorganen zur Aufrechterhaltung der Ausbeutung geworden sind, ziehen sie nur den Schluß, sie müssen es besser tun. Sie sehen nicht, daß hinter dem Versagen jener Parteien ein viel tieferer

Selbstbefreiung der ganzen Klasse durch eigene Kraft und der Beschwichtigung der Revolution durch eine arbeiterfreundliche neue Herrschaft. Sie glauben, eine revolutionäre Vorhut zu sein, weil sie die Massen ohne Aktivität, gleichgültig sehen. Die Massen sind aber inaktiv, weil sie den Weg des Kampfes, die Einheit der Klasse noch nicht klar sehen, und instinktiv die gewaltige Macht des Gegners und ebenso instinktiv die riesige Größe ihrer eigenen Aufgabe herausfühlen. Werden sie durch die Verhältnisse einmal zur Aktion getrieben, dann müssen sie diese Aufgabe, die Selbstorganisation, die Beschlagnahme der Produktionsmittel, den Angriff auf die wirtschaftliche Macht des Kapitals anfassen. Und dann stellt sich heraus, daß jene angebliche Vorhut, die versucht, die Massen nach ihrem Programm, mittels einer «revolutionären Partei» zu führen und zu beherrschen, gerade durch diese Auffassung sich als rückständig erweist.

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Partei und Klasse Amadeo Bordiga (1921) In den vom II. Kongress der Kommunistischen Internationale angenommenen, wahrhaft marxistischen Leitsätzen über die Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution wird zuallererst das Verhältnis zwischen dass die Klassenpartei nur einen Teil der Klasse in ihre Reihen aufnehmen kann - nie die ganze Klasse und wohl auch nie ihre Mehrheit. Diese auf der Hand liegende Tatsache wäre noch deutlicher geworden, wenn präzisiert worden wäre, dass man nicht einmal von Klasse sprechen kann, solange nicht eine Minderheit derselben dahin drängt, sich als politische Partei zu organisieren. Was ist denn, unserer kritischen Methode nach, eine gesellschaftliche Klasse? Existiert sie, wenn wir rein sachlich, äusserlich eine Analogie der sozialen und ökonomischen Bedingungen für grosse Massen von Individuen feststellen? Eine Analogie ihrer Stellung im Produktionsprozess? Das wäre sehr mager. Unsere Methode bleibt nicht dabei stehen, die in einem bestimmten historischen Moment bestehende gesellschaftliche Struktur zu beschreiben und - nach - eine abstrakte Scheidewand zwischen den Individuen zu errichten, die diese Struktur bilden. Die marxistische Kritik fasst die Gesellschaft in ihrer Bewegung, ihrer zeitlichen Abfolge, wobei wesentlich historische und dialektische Kriterien angewandt werden, d.h. untersucht werden die Geschehnisse, wie sie wechselseitig aufeinander einwirken und den Gang der Geschichte formen. Statt nach der alten metaphysischen Methode eine Momentaufnahme der Gesellschaft zu nehmen, um dann darin die verschiedenen Kategorien auszumachen, worin die Individuen, deren Summe die Gesellschaft bilden soll, eingeordnet werden, sieht die dialektische Methode die Geschichte als Film, und es sind die hervorspringenden Merkmale bei dieser Abfolge von Bildern, worin die Klasse gesucht und aufgefunden werden muss. Im erstgenannten Fall würden wir es den Statistikern und Demographen mit ihren tausend Einwänden gleichtun; in ihrer Kurzsichtigkeit kaum zu schlagende Leute, die sich die Abteilungen noch mal angucken und mit Sicherheit feststellen würden, dass es nicht 2, 3 oder 4 Klassen sind, sondern durch sukzessive unter sich getrennte 10, 100 oder 1000 Klassen. Im zweiten Fall indes haben wir ganz andere Faktoren, 20

um den Protagonisten des historischen Dramas, eben die Klasse, zu erkennen, ihre Merkmale, ihr Wirken, ihre Ziele festzustellen - Dinge, die aufgrund ihrer Gleichförmigkeit Gestalt annehmen, und zwar inmitten ständig wechselnder Erscheinungen, die eine Reihe von Ereignissen bewirkt und die der armselige Statistiker photographiert und in seiner sterilen und Will man also die Existenz und das Handeln einer Klasse in einem bestimmten historischen Moment nachweisen, muss man nicht wissen, wieviele englische Landlords im 18. Jahrhundert lebten oder wieviele Arbeiter Anfang des 19. Jahrhunderts in den belgischen Manufakturen schwitzten. Wir müssen unserer folgerichtigen Untersuchung eine ganze historische Periode zugrundelegen, darin die soziale, daher politische Bewegung aufspüren, vielleicht auch nur - durch Höhen und Tiefen, Erfolge und die sich gleichwohl deutlich abzeichnet, wenn man dem Komplex von Interessen folgt, die einen Teil der Menschen, die vom Produktionssystem und seinen Entwicklungen unter bestimmte Lebensbedingungen geworfen wurden, verbinden. So konnte Friedrich Engels in einer seiner ersten klassischen Anwendungen dieser Methode aus der «Geschichte der arbeitenden Klassen in England», eine Reihe politischer Bewegungen herausarbeiten und das Bestehen eines Klassenkampfes nachweisen. Der dialektische Klassenbegriff steht weit über den langweiligen Einwänden der Statistiker. Sie haben kein Recht mehr, die gegensätzlichen, auf der Geschichtsbühne gegeneinander antretenden Klassen wie Chorgruppen auf den höheren und niederen Bühnenstufen zu gruppieren; sie können unsere Schlussfolgerungen auch nicht durch die Tatsache widerlegen, dass in den Berührungszonen zwischen sind, durch die hindurch ein osmotischer Austausch die Physiognomie der einander gegenüberstehenden Klassen verändert wird.

Der Klassenbegriff darf also keine statische, sondern muss eine dynamische Vorstellung hervorrufen. Wo wir eine soziale Tendenz, eine Bewegung mit bestimmten Zielen wahrnehmen, existiert eine Klasse

im wirklichen Sinne des Wortes. Aber dann existiert auch, wenn auch noch nicht formell, so doch in der Substanz, eine Klassenpartei. Es sind Lehre und Kampfmethode, durch die eine Partei lebt. Sie ist eine Schule der politischen Denkweise und damit eine Kampforganisation. Ersteres betrifft das Bewusstsein, letzteres den Willen, oder genauer, die Zielsetzung. Ohne diese beiden Merkmale lässt sich eine Klasse gar nicht als solche bezeichnen. Der blosse in den Lebensumständen mehr oder minder grosser Gemeinschaften feststellen; aber das Werden der Und beide Merkmale werden überhaupt erst existent, wenn sie als Kondensat in der Klassenpartei konkret werden. So wie sich mit der Entwicklung bestimmter Bedingungen und Verhältnisse infolge der Durchsetzung neuer Produktionssysteme die Klasse bildet, so beginnen sich ihre Interessen stufenweise in einem Bewusstsein zu verdichten, das sich zuerst in kleinen Gruppen abzeichnet. Wenn die Masse zum Handeln gedrängt wird, sind es erst diese, das Endziel vor Augen habende Gruppen, die die anderen vorwärtsstossen und führen. Man darf sich nun diesen Prozess - sobald wir von der modernen proletarischen Klasse sprechen - nicht auf bestimmte Arbeiterschichten oder Berufsgruppen bezogen vorstellen; sie in ihrer Gesamtheit fassend, schält sich ein genaueres Bewusstsein ihrer Interessenidentität heraus, aber auch, dass dies aufgrund einer Erfahrung und Kenntnis geschieht, die so komplex ist, dass es zunächst nur in kleinen Gruppen, die Elemente aus allen Berufsgruppen umfassen, auftreten kann. Der Überblick über den ganzen Verlauf des Kampfes, der auf die allgemeinen, die ganze Klasse angehenden Ziele gerichtet ist und sich in dem Vorsatz, die gesamte gesellschaftliche Ordnung umzustürzen, konkretisiert, kann sich nur in Diese Minorität ist eben die Partei. Hat diese eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht, was sicher nicht sich gehen kann, können wir von einer kämpfenden Klasse sprechen. Auch wenn die Partei nur einen Teil der Klasse umfasst, gibt doch erst sie ihrem Handeln und ihrer Bewegung die Einheit, weil in ihr jene Elemente zusammentreffen, die die bornierten lokalen und Berufsschranken überwunden haben, und die die Klasse fühlen und darstellen. Die grundlegende Tatsache, dass die Partei nur ein Teil der Klasse ist, wird hierdurch deutlich. Wenn jemand das unbewegliche und abstrakte Bild der Gesellschaft

betrachtet und darin einen Ausschnitt, die Klasse, und wird er natürlich sagen, dass der ausserhalb der Partei stehende Teil der Klasse, der fast immer die Mehrheit ist, mehr Raum einnimmt, grösseres «Recht» hat. Denkt man aber daran, dass die Individuen in dieser grossen Masse noch kein Klassenbewusstsein, noch keinen Klassenwillen haben, dass in ihrem Leben der Egoismus, der jeweilige Beruf, die jeweilige Region oder auch Nation, bestimmend sind, wird man einsehen, dass, um in der historischen Bewegung das einheitliche Handeln der Klasse zu verankern, ein Organismus notwendig ist, der sie belebt, sie zusammenschweisst, präzise: sie eingliedert; man wird dann in der Partei den wirklichen Lebenskern erkennen, ohne den es sinnlos wäre, die grosse Masse als geballte Kraft zu bezeichnen. Die Klasse hat die Partei zur Voraussetzung - denn um historisch zu existieren und sich zu bewegen, muss die Klasse über eine kritische Lehre der Geschichte verfügen und in ihr ein Ziel haben.

Die wirkliche und einzig revolutionäre Auffassung besteht darin, der Partei die Richtung der Klassenaktion anzuvertrauen. Jede Tendenz, die Notwendigkeit und Überlegenheit der Parteifunktion abzuschwächen und abzustreiten, lässt sich durch die marxistische Analyse und die lange Reihe der Erfahrungen mühelos auf kleinbürgerliche und antirevolutionäre Ideologien zurückführen. Wird die Rolle der Partei vom demokratischen Standpunkt aus in Frage gestellt, wird sie der gleichen Kritik unterworfen werden, mit der Marx die Lehrsätze des bürgerlichen Liberalismus vernichtet hat. Man muss sich hier nur folgendes wieder vor Augen halten: da das Bewusstsein Folge und nicht Ursache der Lebensbedingungen ist, wird es in der Regel nicht so sein, dass der Ausgebeutete, der Hungernde und Unterernährte begreift, den wohlgenährten und mit allen Mitteln und Möglichkeiten ausgestatteten Ausbeuter beiseiteräumen zu müssen (auch wenn dies ausnahmsweise der Fall sein mag). Die parlamentarische Demokratie bedient sich deshalb so gern der Basis- oder Volksbefragung, weil sie weiss, dass die grosse Mehrheit immer für die privilegierte Klasse stimmen und ihr freiwillig das Recht zu regieren und die Ausbeutung zu verewigen überlassen wird. Der kleinen Minderheit der Bourgeoisie die Stimmabgabe zu verweigern oder zu erlauben, ändert 21

nichts an den Verhältnissen. Die Bourgeoisie regiert mit Zustimmung der Mehrheit, nicht nur der Mehrheit der Bürger, sondern ebenso der der Arbeiter. Wollte also die Partei ihr Vorgehen und ihre Initiativen von der gesamten proletarischen Masse abhängig machen, würde das Votum zu 99% zugunsten der Bourgeoisie ausfallen, ein Votum, das immer weniger klar, weniger revolutionär, vor allem immer weniger von einem Bewusstsein bestimmt wäre, das vom proletarischen Gesamtinteresse, der Zielgerichtetheit des revolutionären Kampfes, geleitet wird. Das viel beschworene Recht der Proletarier, selbst über ihre Klassenaktion zu entscheiden, ist eine hohle Abstraktion ohne jeden marxistischen Sinn. Das eigentliche Anliegen dieser These ist, die revolutionäre Partei dahin zu bringen, ihre Reihen mit weniger reifen Schichten zu vergrössern; denn in dem Masse, in dem dies geschieht, werden sich ihre Beschlüsse den bürgerlichen und konservativen Absichten immer mehr nähern. Wenn wir dafür Beweise brauchten, fänden wir sie nicht nur in der theoretischen Analyse, sondern auch in den reichen geschichtlichen Erfahrungen. Denken wir nur an den typisch bürgerlichen Gemeinplatz, der den «gesunden Menschenverstand» der breiten Masse der «Verdorbenheit» von «Rädelsführern» gegenüberstellt; der sich eilig mit Verbesserungen für die Arbeiterschaft hervortut, während er wilde Hasstiraden gegen die Partei ausstösst, durch die allein die Arbeiter dahinkommen werden, die Interessen der Ausbeuter zu durchkreuzen. Und gerade der rechte Flügel der Arbeiterbewegung - die sozialdemokratische Richtung, deren reaktionärer Charakter sich historisch gezeigt hat - hört nie auf, die Masse in Gegensatz zur Partei zu stellen. Für die Sozialdemokratie existiert die Klasse durch die Basisbefragung, die den engen Rahmen der Partei sprenge; und wenn es ihr nicht gelingt, die Partei dahin zu bringen, die genauen theoretischen Bestimmungen und die der Handlungsdisziplin zu verwässern, versucht sie durchzusetzen, dass die Parteiorgane nicht nur von den Parteimitgliedern eingesetzt werden, sondern die Leitungsfunktion parlamentarischen Ämtern zufällt, deren Inhaber von einem breiteren Kreis gewählt werden - und tatsächlich bilden die Parlamentsgruppen immer die extreme Rechte ihrer Partei. Die Degeneration der sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale, ihre Entwicklung, die sich anscheinend noch mehr als die der unorganisierten Massen von der Revolution entfernte, hat ihren Grund darin, dass sie täglich ein Stück mehr von der Parteilehre abwichen. Eben infolge der arbeitertümlerischen, 22

«labouristischen» Praxis funktionierten sie nicht mehr als Avantgarde der Klasse, sondern waren nurmehr ihr mechanischer Ausdruck innerhalb eines Wahl- und Korporationssystems, das den weniger bewussten und dem jeweiligen Eigeninteresse verhafteten der proletarischen Klasse. Die richtige Reaktion auf diese Entartung (auch schon vor dem Krieg und namentlich in Italien): die innerparteiliche Disziplin zu wahren, den Beitritt von nicht bedingungslos auf dem revolutionären Boden unserer Doktrin stehenden Elementen zu verhindern, den Parlamentsgruppen und lokalen Organen jegliche Autonomie abzusprechen, die schwankenden Elemente aus der Partei zu entfernen. Wie sich gezeigt hat, ist diese Vorgehensweise das wirkliche Gegenmittel gegen den Reformismus, und sie ist Grundlage der Theorie und Praxis der III. Internationale. Für die Kommunistische Internationale gilt das Primat der zentralisierten, disziplinierten und klar auf die Fragen der Prinzipien und der Taktik ausgerichteten Partei; der Zusammenbruch der sozialdemokratischen Parteien ist für sie nicht gleichbedeutend mit dem «Zusammenbruch der proletarischen Parteien überhaupt», sondern bedeutet den Bankrott von Organismen, die vergessen hatten, dass sie Parteien waren, weil sie aufgehört hatten, welche zu sein.

Gegen das kommunistische Verständnis der Parteifunktion richtet sich noch ein anderer Typus von Kritik, der als Reaktion auf die reformistische Versumpfung zutage trat. Es handelt sich dabei um die Einwände der syndikalistischen Strömung, für die die Klasse in den Gewerkschaften existiert und die in ihnen jene Organe sieht, die fähig sind, die Führung in der Revolution zu übernehmen. Auch diese, der Linken zugeordneten Einwände, die - nach der klassischen Periode des französischen, italienischen, amerikanischen Syndikalismus von Strömungen neu formuliert wurden, die der III. Internationale mehr oder weniger nahe stehen, lassen sich leicht auf halbbürgerliche Ideologien zurückführen, sowohl was die Kritik an den Grundsätzen als auch an den praktischen Ergebnissen betrifft. Man will die Klasse in einer ihrer - sicherlich charakteristischen und sehr wichtigen - Organisationen Delegierten der Fachverbände vertreten sind, der Organisation, die vor der politischen Partei entstand, die sehr viel breitere Massen als letztere erreicht - und

daher der Gesamtheit der Arbeiterklasse viel besser entspreche. Vom theoretischen Gesichtspunkt aus zeigt ein derartiges Kriterium nur einen unbewussten Kniefall vor derselben demokratischen Lüge, auf die die Bourgeoisie setzt, um ihre Herrschaft mittels der Aufforderung abzusichern, die Mehrheit des Volkes möge sich ihren Regierungschef wählen. Unter einem weiteren theoretischen Aspekt bewegt sich diese Methode in Richtung der altbekannten bürgerlichen Ansicht: vertraut man den Gewerkschaften die Organisierung der neuen Gesellschaft an, stellt man auch die Forderung nach Dezentralisierung der Produktion und Autonomie ihrer verschiedenen Zweige; eine Forderung, die sich von denen der reaktionären Ökonomen nicht unterscheidet. Aber wir haben hier nicht vor, eine kritische Untersuchung der syndikalistischen Theorien zu leisten. Es soll reichen, wenn wir, heute, und kurz auf die Erfahrungen zurückgreifend, festhalten, dass sich die äusserste Rechte der Arbeiterbewegung stets jenen Standpunkt zu eigen gemacht hat, der die Arbeiterklasse durch die Gewerkschaften vertreten lassen will, wohlwissend, damit die Merkmale der Bewegung, die wir kurz benannt haben, zu verwischen und abzuschwächen. Die Bourgeoisie selbst hegt seit neuestem eine alles andere als widersinnige Sympathie mit den gewerkschaftlichen Aktivitäten der Arbeiterklasse, insoweit, jedenfalls ihr intelligentester Teil, Reformen im Staats- und Verwaltungsapparat durchaus begrüssen würde; die «unpolitischen» Gewerkschafter, mit ihrer Forderung, direkten kämen dann allerdings zum Zuge. Die Bourgeoisie fühlt sehr gut, dass das System nicht angetastet werden wird, solange das Proletariat auf dem Boden der unmittelbaren und wirtschaftlichen Forderungen der jeweiligen Berufszweige steht, und dass sich damit jenes unheilvolle «politische» Bewusstsein abwenden lässt, das als einziges revolutionär ist, weil es auf den wunden Punkt des Gegners zielt: die Machtergreifung. Nun ist weder den alten noch den neuen Syndikalisten entgangen, dass das Gros der Gewerkschaften von Rechtselementen beherrscht war, dass sich die Diktatur der kleinbürgerlichen Führer über die Massen, noch mehr als auf die Wahlgänge der sozialdemokratischen Pseudo-Parteien, auf die Gewerkschaftsbürokratie stützte. Also machten sich Gewerkschafter, und mit ihnen viele andere, die davon beseelt waren, gegen das reformistische Übel zu Felde zu ziehen, daran, neue gewerkschaftliche Organisationsformen zu suchen, und sie gründeten neue, von den traditionellen unabhängige

Gewerkschaften. Dieser Notbehelf war praktisch so wirkungslos wie theoretisch falsch: man kam über das Grundkriterium der wirtschaftlichen Organisation (worin sich notwendig alle zusammenschliessen, die sich aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess in besondere politische Überzeugungen und besondere persönliche Opferbereitschaft einschliessen kann, verlangt werden) nicht hinaus; ebenso wie man das Kriterium des «Produzenten» arg strapazierte, was die engen Grenzen der «Berufsgruppe» nicht zu sprengen vermag. Nein, den revolutionären Klassengeist kann allein die Klassenpartei wecken, die die ganze Palette der Bedingungen und Tätigkeiten des «Proletariers» überblickt. Man sucht noch immer nach solchen Rezepten. Eine völlig verfehlte Auslegung des marxistischen Determinismus, eine bornierte Vorstellung von der Rolle, die die letztlich von ökonomischen Faktoren determinierten Bewusstseins- und Willensfaktoren bei der Herausbildung der revolutionären Kräfte spielen, lässt viele ein «mechanisches» Organisationssystem anvisieren, worin die Masse, entsprechend der Stellung der einzelnen in der Produktion, ich möchte fast sagen, automatisch zusammengefasst würde. Man glaubt, die Masse würde sich dann unweigerlich für die Revolution in Bewegung zu setzen und dabei grösste revolutionäre Schlagkraft entwickeln. Es taucht wieder die Illusion auf, dass sich durch eine Organisationsform, die die alte Frage des Widerspruchs zwischen den begrenzten und graduellen Errungenschaften und der höchsten Verwirklichung des revolutionären Programms löst, die tägliche, unmittelbare Bedürfnisbefriedigung direkt mit dem Endresultat des Umsturzes des gesellschaftlichen Systems verknüpfen liesse. Doch, wie die Mehrheit der KPD in einer ihrer Resolutionen richtig feststellte (als diese Fragen in Deutschland besonders akut waren und in der Folge zur Abspaltung der KAPD führten): Die Revolution ist keine Frage der Organisationsform. Die Revolution braucht einen Organismus aktiver und positiver Kräfte, die durch Lehre und Zielsetzung gebündelt werden. Breite Schichten und zahllose Individuen, die der Klasse, in deren Interesse die Revolution siegen wird, materiell angehören, Kraft. Aber die Klasse lebt, kämpft, geht voran und siegt durch das Werk jener Kräfte, die sie in den Geburtswehen der Geschichte aus ihrem Schoss herausgepresst hat. Die Keimzelle der Klasse ist die unmittelbare Gleichartigkeit der wirtschaftlichen 23

Bedingungen, und dies erscheint als erste Triebkraft zur Überwindung, zur Zerschlagung des bestehenden Produktionssystems. Um aber diese grossartige Aufgabe zu erfüllen, braucht sie ihre Lehre, ihre kritische Methode, ihren Willen, die darauf gerichtet sind, das einzulösen, was Analyse und Kritik vorweggenommen haben, braucht sie ihre Kampforganisation, die die Anstrengungen und Opfer so kanalisiert und einsetzt, dass die grösstmögliche Wirkung erzielt wird. Und in all dem besteht das Dasein der Partei.

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Das Proletariat als Subjekt und als Repräsentation Auszug aus «Gesellschaft des Spektakels Guy Debord (1967) «Gleiches Recht aller auf die Güter und die Genüsse dieser Welt, die Zerstörung jeder Autorität und die Verneinung aller moralischen Schranken: das ist, wenn man der Sache auf den Grund geht, der wesentliche Zweck des Aufstandes vom 18. März und die Charta der gefürchteten Assoziation, die ihm eine Armee verschaffte.» (Parlamentarische Untersuchung über den Aufstand des 18. März.) 73. Die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, regiert die Gesellschaft seit dem Sieg der Bourgeoisie in der Wirtschaft, sichtbar aber erst seit der politischen Übertragung dieses Sieges. Die Entwicklung der Produktivkräfte hat die alten Produktionsverhältnisse gesprengt, und jede statistische Ordnung zerfällt zu Staub. Alles, was absolut war, wird geschichtlich. 74. Indem sie in die Geschichte geworfen sind, indem sie an der Arbeit und an den Kämpfen, aus denen diese Geschichte besteht, teilnehmen müssen, sind die Menschen gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Diese Geschichte hat kein anderes Objekt als das, was sie an sich selbst verwirklicht, obwohl die letzte, bewußtlose, metaphysische Anschauung von der geschichtlichen Epoche das produktive Fortschreiten, durch das sich die Geschichte entfaltet hat, als eigentliches Objekt der Geschichte betrachten kann. Das Subjekt der Geschichte kann nur das Lebende sein, das sich selbst produziert und zum Herrn und Besitzer seiner Welt wird, - die die Geschichte ist und als Bewußtsein seines Spiels existiert. 75. Als ein und dieselbe Strömung entwickeln sich die Klassenkämpfe der langen revolutionären Epoche, die durch den Aufstieg der Bourgeoisie eröffnet wurde, und das Denken der Geschichte, d.h. die Dialektik, das Denken, das nicht mehr bei der Suche nach dem Sinn des Seienden stehen bleibt, sondern sich zur

76. Hegel hatte nicht mehr die Welt zu interpretieren, sondern die Veränderung der Welt. Indem er die Veränderung nur interpretierte, ist er nur die philosophische Vollendung der Philosophie. Er will eine Welt begreifen, die sich selbst erzeugt. Dieses

geschichtliche Denken ist nur erst das Bewußtsein, das immer zu spät kommt und die Rechtfertigung post festum ausspricht. Es hat die Trennung daher nur im Gedanken aufgehoben. Das Paradox, das darin besteht, den Sinn jeder Realität von ihrer geschichtlichen Vollendung abhängen zu lassen und zugleich, sich selbst als die Vollendung der Geschichte hinstellend, diesen Sinn zu enthüllen, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß der Denker der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in seiner Philosophie nur die Versöhnung mit deren Ergebnis gesucht hat.» Sie drückt auch als Philosophie der bürgerlichen Revolution nicht den ganzen Prozeß dieser Revolution aus, sondern nur seinen letzten Abschluß. Sie ist insofern eine Philosophie nicht der Revolution, sondern der Restauration.» (Karl Korsch, Thesen über Hegel und die Revolution.) Hegel hat zum letzten Mal die Arbeit des Philosophen geleistet, «die Verklärung des Bestehenden»; aber schon für ihn konnte das Bestehende nur die Totalität der geschichtlichen Bewegung sein. Da die äußere Stellung des Gedankens in der Tat aufrechterhalten einem vorausgehenden Vorhaben des Geistes, des absoluten Helden verhüllt werden, der vollbracht hat, was er wollte, und wollte, was er vollbracht hat, und dessen Erfüllung mit der Gegenwart zusammenfällt. Daher kann die Philosophie, die im Denken der Geschichte stirbt, ihre Welt nur noch dadurch verklären, daß sie sie verleugnet, denn um das Wort zu ergreifen, muß sie bereits das Ende dieser totalen Geschichte, auf die sie alles zurückgeführt hat, und den Schluß der Sitzung des einzigen Gerichts voraussetzen, das das Urteil der Wahrheit fällen kann. 77. Wenn das Proletariat durch seine eigene Existenz in Taten offenbart, daß sich dieses Denken der Geschichte nicht vergessen hat, ist das Dementi des Schlusses zugleich auch die Bestätigung der Methode. 78. Das Denken der Geschichte kann nur dadurch gerettet werden, daß es praktisches Denken wird, und die Praxis des Proletariats als revolutionäre Klasse kann nicht weniger sein als das geschichtliche Bewußtsein, das auf die Totalität seiner Welt wirkt. Alle theoretischen Strömungen der revolutionären Arbeiterbewegung sind aus einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Denken hervorgegangen, bei Marx ebenso wie bei Stirner und Bakunin. 25

79. Die Untrennbarkeit der Hegelschen Methode von der Marxschen Theorie ist selbst untrennbar von dem revolutionären Charakter dieser Theorie, d.h. von ihrer Wahrheit. Hierin ist diese erste Beziehung allgemein unbekannt geblieben oder mißverstanden oder sogar als die Schwäche dessen angeprangert worden, was trügerisch zu einer marxistischen Lehre wurde. In «Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialdemokratie» enthüllt Bernstein vollkommen diese Verbindung der dialektischen Methode mit der geschichtlichen Parteinahme, wenn er die unwissenschaftlichen Voraussagen des Manifests von 1847 über das nahe Bevorstehen der proletarischen Revolution in Deutschland beklagt: «Diese geschichtliche Selbsttäuschung, wie sie der erste beste politische Schwärmer kaum überbieten konnte, würde bei einem Marx, der schon damals sein, wenn man in ihr nicht das Produkt eines Restes Hegelscher Widerspruchsdialektik zu erblicken hätte, das Marx - ebenso wie Engels - sein Lebtag nicht völlig losgeworden ist, das aber damals in einer Zeit allgemeiner Gärung, ihm um so verhängnisvoller werden sollte.» 80. Die Umkehrung, die Marx zwecks einer «Hinüberrettung» des Denkens der bürgerlichen Revolution vornimmt, besteht nicht trivialerweise darin, durch die materialistische Entwicklung der Produktivkräfte das Fortschreiten des Hegelschen Geistes zu ersetzen der sich selbst in der Zeit entgegen geht, dessen Vergegenständlichung mit seiner Entäußerung identisch ist und dessen geschichtliche Wunden keine Narben zurücklassen. Die wirklich gewordene Geschichte hat kein Ende mehr. Marx hat die getrennte Stellung Hegels angesichts dessen, was geschieht, und die Kontemplation jedes äußeren, höchsten Agenten zugrunde gerichtet. Die Theorie hat nur noch zu erkennen, was sie tut. Im Gegenteil ist die Kontemplation der Wirtschaftsbewegung im herrschenden Denken der gegenwärtigen Gesellschaft das nicht umgekehrte Erbe des undialektischen Teils des Hegelschen Versuchs eines kreisförmigen Systems; sie ist eine Billigung, die die Dimension des Begriffs verloren hat und die kein Hegelianertum mehr braucht, um sich zu rechtfertigen, denn die Bewegung, die es zu loben gilt, ist nur mehr ein gedankenloser Bereich der Welt, dessen mechanische Entwicklung tatsächlich das Ganze beherrscht. Das Marxsche Projekt ist das einer bewußten Geschichte. Das Quantitative, das in der blinden Entwicklung der bloß wirtschaftlichen Produktivkräfte entsteht, muß sich in eine qualitative geschichtliche Aneignung 26

verwandeln. Die Kritik der politischen Ökonomie ist der erste Akt dieses Endes der Vorgeschichte. «Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst.» 81. Was die Marxsche Theorie eng mit dem wissenschaftlichen Denken verbindet, ist das rationelle Begreifen der Kräfte, die in der Gesellschaft walten. Aber sie ist grundlegend ein Jenseits des wissenschaftlichen Denkens, in dem dieses nur als aufgehobenes aufbewahrt wird: es geht um ein Begreifen des Kampfes und keineswegs des Gesetzes. «Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte» heißt es in der deutschen Ideologie. 82. Die bürgerliche Epoche, die die Geschichte wissenschaftlich begründen will, übersieht die Tatsache, daß diese verfügbare Wissenschaft vielmehr mit der Ökonomie geschichtlich begründet werden sollte. Umgekehrt hängt die Geschichte radikal von dieser Kenntnis ab, aber nur insofern, als diese Geschichte Wirtschaftsgeschichte bleibt. Wieweit im übrigen der Anteil der Geschichte an der Wirtschaft selbst - der Gesamtprozeß, der seine eigenen wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen verändert - von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen verändert - von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Beobachtung übersehen werden konnte, wird durch die Nichtigkeit der sozialistischen Berechnungen gezeigt, die die exakte Periodizität der Krisen festgestellt zu haben glaubten, und seitdem es der ständigen Intervention des Staates gelungen ist, die Wirkung der Krisentendenzen zu kompensieren, sieht dieselbe Art von Beweisführung in diesem Gleichgewicht eine endgültige wirtschaftliche Harmonie. Das Projekt, die Wirtschaft zu überwinden, von der Geschichte Besitz zu ergreifen, kann nicht selbst wissenschaftlich sein, auch wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft kennen (und zu sich zurückführen) muß. In dieser letzten Bewegung, die die gegenwärtige Geschichte durch eine wissenschaftliche Erkenntnis zu beherrschen glaubt, ist der revolutionäre Standpunkt bürgerlich geblieben. 83. Obwohl sie selbst in der Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Organisation geschichtlich begründet sind, können die utopischen Strömungen des Sozialismus mit Recht als utopisch angesprochen werden, in dem Maße wie sie die Geschichte ablehnen wie die Bewegung der Zeit jenseits der unbeweglichen

Vollkommenheit ihres Bildes von einer glücklichen Gesellschaft -, nicht jedoch, weil sie die Wissenschaft ablehnen. Die utopischen Denker sind im Gegenteil ganz und gar vom wissenschaftlichen Denken beherrscht, wie es sich in den vorigen Jahrhunderten durchgesetzt hatte. Sie suchen die Vollendung dieses allgemeinen rationellen Systems: sie betrachten sich keineswegs als entwaffnete Propheten, denn Sie glauben an die gesellschaftliche Macht der wissenschaftlichen Beweisführung und sogar, im Fall des Saint-Simonismus an die Machtergreifung durch die Wissenschaft. Wie fragt Sombart, «sollte etwas, das durch Aufklärung, höchstens durch Beispiele in seiner Vollkommenheit bewiesen werden soll, ertrotzt werden können im Kampf?» Die wissenschaftliche Auffassung der Utopisten erstreckt sich jedoch nicht auf die Erkenntnis, daß gesellschaftliche Gruppen in einer bestehenden Situation Interessen haben und Kräfte, um sie aufrechtzuerhalten, sowie Formen falschen Bewußtseins, die solchen Stellungen entsprechen. Sie bleibt daher weit diesseits der geschichtlichen Realität der Wissenschaftsentwicklung selbst, deren Richtung weitgehend von der aus solchen Faktoren hervorgegangenen gesellschaftlichen Nachfrage bestimmt wurde, die nicht nur das auswählt, was zugelassen, sondern auch das, was erforscht werden kann. Die utopischen Sozialisten, die Gefangene der Darstellungsweise der wissenschaftlichen Wahrheit geblieben sind, begreifen diese Wahrheit nach ihrem reinen abstrakten Bild, wie es sich in einem sehr viel früheren Stadium der Gesellschaft durchgesetzt haue. Die Utopisten wollen, wie Sorel bemerkte, die Gesetze der Gesellschaft nach dem Modell der Astronomie entdecken und nachweisen. Die von ihnen erstrebte Harmonie, die der Geschichte feindlich ist, ergibt sich aus einem Versuch, die von der Geschichte am wenigsten abhängige Wissenschaft auf die Gesellschaft anzuwenden. Diese Harmonie sucht ihre Anerkennung mit der gleichen experimentellen Unschuld wie der Newtonismus, und das ständig postulierte glückliche Menschenlos «spielt in ihrer Gesellschaftswissenschaft eine Rolle, die derjenigen der Trägheit in der rationellen Mechanik analog ist» (Materiaux pour une theorie du proletariat). 84. Gerade die deterministisch-wissenschaftliche Seite im Marxschen Denken war die Bresche, durch die der Prozeß der «ldeologisierung» noch zu seinen Lebzeiten eindrang, und um so mehr in das der Arbeiterbewegung hinterlassene theoretische Erbe. Die Ankunft des Subjekts der Geschichte wird noch auf später verschoben, und die geschichtliche Wissenschaft par excellende, d.h. die Ökonomie, strebt

immer weitgehender darauf hin, die Notwendigkeit ihrer eigenen zukünftigen Negation zu garantieren. Aber dadurch wird die revolutionäre Praxis, die die einzige Wahrheit dieser Negation ist, aus dem Bereich der theoretischen Anschauung verstoßen. Daher gilt es, geduldig die wirtschaftliche Entwicklung zu studieren und noch das daraus erfolgende Leid mit einer Hegelschen Ruhe zu dulden, was im Resultat «Friedhof der guten Absichten» bleibt. Man entdeckt, daß jetzt, der Wissenschaft der Revolutionen zufolge, das Bewußtsein immer zu früh kommt und belehrt werden muß. «Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war...», sagt Engels 1895. Sein ganzes Leben lang hat Marx den einheitlichen Gesichtspunkt seiner Theorie aufrechterhalten, aber die Darlegung seiner Theorie hat sich auf den Boden des herrschenden Denkens begeben, indem sie sich in der Form von Kritiken besonderer Disziplinen, hauptsächlich der Kritik der grundlegenden Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, der politischen Ökonomie, präzisiert. Diese Verstümmelung, die später als endgültig akzeptiert wurde, hat den «Marxismus» gebildet. 85. Der Mangel in der Marxschen Theorie ist natürlich der Mangel des revolutionären Kampfes des Proletariates seiner Epoche. Die Arbeiterklasse im Deutschland von 1848 hat nicht die Revolution in Permanenz dekretiert; die Kommune wurde in der Isolierung besiegt. Die revolutionäre Theorie kann daher noch nicht ihre eigene vollständige Existenz erreichen. Darauf angewiesen zu sein, diese Theorie in der Absonderung der Gelehrtenarbeit im British Museum zu verteidigen und zu präzisieren, implizierte einen Verlust in der Theorie selbst. Gerade die auf die Zukunft der Entwicklung der Arbeiterklasse bezogenen wissenschaftlichen Rechtfertigungen und die mit ihnen verbundene organisatorische Praxis sollten in einem weiter fortgeschrittenen Stadium zu Hindernissen für das proletarische Bewußtsein werden. 86. Die ganze theoretische Mangelhaftigkeit bei der wissenschaftlichen Verteidigung der proletarischen Revolution kann, sowohl was den Inhalt als was die des Proletariats mit der Bourgeoisie unter dem Gesichtspunkt der revolutionären Machtergreifung zurückgeführt werden. 87. Die Tendenz, eine Beweisführung der wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit der proletarischen 27

Gewalt durch den Bezug auf wiederholte Experimente der Vergangenheit zu begründen, verdunkelt schon vom Manifest an das Marxsche Denken der Geschichte, indem sie ihn dazu veranlaßt, ein lineares Bild der Entwicklung der Produktionsweisen aufzustellen, die von Klassenkämpfen mitgerissen wird, welche angeblich jedesmal «mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft ? oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen» enden. Aber ebenso wie in der beobachtbaren Realität der Geschichte «die asiatische Produktionsweise», wie Marx an anderer Stelle betonte, ihre Unbeweglichkeit trotz aller Klassenauseinandersetzungen behalten hat, so wurden auch weder die Barone von den Aufständen der Leibeigenen, noch die Freien von den Sklavenrevolten des Altertums je besiegt. Im linearen Schema ist zunächst die Tatsache aus dem Blickfeld entschwunden, daß die Bourgeoisie die einzige revolutionäre Klasse ist, die jemals gesiegt hat und daß sie zugleich die einzige Klasse ist, für die die Entwicklung der Wirtschaft Grund und Folge ihrer Beschlagnahme der Gesellschaft war. Die gleiche Vereinfachung hat Marx dazu verleitet, die wirtschaftliche Rolle des Staates bei der Verwaltung einer Klassengesellschaft zu vernachlässigen. Wenn die aufsteigende Bourgeoisie die Wirtschaft vom Staat zu befreien schien, dann nur insoweit, als der alte Staat zugleich das Instrument einer Klassenunterdrückung in einer statischen Wirtschaft war. Die Bourgeoisie hat ihre autonome wirtschaftliche Macht in der mittelalterlichen Periode des Schwächerwerdens des Staates, im Moment feudaler Zerstückelung gleichgewichtiger Gewalten entwickelt. Aber der moderne Staat, der durch den Merkantilismus die Entwicklung der Bourgeoisie zu unterstützen begann und der schließlich zur Zeit des «laisse faire, laisser passer» zu ihrem Staat wurde, wird sich später als Inhaber einer zentralen Macht in der kalkulierten Verwaltung des wirtschaftlichen Prozesses zeigen. Marx konnte jedoch im Bonapartismus diesen Entwurf der modernen staatlichen Bürokratie beschreiben, nämlich die Fusion von Kapital und Staat, die Bildung einer «nationalen Macht des Kapitals über die Arbeit, einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeit», wo die Bourgeoisie auf jedes geschichtliche Leben verzichtet, das nicht seine Reduzierung auf die wirtschaftliche Geschichte der Dinge ist und gerne «neben den anderen Klassen zur gleichen politischen Nichtigkeit verdammt» werden will. Hier sind bereits die sozialpolitischen Grundlagen des modernen Spektakels gelegt, das negativ das Proletariat als einzigen Bewerber um das geschichtliche Leben

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88. Die zwei einzigen Klassen, die tatsächlich der Marxschen Theorie entsprechen, die zwei reinen Klassen, zu denen die gesamte Analyse in Das Kapital hinführt, die Bourgeoisie und das Proletariat, sind auch die beiden einzigen revolutionären Klassen der Geschichte, aber unter verschiedenen Bedingungen: die bürgerliche Revolution hat stattgefunden, die proletarische Revolution ist ein Projekt, das auf der Grundlage der vorangegangenen Revolutionen entstand, jedoch von ihr qualitativ verschieden. Wenn man die Originalität der geschichtlichen Rolle der Bourgeoisie übersieht, verdeckt man die konkrete Originalität dieses proletarischen Projekts, das nur etwas erreichen kann, insofern es seine eigenen Farben trägt und die «gewaltige Größe seiner Aufgaben» kennt. Die Bourgeoisie ist zur Macht gelangt, weil sie die Klasse der sich entwickelnden Wirtschaft ist. Das Proletariat kann seinerseits die Macht sein, aber nur wenn es zur Klasse des Bewußtseins wird. Das Reifen der Produktivkräfte kann eine solche Macht nicht garantieren, und dies auch nicht auf dem Umweg der gesteigerten Enteignung, die dieses Reifen begleitet. Die jakobinische Eroberung des Staates kann nicht das Instrument des Proletariats sein. Keine Ideologie kann ihm helfen, Teilzwecke in Gesamtzwecke zu verkleiden, denn es kann keine Teilrealität aufbewahren, die ihm tatsächlich gehörte. 89. Wenn Marx in einer bestimmten Periode seiner Teilnahme am Kampf des Proletariats zu viel von der wissenschaftlichen Vorhersage erwartet hat, so viel, daß er die intellektuelle Basis der Illusionen des Ökonomismus schuf, so wissen wir doch, daß er Brief vom 7. Dezember 1867, der einen Artikel begleitete, worin er selbst Das Kapital kritisiert und den Engels in die Presse bringen sollte, als ob er von einem Gegner stammte, hat Marx klar die Grenze seiner eigenen Wissenschaft dargelegt: «? Die subjektive Tendenz des Verfassers dagegen - er war vielleicht durch seine Parteistellung und Vergangenheit wie er sich und anderen das Endresultat der jetzigen Bewegung, des jetzigen gesellschaftlichen Prozesses vorstellt, hat mit seiner wirklichen Entwicklung gar nichts zu schaffen.» Also dadurch, daß er selbst die «tendenziellen Schlußfolgerungen» seiner objektiven Analyse denunziert und durch die Ironie des «vielleicht» in Bezug auf die außerwissenschaftlichen sei, zeigt Marx gleichzeitig den methodologischen Schlüssel für die Verschmelzung der beiden Aspekte.

90. Im geschichtlichen Kampf selbst muß die Verschmelzung des Erkennens mit dem Handeln verwirklicht werden, so daß jede dieser Seiten die andere zur Garantie ihrer eigenen Wahrheit macht. Die Herausbildung der proletarischen Klasse als Subjekt ist die Organisation der revolutionären Kämpfe und die Organisation der Gesellschaft im revolutionären Augenblick: hier müssen die praktischen Bedingungen des Bewußtseins vorhanden sein, in denen sich die Theorie der Praxis bestätigt, indem sie zu praktischer Theorie wird. Diese zentrale Frage der Organisation wurde jedoch von der revolutionären Theorie in der Epoche am wenigsten in Betracht gezogen, in der die Arbeiterbewegung entstand, d.h. als diese Theorie noch den aus dem Denken der Geschichte stammenden einheitlichen Charakter besaß (und sie hatte es sich gerade zur Aufgabe gemacht, ihn bis zu einer einheitlichen geschichtlichen Praxis zu entwickeln). Diese Frage ist im Gegenteil der Ort der Inkonsequenz dieser Theorie, die die Wiederbelebung staatlicher und hierarchischer Anwendungsmethoden zuließ, die der bürgerlichen Revolution entlehnt wurden. Die Organisationsformen der Arbeiterbewegung, die auf der Grundlage dieses Verzichtes der Theorie entwickelt wurden, haben ihrerseits dahin tendiert, die Erhaltung einer einheitlichen Theorie zu verhindern, indem sie diese in spezialisierte ideologische Entfremdung der Theorie ist folglich außerstande, die praktische Bewährung des von ihr verratenen einheitlichen geschichtlichen Denkens wiederzuerkennen, wenn eine solche Bewährung im spontanen Kampf der Arbeiter plötzlich hervortritt; sie kann lediglich dazu beitragen, ihre Äußerung und ihre Erinnerung zu unterdrücken. Diese im Kampf aufgetauchten geschichtlichen Formen sind jedoch gerade das praktische Milieu, das der Theorie fehlte, um wahr zu sein. Sie sind eine Forderung der Theorie; die jedoch nicht theoretisch formuliert worden war. Der Sowjet war keine Entdeckung der Theorie. Und schon die höchste theoretische Wahrheit der Internationalen Arbeiter Assoziation war ihr eigenes arbeitendes Dasein. 91. Die ersten Erfolge des Kampfes der Internationale der herrschenden Ideologie zu befreien, die in ihr fortbestanden. Aber die Niederlage und die Unterdrückung, die sie bald erfuhr, stellten proletarischen Revolution in den Vordergrund, die beide eine autoritäre Dimension beinhalten, durch welche die bewußte Selbstbefreiung der

Klasse aufgegeben wird. Tatsächlich war der unversöhnlich gewordene Streit zwischen Marxisten und Bakunisten zweifach, indem er zugleich die Macht in der revolutionären Gesellschaft und die gegenwärtige Organisation der Bewegung betraf, und beim Übergang von dem einen dieser Aspekte zu dem anderen kehren sich die Positionen der Gegner um. Bakunin bekämpfte die lllusion einer Abschaffung der Klassen durch den autoritären Gebrauch der Staatsmacht, weil er die Neubildung einer herrschenden bürokratischen Klasse und die Diktatur der Gelehrtesten oder derer, die dafür gehalten werden, voraussah. Marx, der glaubte, daß ein untrennbares Reifen der wirtschaftlichen Widersprüche und der demokratischen Erziehung der Arbeiter die Rolle des proletarischen Staates auf eine einfache Phase der Legalisierung neuer gesellschaftlicher Beziehungen, die sich objektiv durchsetzen, beschränken würde, denunzierte bei Bakunin und seinen Anhängern den Autoritarismus einer konspirativen Elite, die sich absichtlich über die Internationale gestellt hatte, mit der extravaganten Absicht, der Gesellschaft die unverantwortliche Diktatur der Revolutionärsten oder derer, die sich als solche werden bezeichnet haben, aufzuzwingen. Bakunin sammelte tatsächlich seine Anhänger in einer derartigen Perspektive: «Als unsichtbare Piloten müssen wir den Volkssturm aus seiner Mitte heraus lenken, aber nicht durch eine offensichtliche Gewalt, sondern durch die kollektive Diktatur aller Verbündeten. Durch eine Diktatur ohne Schärpe, so mächtiger ist, als sie nicht den äußeren Schein der Gewalt besitzt». So haben sich zwei entgegengesetzte ldeologien der Arbeiterrevolution bekämpft, die beide eine zum Teil wahre Kritik enthielten, aber die Einheit des Denkens der Geschichte verloren und sich selbst als ideologische Autorität errichteten. Mächtige Organisationen, wie die deutsche Sozialdemokratie und die Iberische Anarchistische Förderation, haben treu der einen oder der anderen dieser Ideologien gedient; und überall unterschied sich das Ergebnis weit von dem, was gewollt war. 92. Den Zweck der proletarischen Revolution als unmittelbar gegenwärtig anzusehen, bildet zugleich die Größe und die Schwäche des wirklichen anarchistischen Kampfes (denn in seinen individualistischen Varianten bleiben die Ansprüche des Anarchismus lächerlich). Vom geschichtlichen Denken der modernen Klassenkämpfe behält der kollektivistische Anarchismus einzig die Schlußfolgerung, und seine absolute Forderung nach 29

dieser Schlußfolgerung äußert sich gleichfalls durch seine entschlossene Verachtung der Methode. Seine Kritik des politischen Kampfes ist daher abstrakt geblieben, während seine Wahl des wirtschaftlichen Kampfes selbst nur gemäß der lllusion einer endgültigen Lösung behauptet wird, welche mit einem Schlag am Tag des Generalstreiks oder des Aufstandes auf diesem Boden erkämpft wird. Die Anarchisten haben ein Ideal zu verwirklichen. Der Anarchismus ist die noch ideologische Negation des Staates und der Klassen, d.h. der gesellschaftlichen Bedingungen selbst der abgesonderten Ideologie. Er ist die Ideologie der reinen Freiheit, die alles gleichmacht und jede Idee des geschichtlichen Übels beseitigt. Dieser Gesichtspunkt der Fusion aller Teilforderungen hat dem Anarchismus das Verdienst eingebracht, die Ablehnung aller bestehenden Verhältnisse für die Gesamtheit des Lebens zu repräsentieren und nicht hinsichtlich einer privilegierten kritischen Spezialisierung, aber da diese Fusion im Absoluten, nach der individuellen Laune, vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung, betrachtet wird, hat sie den Anarchismus auch zu einer allzu leicht merklichen Zusammenhangslosigkeit verdammt. Der Anarchismus hat nur in jedem Kampf seine gleiche einfache totale Schlußfolgerung zu wiederholen und wieder aufs Spiel zu setzen, denn diese erste Schlußfolgerung war von Anfang an mit der vollständigen Vollendung der Bewegung gleichgesetzt worden. Bakunin konnte daher im Jahre 1873, als er die Föderation des Jura verließ, schreiben: «In den letzten neun Jahren wurden innerhalb der Internationale mehr Ideen entwickelt als nötig sind, um die Welt zu retten, wenn Ideen allein die Welt retten könnten, und ich glaube nicht, daß irgend jemand Ideen ist vorbei, die Zeit für Tatsachen und Taten ist gekommen.» Ohne Zweifel behält diese Auffassung vom geschichtlichen Denken des Proletariats diese Gewißheit, daß die Ideen praktisch werden müssen, aber sie verläßt den geschichtlichen Boden, wenn sie voraussetzt, daß die adäquaten Formen für diesen Übergang zur Praxis schon gefunden sind und nicht mehr verändert werden. 93. Die Anarchisten, die sich ausdrücklich von der Gesamtheit der Arbeiterbewegung durch ihre ideologische Überzeugung unterscheiden, reproduzieren untereinander diese Trennung der Kompetenzen, indem sie einen günstigen Boden für die informelle Herrschaft der Propagandisten und Verteidiger ihrer eigenen Ideologie über jede anarchistische Organisation schaffen, und diese 30

Spezialisten sind im allgemeinen um so mittelmäßiger, als ihre intellektuelle Tätigkeit hauptsächlich darauf ausgeht, einige endgültige Wahrheiten zu wiederholen. Die ideologische Achtung vor der Einstimmigkeit in der Entscheidung hat vielmehr die unkontrollierte Autorität von Spezialisten der Freiheit in der Organisation selbst begünstigt, und der revolutionäre Anarchismus erwartet vom befreiten Volk die gleiche Art von Einstimmigkeit, welche mit den gleichen Mitteln erreicht wird. Im übrigen hat die Weigerung, den Gegensatz zwischen den Bedingungen einer im derzeitigen Kampf gruppierten Minderheit und denen der Gesellschaft freier Individuen in Betracht zu ziehen, eine ständige Trennung der Anarchisten im Moment der gemeinsamen Entscheidung genährt, wie das Beispiel einer Unzahl anarchistischer Aufstände in Spanien zeigt, die örtlich begrenzt waren und örtlich niedergeschlagen wurden. 94. Die im echten Anarchismus mehr oder weniger ausdrücklich unterhaltene Illusion ist das ständige nahe Bevorstehen einer Revolution, die der Ideologie und der aus ihr abgeleiteten praktischen Organisationsform durch ihre augenblickliche Vollendung Recht geben soll. Der Anarchismus hat 1936 wirklich eine soziale Revolution und den fortgeschrittensten Entwurf einer proletarischen Gewalt geleitet, den es jemals gegeben hat. In diesem Umstande ist noch zu bemerken, daß einerseits das Signal eines allgemeinen Aufstandes durch das Pronunciamento der Armee aufgezwungen worden war. Indem diese Revolution in den ersten Tagen nicht vollendet worden war, nämlich aufgrund der Existenz einer Franquistischen Macht in der Hälfte des Landes, die stark vom Ausland unterstützt wurde, während die restliche internationale proletarische Bewegung bereits besiegt war, und aufgrund des Fortbestandes bürgerlicher Kräfte oder anderer staatssozialistischer Arbeiterparteien im Lager der Republik, zeigte sich andererseits die organisierte Anarchistenbewegung unfähig, die halben Siege der Revolution auszudehnen oder selbst zu verteidigen. Ihre anerkannten Chefs wurden Minister und Geiseln des bürgerlichen Staates, der die Revolution zerschlug, um den Bürgerkrieg zu verlieren. 95. Der «orthodoxe Marxismus» der II. Internationale ist die wissenschaftliche Ideologie der sozialistischen Revolution, die ihre ganze Wahrheit mit dem objektiven Prozeß in der Wirtschaft und mit dem Fortschritt einer Anerkennung dieser Notwendigkeit in der von der Organisation erzogenen Arbeiterklasse

in die pädagogische Beweisführung wieder, das den utopischen Sozialismus charakterisiert hatte, ergänzt es aber durch eine kontemplative Bezugnahme auf den Lauf der Geschichte: eine derartige Haltung hat jedoch ebenso die Hegelsche Dimension einer totalen Geschichte wie auch das unbewegliche Bild der Totalität verloren, das in der utopischen Kritik (am stärksten bei Fourier) vorhanden war. Aus einer solchen wissenschaftlichen Haltung, der natürlich nichts anderes übrig blieb, als zumindest symmetrische sittliche Alternativen wiederzubeleben, stammen die Albernheiten Hilferdings, wenn er präzisiert, daß die Anerkennung der Notwendigkeit des Sozialismus keine «Anweisung zu praktischem Verhalten ist. Denn etwas anderes ist es, eine Notwendigkeit zu erkennen, etwas anderes, sich in den Dienst dieser Notwendigkeit zu stellen» (Das Finanzkapital). Diejenigen, die verkannt haben, daß für Marx und das revolutionäre Proletariat das einheitliche geschichtliche Denken von einer anzunehmenden praktischen Haltung nicht zu unterscheiden war, mußten normalerweise Opfer der Praxis werden, die sie gleichzeitig angenommen hatten. 96. Die Ideologie der sozialdemokratischen Organisation stellte sie unter die Gewalt der Lehrer, die die Arbeiterklasse erzogen, und die angenommene Organisationsform war die adäquate Form dieser passiven Schulung. Die Teilnahme der Sozialisten der II. Internationale an den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen war ohne Zweifel konkret, aber zutiefst unkritisch. Sie wurde im Namen der revolutionären Illusion, gemäß einer offenbar reformistischen Praxis geführt. So sollte die revolutionäre Ideologie gerade durch den Erfolg derer zerschlagen werden, die ihre Träger waren. Die Absonderung der Abgeordneten und der Journalisten in der Bewegung verleitete diejenigen, die ohnehin schon unter den bürgerlichen Intellektuellen abgeworben worden waren, zur bürgerlichen Lebensweise. Die Gewerkschaftsbürokratie machte gerade diejenigen, die aus den Kämpfen der Industriearbeiter heraus abgeworben und aus ihnen herausgezogen worden waren, zu Maklern der als Ware zu ihrem gerechten Preis zu verkaufenden Arbeitskraft. Damit ihrer aller Tätigkeit etwas Revolutionäres behalten hätte, wäre es erforderlich gewesen, daß der Kapitalismus in diesem Moment außerstande gewesen wäre, diesen Reformismus, den er politisch in ihrer legalistischen Agitation tolerierte, wirtschaftlich zu tragen. Eine solche Unverträglichkeit wurde von ihrer Wissenschaft gesichert und von der Geschichte jederzeit widerlegt.

97. Dieser Widerspruch, dessen Realität Bernstein ehrlich aufzeigen wollte, weil er der Sozialdemokrat war, der von der politischen Ideologie am weitesten entfernt war und sich am offensten der Methodologie der bürgerlichen Wissenschaft angeschlossen hatte, - diese Realität wurde auch von der reformistischen Bewegung der englischen Arbeiter aufgezeigt, indem sie auf eine revolutionäre Ideologie verzichtete -, sollte dennoch erst durch die geschichtliche Entwicklung selbst unwiderlegbar bewiesen werden. Bernstein hatte, obwohl er im übrigen voll von Illusionen war, bestritten, daß eine Krise der kapitalistischen Produktion auf wunderbare Weise die Sozialisten zur Tat zwingen würde, die nur durch eine legitime Salbung die Erbschaft der Revolution antreten wollten. Der Augenblick tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzung, der mit dem ersten Weltkrieg eintrat, bewies zweimal, wenn er auch an Bewußtseinsbildung fruchtbar war, daß die sozialdemokratische Hierarchie die deutschen Arbeiter nicht revolutionär erzogen hatte, sie in keiner Weise zu Theoretikern gemacht hatte: zuerst, als sich die große Mehrheit der Partei dem imperialistischen Krieg anschloß und dann, als sie in der Niederlage die spartakistischen Revolutionäre zermalmte. Der Exarbeiter Ebert glaubte noch an die Sünde, denn er gab zu, die Revolution «wie die Sünde» zu hassen. Und dieser gleiche Arbeiterführer erwies sich später als guter Vorläufer der sozialistischen Repräsentation, die sich wenig später dem Proletariat in Rußland und anderswo als absoluter Feind entgegenstellen sollte, als er das genaue Programm dieser neuen Entfremdung formulierte: «Sozialismus heißt viel arbeiten.» 98. Lenin war als marxistischer Denker nur der konsequente und treue Kautskyaner, der die revolutionäre Ideologie dieses «orthodoxen Marxismus» unter den russischen Bedingungen anwandte, die die reformistische Praxis nicht zuließen, welche im Gegenteil von der II. Internationale durchgeführt wurde. Die äußere Führung des Proletariats, die vermittels einer den zu «Berufsrevolutionären» gewordenen Intellektuellen unterstellten, disziplinierten, geheimen Partei handelt, besteht hier in einem Beruf, der mit keinem Führungsberuf der kapitalistischen Gesellschaft paktieren will (übrigens war das politische Regime des Zarismus außerstande, eine solche Öffnung zu bieten, deren Basis in einem fortgeschrittenen Stadium der Macht der Bourgeoisie besteht). Sie wird also zum Beruf der absoluten Führung der Gesellschaft. 31

99. Der autoritäre ideologische Radikalismus der Bolschewisten hat sich mit dem Krieg und dem Zusammenbruch der internationalen Sozialdemokratie angesichts des Krieges weltweit entfaltet. Das blutige Ende der demokratischen Illusionen der Arbeiterbewegung hatte aus der ganzen Welt ein Rußland gemacht, und der Bolschewismus, der den ersten revolutionären Bruch, den diese Krisenepoche mit sich gebracht hatte, beherrschte, bot dem Proletariat aller Länder sein hierarchisches und ideologisches Modell an, um mit der herrschenden Klasse «russisch zu sprechen». Lenin hat dem Marxismus der II. Internationale nicht vorgeworfen, eine revolutionäre Ideologie zu sein, sondern keine mehr zu sein. 100. Derselbe geschichtliche Moment, in dem der Bolschewismus in Rußland für sich selbst siegte, und die Sozialdemokratie siegreich für die alte Welt kämpfte, bezeichnet die vollendete Entstehung einer Ordnung der Dinge, welche im Mittelpunkt der Herrschaft des modernen Spektakels steht: die Arbeiterrepräsentation hat sich radikal der Klasse entgegensetzt. 101. «In allen früheren Revolutionen», schrieb Rosa Luxemburg in der Roten Fahne vom 21. Dezember 1918, «traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse, Programm gegen Programm ? In der heutigen Revolution treten die Schutzgruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer «sozialdemokratischen Partei» in die Schranken ? Würde die Kardinalfrage der Revolution offen und ehrlich: Kapitalismus oder Sozialismus lauten, ein Zweifeln, ein Schwanken wäre in der großen Masse des Proletariats heute unmöglich». So entdeckte die radikale Strömung des deutschen Proletariats wenige Tage vor ihrer Zerstörung das Geheimnis der neuen Bedingungen, die der gesamte vorherige Prozeß (zu dem die Arbeiterrepräsentation erheblich beigetragen hatte) geschaffen hatte: die spektakuläre Organisation der Verteidigung der bestehenden Ordnung, das gesellschaftliche Reich des Scheins, wo keine «Kardinalfrage» mehr «offen und ehrlich» gestellt werden kann. Die revolutionäre Repräsentation des Proletariats war in diesem Stadium zugleich der Hauptfaktor und das zentrale Ergebnis der allgemeinen Verfälschung der Gesellschaft geworden. 102. dem 32

Die Organisation des Proletariats nach bolschewistischen Modell, die aus der

russischen Rückständigkeit und dem Verzicht der Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Länder auf den revolutionären Kampf entstanden war, traf auch in der russischen Rückständigkeit alle Bedingungen, durch welche diese Organisationsform zur konterrevolutionären Verkehrung geführt wurde, die sie bewußtlos in ihrem Urkeim enthielt; und der wiederholte Verzicht der Masse der europäischen Arbeiterbewegung auf das Hic Rhodus, hic salta der Periode 1918 -1920, dieser Verzicht, der die gewaltsame Zerstörung ihrer radikalen Minderheit einschloß, begünstigte die vollständige Entwicklung des Prozesses und so konnte sich dessen verlogenes Ergebnis vor der Welt als die einzige proletarische Lösung behaupten. Die Ergreifung des staatlichen Monopols der Repräsentation und der Verteidigung der Macht der Arbeiter, die die bolschewistische Partei rechtfertigte, ließ sie zu dem werden, was sie war: die Partei der Eigentümer des Proletariats, die die vorherigen Formen des Eigentums im wesentlichen beseitigte. 103. Alle die Bedingungen der Liquidierung des Zarismus, die in der stets unbefriedigenden theoretischen Debatte der verschiedenen Tendenzen der russischen Sozialdemokratie seit zwanzig Jahren in Betracht gezogen wurden - Schwäche der Bourgeoisie, Gewicht der Bauernmehrheit, entscheidende Rolle eines konzentrierten und schlagkräftigen, aber im Lande höchst minoritären Proletariats - zeigten endlich ihre Lösung in der Praxis durch eine Gegebenheit, die in den Hypothesen nicht vorhanden war: die revolutionäre Bürokratie, die das Proletariat führte, gab, indem sie den Staat ergriff, der Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft. Die rein bürgerliche Revolution war unmöglich, die «demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern» war sinnlos, die proletarische Macht der Sowjets konnte sich nicht gleichzeitig gegen die Klasse der besitzenden Bauern, gegen die nationale und internationale weiße Reaktion und gegen ihre eigene Repräsentation behaupten, welche als Arbeiterpartei der absoluten Herren des Staates, der Wirtschaft, der Rede und bald auch des Denkens entäußert und entfremdet war. Die Theorie der permanenten Revolution von Trotzki und Parvus, der sich Lenin tatsächlich im April 1917 anschloß, war die einzige, die für die im Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung der Bourgeoisie zurückgebliebenen Länder wahr wurde, aber dies erst nach der Einführung dieses unbekannten Faktors: der Klassengewalt der Bürokratie. Die Konzentration der Diktatur in den Händen der obersten Repräsentation der Ideologie

wurde in den zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen Führung am konsequentesten von Lenin verteidigt. Lenin hatte gegenüber seinen Gegnern jedesmal insofern Recht, als er die Lösung unterstützte, die die vorangegangenen Entscheidungen der minoritären absoluten Macht implizierten: die den Bauern staatlich verweigerte Demokratie mußte auch den Arbeitern verweigert werden, was darauf hinauslief, sie auch den kommunistischen Gewerkschaftsführern und in der ganzen Partei und schließlich bis hoch in die Spitze der hierarchischen Partei zu verweigern. von Kronstadt mit Waffen niedergeschlagen und unter Verleumdungen begraben worden war, kam Lenin in der Auseinandersetzung mit den linksradikalen Bürokraten, die in der «Arbeiteropposition» organisiert waren, zu dem Schluß, dessen Logik Stalin bis hin zu einer vollkommenen Teilung der Welt fortführte: «Hier oder dort mit einem Gewehr, aber nicht mit der Opposition ? Wir haben genug von der Opposition.» 104. Die Bürokratie, die als einzige Eigentümerin eines Staatskapitalismus übriggeblieben war, sicherte nach Kronstadt, zur Zeit der «neuen Wirtschaftspolitik», zuerst ihre Macht im Inneren durch eine zeitweilige Allianz mit der Bauernschaft, so wie sie sie nach außen verteidigte, indem sie die in den bürokratischen Parteien der III. Internationale eingereihten Arbeiter als Hilfskraft der russischen Diplomatie benutzte, um jede revolutionäre Bewegung zu sabotieren und bürgerliche Regierungen zu unterstützen, von denen sie einen Beistand in der Weltpolitik erwartete (die Macht der Kuomintang im China 1925-1927, die Volksfront in Spanien und Frankreich usw.). Aber die bürokratische Gesellschaft mußte ihre eigene Vollendung mit Hilfe des Terrors über die Bauernschaft fortführen, um die brutalste ursprünglichste kapitalistische Akkumulation der Geschichte durchzuführen. Diese Industrialisierung der stalinistischen Epoche enthüllt die letzte Realität der Bürokratie: Sie ist die Fortsetzung der Macht, der Wirtschaft, die Rettung des Wesentlichen der Warengesellschaft durch die Aufrechterhaltung der Arbeit als Ware. Sie ist der Beweis der unabhängigen Wirtschaft, die die Gesellschaft so weit beherrscht, daß sie für ihre eigenen Ziele die Klassenherrschaft wiederherstellt, die sie notwendig braucht, was mit anderen Worten heißt, daß die Bourgeoisie eine autonome Macht geschaffen hat, die, solange diese Autonomie besteht, so weit gehen kann, daß sie ohne Bourgeoisie auskommt. Die totalitäre Bürokratie

ist nicht «die letzte Klasse, die Eigentümer der Geschichte» wäre, wie Bruno Rizzi meinte, sondern lediglich eine herrschende Ersatzklasse für die Warenwirtschaft. Das geschwächte kapitalistische Privateigentum wird durch ein vereinfachtes, nicht so verschiedenartiges, als kollektives Eigentum der bürokratischen Klasse konzentriertes Nebenprodukt ersetzt. Diese unterentwickelte Form einer herrschenden Klasse ist auch der Ausdruck der wirtschaftlichen Unterentwicklung und kennt nur die Perspektive, diesen Entwicklungsrückstand in bestimmten Gegenden der Welt einzuholen. Die nach dem bürgerlichen Modell der Absonderung organisierte Arbeiterpartei hat für diese Ergänzungsaufgabe der herrschenden Klasse den hierarchisch-staatlichen Rahmen geschaffen. Anton Ciliga notierte in einem Gefängnis Stalins, daß «die technischen Organisationsprobleme sich als gesellschaftliche Probleme erwiesen» (Lenin und die Revolution). 105. Die revolutionäre Ideologie, d.h. die Kohärenz des Getrennten - dessen größte voluntaristische Anstrengung der Leninismus bildet -, die die Verwaltung einer Realität innehat, die sie abweist, wird mit dem Stalinismus wieder zu ihrer Wahrheit in der Inkohärenz gelangen. In diesem Augenblick ist die Ideologie keine Waffe mehr, sondern ein Ziel. Die Lüge, die nicht mehr widerlegt wird, wird zum Wahnsinn. In der totalitären ideologischen Proklamation ist die Realität ebenso wie der Zweck aufgelöst: alles, was sie sagt, ist alles, was ist. Sie ist ein lokaler Primitivismus des Spektakels, dessen Rolle jedoch in der Entwicklung des Weltspektakels wesentlich ist. Die Ideologie, die sich hier materialisiert, hat nicht die Welt wirtschaftlich verändert, wie der zum hat lediglich die Wahrnehmung polizeilich verändert. 106. Die machthabende totalitär-ideologische Klasse ist die Macht einer verkehrten Welt: je stärker sie ist, um so mehr behauptet sie, daß sie nicht existiert, und ihre Stärke dient ihr zunächst dazu, ihre Nichtexistenz zu behaupten. Nur in diesem Punkt muß auch mit dem nec plus ultra der geschichtlichen Entwicklung zusammenfallen, das man gleichzeitig angeblich ihrer unfehlbaren Führung verdanken soll. Die überall zur Schau gestellte Bürokratie muß für das Bewußtsein die unsichtbare Klasse sein, so daß das ganze gesellschaftliche Leben verrückt wird. Die gesellschaftliche Organisation der absoluten Lüge folgt aus diesem grundlegenden Widerspruch. 33

107. Der Stalinismus war die Schreckensherrschaft innerhalb der bürokratischen Klasse selbst. Der Terrorismus, der die Macht dieser Klasse begründet, muß auch diese Klasse treffen, denn sie hat als besitzende Klasse keine juristische Garantie, keine anerkannte Existenz, die sie auf jedes ihrer Mitglieder ausdehnen könnte. Ihr wirkliches Eigentum ist versteckt, und sie ist nur mit Hilfe des falschen Bewußtseins zur Eigentümerin geworden. Das falsche Bewußtsein behauptet seine absolute Macht nur durch den absoluten Terror, in dem jede wahre Begründung endlich verloren geht. Die Mitglieder der machthabenden bürokratischen Klasse haben nur insofern kollektiv das Besitzungsrecht über die Gesellschaft, als sie bei einer grundlegenden Lüge mitwirken: Sie müssen die Rolle des eine sozialistische Gesellschaft führenden Proletariats spielen; sie müssen die dem Text der ideologischen Untreue treuen Schauspieler sein. Aber die wirkliche Mitwirkung bei diesem Verlogensein muß selbst als eine wahrhaftige Mitwirkung anerkannt werden. Kein Bürokrat kann individuell sein Recht auf die Macht behaupten, denn sich als einen sozialistischen Proletarier zu erweisen, würde heißen, sich als das Gegenteil eines Bürokraten zu zeigen; und sich als einen Bürokraten zu erweisen,

Bürokrat in der absoluten Abhängigkeit einer zentralen Garantie der Ideologie, die eine kollektive Mitwirkung aller der Bürokraten an ihrer «sozialistischen Macht» anerkennt, welche sie nicht vernichtet. Wenn die Bürokraten insgesamt über alles entscheiden, kann der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person gesichert werden. In dieser Person liegt die einzige praktische Wahrheit der machthabenden Lüge: die unbestreitbare Festsetzung ihrer stets berichtigten Grenze. In letzter Instanz bestimmt Stalin, wer schließlich besitzender Bürokrat ist; d.h. wer als «machthabender Proletarier» oder als «vom Mikado und Wallstreet gekaufter Verräter» bezeichnet werden muß. Die bürokratischen Atome Wesen ihres Rechts. Stalin ist dieser Herr der Welt, der sich auf diese Weise die absolute Person ist, für deren Bewußtsein kein höherer Geist existiert. «Der Herr der Welt hat das wirkliche Bewußtsein dessen, was er ist, der allgemeinen Macht der Wirklichkeit, in der zerstörenden Gewalt, die er gegen das ihm gegenüber stehende Selbst seiner Untertanen ausübt». Während er die Macht ist, die den Boden der Herrschaft bestimmt, ist er ebenso «das zerstörende Wühlen in diesem Boden». 34

108. Wenn sich die durch den Besitz der absoluten Macht absolut gewordene Theologie von einer parzellierten Kenntnis zu einer totalitären Lüge verwandelt hat, ist das Denken der Geschichte so vollkommen vernichtet worden, daß die Geschichte selbst auf der Ebene der empirischen Kenntnis nicht mehr existieren kann. Die totalitäre bürokratische Gesellschaft lebt in einer immerwährenden Gegenwart, in welcher für sie alles, was geschehen ist, nur als für ihre Polizei zugänglicher Raum existiert. Der schon von Napoleon formulierte Vorsatz, «die Energie der Erinnerungen monarchisch zu leiten», hat in einer ständigen Manipulation der Vergangenheit nicht nur in ihren Bedeutungen, sondern auch in ihren Tatsachen seine volle Konkretisierung gefunden. Aber der Preis dieser Befreiung von jeder geschichtlichen Realität ist der Verlust des für die geschichtliche Gesellschaft des Kapitalismus unentbehrlichen, rationellen Bezuges. Es ist bekannt, wieviel die wissenschaftliche Anwendung der zum Wahnsinn gewordenen Ideologie die russische Wirtschaft gekostet hat und sei es auch nur durch den Betrug Lyssenkos. Dieser Widerspruch der eine industrialisierte Gesellschaft verwaltenden totalitären Bürokratie, die zwischen ihrem Bedarf an Rationellem und ihrer Ablehnung des Rationellen gefangen ist, bildet auch einen der Hauptmängel dieser Bürokratie gegenüber der normalen kapitalistischen Entwicklung. So wie die Bürokratie die Landwirtschaftsfrage schlechter lösen kann, als es die kapitalistische Entwicklung vermag, so steht sie ihr schließlich ebenfalls in der Industrieproduktion nach, welche autoritär auf der Basis des Irrealismus und der verallgemeinerten Lüge geplant wird. 109. Die revolutionäre Arbeiterbewegung zwischen den beiden Kriegen wurde durch das vereinte Wirken der stalinistischen Bürokratie und des faschistischen Totalitarismus, der seine Organisationsform der in Rußland probierten totalitären Partei entlehnt hatte, vernichtet. Der Faschismus war eine extremistische Verteidigung der von der Krise und der proletarischen Subversion bedrohten bürgerlichen Wirtschaft, d.h. er war der Belagerungszustand in der kapitalistischen Gesellschaft, durch den sich diese Gesellschaft rettet und sich eine erste Notrationalisierung gibt, indem sie den Staat in ihre Verwaltung massiv eingreifen läßt. Aber eine solche Rationalisierung ist selbst mit der ungeheuren Irrationalität ihres Mittels belastet. Wenn auch der Faschismus die Verteidigung der Hauptpunkte der konservativ gewordenen bürgerlichen Ideologie (die Familie, das Eigentum, die Sittenordnung, die Nation) übernimmt, indem er das Kleinbürgertum mit den Arbeitslosen

vereinigt, die aufgrund der Krise verwirrt oder durch die Ohnmacht der sozialistischen Revolution enttäuscht sind, so ist er selbst keineswegs durch und durch ideologisch. Er gibt sich als das, was er ist: eine gewaltsame Auferstehung des Mythos, der die Teilnahme an einer Gemeinschaft verlangt, die durch

als arme Verwandte des Kapitalismus. So wie ihre tatsächliche Geschichte ihrem Recht widerspricht, und ihre auf plumpe Weise aufrechterhaltene Unwissenheit ihren wissenschaftlichen Ansprüchen zuwiderläuft, so wird ihr Plan, in der Produktion eines

Blut, den Führer. Der Faschismus ist der technisch ausgerüstete Archaismus. Sein verfaulter Ersatz des Mythos wird im spektakulären Zusammenhang der modernsten Mittel des Dressierens und der Täuschung wieder aufgenommen. So ist er einer der Faktoren bei der Herausbildung des modernen Spektakelwesens, so wie ihn sein Anteil an der Zerstörung der alten Arbeiterbewegung zu einer der Gründermächte der gegenwärtigen Gesellschaft macht; aber da der Faschismus auch die kostspieligste Form der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung ist, mußte er normalerweise, als er durch rationellere und stärkere Formen dieser Ordnung beseitigt wurde, vom Vordergrund der Bühne abtreten, auf der die kapitalistischen Staaten die großen Rollen spielen.

seine implizierte Ideologie trägt und normalerweise von einer unendlich ausgedehnten Freiheit falscher spektakulärer Wahlmöglichkeiten begleitet wird, von einer Pseudofreiheit, die mit der bürokratischen Ideologie unvereinbar bleibt.

110. Als es der russischen Bürokratie endlich gelungen war, sich der Reste des bürgerlichen Eigentums zu entledigen, die ihre Herrschaft über die Wirtschaft behinderten, diese für ihren eigenen Gebrauch zu entwickeln und im Ausland unter den Großmächten anerkannt zu werden, will sie in Ruhe ihre eigene Welt genießen, und deren Teil von Willkür abschaffen, der auf sie selbst wirkte: sie denunziert den Stalinismus ihres Ursprungs. Aber eine derartige Denunziation bleibt stalinistisch, willkürlich, unerklärt und ständig berichtigt, denn die ideologische Lüge ihres Ursprungs kann niemals offenbart werden. So kann sich die Bürokratie weder kulturell noch politisch liberalisieren, denn ihr Bestehen als Klasse hängt von ihrem ideologischen Monopol ab, das in seiner ganzen Schwere ihren einzigen Eigentumstitel bildet. Die Ideologie hat zwar die Leidenschaft ihrer positiven Behauptung verloren, aber was davon als gleichgültige Trivialität übrigbleibt, hat noch die repressive Funktion, die geringste Konkurrenz zu verbieten, und die Ganzheit des Denkens gefangenzuhalten. Die Bürokratie ist daher mit einer Ideologie verknüpft, an die niemand mehr glaubt. Was terroristisch war, ist lächerlich geworden, aber diese Lächerlichkeit selbst kann sich nur dadurch aufrechterhalten, daß sie im Hintergrund den Terrorismus aufbewahrt, von dem sie sich freimachen möchte. So bekennt sich die Bürokratie gerade in dem Moment, in dem sie auf dem Boden des Kapitalismus ihre Überlegenheit beweisen will,

111. In diesem Moment der Entwicklung bricht der ideologische Eigentumstitel der Bürokratie bereits im Weltmaßstabe zusammen. Die Macht, die sich national als grundlegend internationalistisches Modell etabliert hatte, muß zugeben, daß sie nicht mehr behaupten kann, ihre lügenhafte Kohäsion jenseits jeder nationalen Grenze aufrechtzuerhalten. Die ungleiche Wirtschaftsentwicklung, die Bürokratien mit konkurrierenden Interessen erfahren, denen es gelungen ist, ihren «Sozialismus» außerhalb eines einzigen Landes zu besitzen, hat zur öffentlichen und vollständigen Auseinandersetzung zwischen der russischen und der chinesischen Lüge geführt. Von diesem Punkt an muß jede Bürokratie, die an der Macht ist, oder jede totalitäre Partei, die sich um die von der stalinistischen Periode in einigen nationalen Arbeiterklassen hinterlassene Macht bewirbt, ihren eigenen Weg gehen. Der weltweite Zerfall der den Äußerungen der inneren Negation hinzutritt, die sich vor der Welt mit dem Arbeiteraufstand in Ostberlin, der den Bürokraten ihre Forderung nach einer «Metallarbeiterregierung» entgegensetzte, zu behaupten begannen, und die sogar einmal bis zur Macht der Arbeiterräte in Ungarn führten, erwies sich in letzter Analyse als der ungünstigste Faktor für die heutige Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Bourgeoisie ist auf dem Wege, den Gegner zu verlieren, der sie objektiv stützte, indem er jede Negation der bestehenden Ordnung illusorisch vereinte. Eine solche Teilung der spektakulären Arbeit sieht ihrem Ende entgegen, wenn sich die pseudorevolutionäre Rolle ihrerseits Arbeiterbewegung wird selbst aufgelöst. 112. Die leninistische Illusion hat heute nur noch in den verschiedenen trotzkistischen Richtungen eine Projektes mit einer hierarchischen Organisation 35

der Ideologie unerschütterlich die Erfahrungen all ihrer Ergebnisse überlebt. Die Distanz, die den Trotzkismus von der revolutionären Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft trennt, erlaubt ihm auch seine respektvolle Distanz gegenüber Positionen, die bereits falsch waren, als sie sich in einem wirklichen Kampf abnutzten. Trotzki blieb bis 1927 mit der hohen Bürokratie von Grund aus solidarisch und versuchte gleichzeitig, sich ihrer zu bemächtigen, um sie zur Wiederaufnahme einer wirklichen bolschewistischen Aktion im Ausland zu bewegen (es ist bekannt, daß er damals sogar verleumderisch seinen Kampfgefährten Max Eastman verleugnete, um mitzuhelfen, das berühmte «Testament Lenins» zu verheimlichen, das dieser bekannt gemacht hatte). Trotzki wurde durch seine grundlegende Perspektive verurteilt, denn im Moment, in dem die Bürokratie sich selbst in ihrem Ergebnis als konterrevolutionäre Klasse im Inland erkennt, muß sie sich auch dazu entscheiden, im Ausland im Namen der Revolution tatsächlich konterrevolutionär zu sein, so wie im Inland. Der spätere Kampf Trotzkis für eine IV. Internationale enthält die gleiche Inkonsequenz. Er hat sich sein ganzes Leben lang geweigert, in der Bürokratie die Macht einer getrennten Klasse anzuerkennen, weil er während der zweiten russischen Revolution ein bedingungsloser Anhänger der bolschewistischen Organisationsform geworden war. Als Lukacs 1923 in dieser Form die endlich gefundene Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zeigte, bei der die Proletarier nicht mehr «Zuschauer» der Ereignisse sind, die in ihrer Organisation geschehen, sondern sie bewußt gewählt und erlebt haben, beschrieb er als tatsächliche Verdienste der bolschewistischen Partei all das, was die bolschewistische Partei nicht war. Lukacs war noch, neben seiner tiefen theoretischen Arbeit, ein Ideologe, der im Namen einer Macht sprach, die auf die vulgärste Weise außerhalb der proletarischen Bewegung stand, und der glaubte und glauben ließ, daß er sich selbst, mit seiner ganzen Persönlichkeit, in dieser Macht befand, als ob er sich in seiner eigenen Macht befände. Während in der Folge offen zu Tage trat, auf welche Weise diese Macht ihre Knechte verleugnet und beseitigt, zeigte Lukacs, der sich ständig selbst verleugnete, mit karikaturaler mit dem Gegenteil seiner selbst und all dessen, was er in Geschichte und Klassenbewußtsein verteidigt hatte. Lukacs bewahrheitet am besten die Grundregel, an der alle Intellektuellen dieses Jahrhunderts zu beurteilen sind: an dem, was sie achten, läßt sich ganz genau ihre eigene verachtenswerte Realität ermessen. Lenin hatte diese Art von Illusionen über seine 36

Tätigkeit nicht gefördert, denn er gab zu, daß «eine politische Partei nicht ihre Mitglieder überprüfen kann, um festzustellen, ob Widersprüche zwischen deren Philosophie und dem Programm der Partei bestehen». Die wirkliche Partei, deren Traumporträt Lukacs zur Unzeit dargestellt hatte, war nur für die Ausführung einer präzisen Teilaufgabe kohärent: d.h. für die Ergreifung der Macht im Staat. 113. Weil die neoleninistische Illusion des heutigen Trotzkismus von der Realität der modernen kapitalistischen Gesellschaft, der bürgerlichen wie der bürokratischen, alle Augenblicke widerlegt wird, «unterentwickelten» Ländern einen bevorzugten Geltungsbereich, in denen die Illusionen irgendeiner Variante des bürokratischen Staatssozialismus als einfache Ideologie der Herrschaftsentwicklung von den lokalen herrschenden Klassen bewußt manipuliert wird. Die zwitterhafte Zusammensetzung dieser Klassen hängt mehr oder weniger deutlich einer Abstufung auf dem Spektrum Bourgeoisie-Bürokratie an. Ihr Spiel im internationalen Maßstab zwischen diesen beiden Polen der bestehenden kapitalistischen Gewalt und - ebenso ihre ideologischen Kompromisse - insbesondere mit dem Islam - die die zwitterhafte Realität ihrer gesellschaftlichen Basis ausdrücken, nehmen vollends diesem letzten Nebenprodukt des ideologischen Sozialismus jeden Ernst außer dem polizeilichen. Eine Bürokratie konnte sich aus den Stammtruppen des nationalen Kampfes und des Agraraufstandes der Bauern herausbilden: dann ist sie bestrebt, wie in China, das stalinistische Industrialisierungsmodell in einer Gesellschaft anzuwenden, die weniger entwickelt ist als das Rußland von 1917. Eine Bürokratie, die dazu fähig ist, die Nation zu industrialisieren, kann sich aus dem Kleinbürgertum bilden, als Kader der Armee die Macht ergreifen, wie das Beispiel Ägyptens zeigt. An einigen Punkten, wie im Algerien am Ende seines Krieges um die Unabhängigkeit, sucht die Bürokratie, die sich während des Kampfes als parastaatliche Führung gebildet hat, den Gleichgewichtspunkt eines Kompromisses, um mit einer schwachen nationalen Bourgeoisie zu fusionieren. Schließlich bildet sich in den ehemaligen Kolonien des schwarzen Afrikas, die offen mit der westlichen, d.h. amerikanischen und europäischen Bourgeoisie verknüpft bleiben, eine Bourgeoisie - zumeist aus der Macht der traditionellen Stammeshäuptlinge - durch den Besitz des Staates: in diesen Ländern, in denen der ausländische Imperialismus der wahre Herr der Wirtschaft bleibt, wird ein Stadium erreicht, in dem

die Compradores als Vergütung für ihren Verkauf der Eingeborenenprodukte den Eingeborenenstaat als Eigentum bekommen haben, welcher zwar gegenüber den lokalen Massen, nicht aber gegenüber dem Imperialismus unabhängig ist. In diesem Fall handelt es sich um eine künstliche Bourgeoisie, die nicht fähig ist zu akkumulieren, sondern die bloß verschwendet und zwar den ihr zukommenden Teil des Mehrwerts aus der lokalen Arbeit ebenso wie die ausländischen Subsidien der Staaten oder der Monopole, die sie schützen. Die Offensichtlichkeit der Unfähigkeit dieser bürgerlichen Klassen, die normale wirtschaftliche Funktion der Bourgeoisie zu erfüllen, führt dazu, daß sich gegenüber jeder dieser Klassen eine Subversion nach dem mehr oder weniger den örtlichen Besonderheiten angepaßten bürokratischen Modell bildet, die die Erbschaft der Bourgeoisie übernehmen will. Aber der Erfolg selbst einer Bürokratie bei ihrem Hauptprojekt der Industrialisierung enthielt notwendig die Perspektive ihres geschichtlichen Scheiterns: wenn sie das Kapital akkumuliert, akkumuliert sie auch das Proletariat, und erzeugt ihre eigene Widerlegung in einem Land, in dem es noch nicht vorhanden war. 114. In dieser komplexen und furchtbaren Entwicklung, die die Epoche der Klassenkämpfe zu neuen Bedingungen geführt hat, hat das Proletariat der industriellen Länder völlig die Behauptung seiner selbständigen Perspektive und schließlich seine Illusionen, doch nicht sein Sein verloren. Es ist nicht aufgehoben. Seine Existenz in der gesteigerten Entfremdung des modernen Kapitalismus dauert unerbittlich fort: dieses Proletariat besteht aus der ungeheuren Mehrzahl der Arbeiter, die jede Macht über die Bestimmung ihres Lebens verloren haben und sich, sobald sie das wissen, wieder als Proletariat Negative. Dieses Proletariat wird objektiv durch den Prozeß des Verschwindens der Bauernschaft und durch die Ausweitung der Logik in der Fabrikarbeit, die sich auf einen großen Teil der «Dienstleistungen» und der intellektuellen Berufe erstreckt, verstärkt. Subjektiv ist dieses Proletariat noch von seinem praktischen Klassenbewußtsein entfernt, nicht nur bei den Angestellten, sondern auch bei den Arbeitern, der alten Politik entdeckt haben. Wenn das Proletariat jedoch entdeckt, daß seine geäußerte eigene Kraft zur fortwährenden Verstärkung der kapitalistischen Gesellschaft beiträgt, nicht mehr nur in der Form seiner Arbeit, sondern auch in der Form der Gewerkschaften, der Parteien oder der staatlichen

Macht, die es zu seiner Emanzipierung gebildet hatte, entdeckt es auch durch die konkrete geschichtliche Erfahrung, daß es die Klasse ist, die jeder erstarrten Äußerung und jeder Spezialisierung der Macht vollständig Feind ist. Es trägt die Revolution, die nichts außerhalb ihrer lassen kann, die Forderung nach der fortwährenden Herrschaft der Gegenwart über die Vergangenheit und die totale Kritik der Trennung; dazu muß es die adäquate Form in der Elends, keine Illusion hierarchischer Integration ist ein dauerhaftes Heilmittel für seine Unzufriedenheit, denn das Proletariat kann sich nicht wahrhaftig in einem besonderen Unrecht anerkennen, das an ihm verübt worden wäre und folglich ebensowenig in der Wiedergutmachung eines besonderen Unrechts oder vieler dieser Unrechte, sondern nur in dem Unrecht schlechthin, an den Rand des Lebens gedrängt zu sein. 115. Aus den neuen unbegriffenen und von der spektakulären Anordnung verfälschten Zeichen der Negation, die sich in den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern mehren, läßt sich bereits diese Schlußfolgerung ziehen, daß eine neue Epoche begonnen hat. Nach dem ersten Versuch der Arbeitersubversion ist es jetzt der die antigewerkschaftlichen Kämpfe der westlichen Arbeiter zunächst von den Gewerkschaften unterdrückt werden und wenn die aufständischen Strömungen der Jugend einen ersten formlosen Protest erheben, in dem jedoch die Verweigerung der alten spezialisierten Politik, der Kunst und des Alltagslebens unmittelbar eingeschlossen ist, sind das schon die beiden Gesichter eines neuen spontanen Kampfes, der unter verbrecherischer Erscheinungsform beginnt. Es sind die ersten Vorzeichen des zweiten proletarischen Ansturms gegen die Klassengesellschaft. Wenn die verlorenen Posten dieser noch bewegungslosen Armee wieder auf diesem andersgewordenen und gleichgebliebenen Gelände stehen, folgen sie einem neuen «General Ludd», der sie diesmal zur Zerstörung der Maschinen des erlaubten Konsums losläßt. 116. «Die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte», hat in diesem Jahrhundert in den revolutionären Arbeiterräten eine deutliche Gestalt angenommen, die in sich alle Funktionen der Entscheidung und der Ausführung konzentrieren und sich vermittels von Vertretern föderieren, die 37

gegenüber der Basis verantwortlich und jederzeit abrufbar sind. Ihre tatsächliche Existenz ist bisher erst ein kurzer Versuch gewesen, der zugleich von den verschiedenen Kräften zur Verteidigung eigenes falsches Bewußtsein zu zählen ist, bekämpft und besiegt wurde. Pannekoek betonte gerade die Tatsache, daß die Wahl einer Macht der Arbeiterräte eher «Probleme stellt» als eine Lösung bringt. Aber diese Macht ist gerade der Ort, wo die Probleme der können. Sie ist der Ort, wo die objektiven Bedingungen des geschichtlichen Bewußtseins vereinigt sind; die Verwirklichung der aktiven, direkten Mitteilung, wo die Spezialisierung, die Hierarchie und die Trennung aufhören, wo die bestehenden Bedingungen in «Bedingungen der Einheit» verwandelt worden sind. Hier kann das proletarische Subjekt aus seinem Kampf gegen die Kontemplation hervortreten: sein Bewußtsein ist der praktischen Organisation gleich, die es sich gegeben hat, denn dieses Bewußtsein selbst ist untrennbar von dem kohärenten Eingriff in die Geschichte. 117. In der Macht der Räte, die jede andere Macht international ersetzen muß, ist die proletarische Bewegung ihr eigenes Produkt und dieses Produkt ist der Produzent selbst. Sie ist sich selbst ihr eigener Zweck. Nur hier wird die spektakuläre Verneinung des Lebens ihrerseits verneint. 118. Das Auftauchen der Räte war die höchste Realität der proletarischen Bewegung im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, eine Realität, die unbemerkt blieb oder entstellt wurde, weil sie mit dem Rest einer Bewegung verschwand, die durch die Gesamtheit der damaligen geschichtlichen Erfahrung verleugnet und beseitigt wurde. In dem neuen Moment der proletarischen Kritik kehrt dieses Ergebnis als der einzige unbesiegte Punkt der besiegten Bewegung wieder. Das geschichtliche Bewußtsein, das weiß, daß es in ihm seinen einzigen Existenzraum hat, kann es jetzt wiedererkennen, aber nicht mehr an der Peripherie dessen, was zurückströmt, sondern im Zentrum dessen, was steigt. 119. Eine vor der Macht der Räte bestehende revolutionäre Organisation - die im Kampf ihre aus all diesen geschichtlichen Gründen, daß sie die Klasse nicht repräsentiert. Sie muß sich selbst nur als eine radikale Trennung von der Welt der Trennung erkennen. 38

120. Die revolutionäre Organisation ist der kohärente Ausdruck der Theorie der Praxis, die in nichteinseitige Kommunikation mit den praktischen Kämpfen tritt und zur praktischen Theorie wird. Ihre eigene Praxis ist die Verallgemeinerung der Kommunikation und der Kohärenz in diesen Kämpfen. gesellschaftlichen Trennung muß diese Organisation anerkennen. 121. Die revolutionäre Organisation kann nur die einheitliche Kritik der Gesellschaft sein, d.h. eine Kritik, die an keinem Punkt der Welt mit irgendeiner Form von getrennter Macht paktiert, und eine Kritik, die global gegen alle Aspekte des entfremdeten gesellschaftlichen Lebens ausgesprochen wird. In dem Kampf der revolutionären Organisation gegen die Klassengesellschaft sind die Waffen nichts anderes als das Wesen der Kämpfer selbst: die revolutionäre Organisation kann in sich nicht die Bedingungen der Entzweiung und der Hierarchie wieder erzeugen, die die Bedingungen der herrschenden Gesellschaft sind. Sie muß fortwährend gegen ihre Entstellung im herrschenden Spektakel kämpfen. Die einzige Grenze der Teilnahme an der totalen Demokratie der revolutionären Organisation ist die Anerkennung und die tatsächliche Selbstaneignung der Kohärenz ihrer Kritik durch alle ihre Mitglieder, einer Kohärenz, die sich in der eigentlichen kritischen Theorie und in deren Beziehung zur praktischen Tätigkeit bewähren muß. 122. Da die auf allen Ebenen immer weitergetriebene Verwirklichung der kapitalistischen Entfremdung es den Arbeitern immer schwieriger macht, ihr eigenes Elend zu erkennen und zu benennen und sie dadurch vor die Alternative stellt, entweder ihr ganzes Elend oder nichts abzulehnen, hat die revolutionäre Organisation lernen müssen, daß sie die Entfremdung nicht mehr in entfremdeten Formen bekämpfen kann. 123. Die proletarische Revolution hängt ganz und gar von dieser Notwendigkeit ab, daß die Massen zum ersten Mal die Theorie als Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen. Sie fordert, daß die Arbeiter zu Dialektikern werden, und daß sie der Praxis ihr Denken aufprägen; sie verlangt daher von den Männern ohne Eigenschaften sehr viel mehr als die bürgerliche Revolution von Durchführung beauftragte: denn das von einem Teil der bürgerlichen Klassen erzeugte, parzellierte und

ideologische Bewußtsein hatte jenen zentralen Teil des gesellschaftlichen Lebens, die Wirtschaft, zur Grundlage, in der diese Klasse bereits an der Macht war. Die eigene Entwicklung der Klassengesellschaft zur spektakulären Organisation des Nicht-Lebens führt folglich das revolutionäre Projekt dazu, sichtbar zu dem zu werden, was es schon wesentlich war. 124. Die revolutionäre Theorie ist jetzt jeder revolutionären Ideologie Feind und sie weiß, daß sie es ist.

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Spontaneität und Organisation Paul Mattick (1949) I Innerhalb der Arbeiterbewegung stellte sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Organisation und Spontaneität als ein Problem des Klassenbewußtseins, das mit dem Verhältnis einer revolutionären Minderheit zu der kapitalistisch indoktrinierten proletarischen Masse verknüpft war. Man hielt es für unwahrscheinlich, daß eine größere Gruppe ein revolutionäres Bewußtsein entfalten und es durch Selbstorganisation festigen, ja in die Praxis übersetzen könnte. Die Masse der Arbeiter, so wurde unterstellt, werde unter dem Zwang der Umstände revolutionär. Lenin deutete diese Situation optimistisch; andere, wie z. B. Rosa Luxemburg, dachten anders darüber. Um die Herrschaft der Partei zu realisieren, hielt Lenin es in erster Linie für geboten, sich mit Fragen der Organisation zu beschäftigen. Um der Gefahr einer neuen Diktatur über die Arbeiter zu entgehen, legte Rosa Luxemburg hinge- gen besonderen Wert auf die Spontaneität. Beide jedoch glaubten, daß, so wie die Bourgeoisie unter bestimmten Bedingungen die Ideen und Aktivitäten der arbeitenden Bevölkerung bestimmt, eine revolutionäre Minderheit dies unter veränderten Umständen ebenfalls könnte. Während Lenin hierin eine Möglichkeit sah, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen, fürchtete Rosa Luxemburg, daß jede Minorität, die die Stellung der herrschenden Klasse einnähme, schon bald wie die alte Bourgeoisie denken und handeln würde. Diesen Konzepten lag die Überzeugung zugrunde, daß die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus die proletarischen Massen zu antikapitalistischem Handeln zwingen würde. Obwohl Lenin spontane Bewegungen für notwendig hielt, stand er ihnen mißtrauisch gegenüber. Er legitimierte den bewußten Eingriff in spontan entstehende Revolutionen mit der Rückständigkeit der Massen und hielt Spontaneität für ein destruktives, nicht für ein konstruktives Element. Je mächtiger die spontane Bewegung wurde, desto dringlicher war es in Lenins Sicht, sie unter die Führung organisierter, planvoller Parteiarbeit zu bringen. Die Arbeiter sollten sozusagen vor sich selber geschützt werden, damit sie der eigenen Sache nicht durch Unkenntnis schadeten und durch die Zersplitterung Ihrer Kräfte der Konterrevolution den Weg ebneten. Rosa Luxemburg dachte anders; ihr galt nicht nur die traditionelle Machtstruktur und Organisationsweise für konterrevolutionär, 40

sondern innerhalb der revolutionären Bewegung selbst erblickte sie die Gefahr der Entstehung konterrevolutionärer Tendenzen. Sie hoffte, daß danach strebten Macht zu zentralisieren, eingrenzen könnten. Obwohl Luxemburg und Lenin beide in der Akkumulation des Kapitals einen Prozeß sahen, der Krisen produziert, hielt Luxemburg die Krise für gravierender als Lenin. Je verheerender die Krise, um so umfassender wären die zu erwartenden spontanen Aktionen, um so geringer wäre die Notwendigkeit bewußter Lenkung und zentraler Kontrolle und um so größer die Möglichkeit des Proletariats, seinen eigenen Bedürfnissen gemäß denken und handeln zu lernen. Aus Luxemburgs Sicht sollten Organisationen lediglich die den Massenaktionen innewohnenden kreativen Kräfte befreien helfen und sich den unabhängigen proletarischen Versuchen, eine neue Gesellschaft zu organisieren, anpassen. Diese Ansicht setzt nicht ein klares revolutionäres Bewußtsein voraus, sondern vielmehr eine hochentwickelte Arbeiterklasse, die fähig ist, aus eigener Anstrengung Mittel und Wege zu entdecken, den Produktionsapparat und die eigenen Fähigkeiten zur Begründung einer sozialistischen Gesellschaft einzusetzen. Es gibt noch einen anderen Zugang zu dem Komplex von Spontaneität und Organisation. Georges Sorel und die Syndikalisten gingen nicht nur davon aus, daß sich das Proletariat ohne Führung der Intelligenz emanzipieren könnte, sondern daß es sich auch aus eigenem Vermögen von den bürgerlichen Elementen der politischen Organisationen befreien müsse. Sorel zufolge kann eine Herrschaft der Sozialisten die gesellschaftliche Stellung der Arbeiter keineswegs verändern. Um sich zu befreien, müssten die Arbeiter eigene Handlungs- und Kampfformen entwickeln. Der Kapitalismus habe das gesamte Proletariat in seinen Industrien bereits organisiert. Was zu tun übrigbleibe, sei, den Staat und das Privateigentum abzuschaffen. Dazu benötige das Proletariat nicht so sehr «wissenschaftliche Einsicht» in gesellschaftliche Zusammenhänge und Sachverhalte als vielmehr die intuitive Überzeugung, daß Revolution und Sozialismus das Resultat ihrer eigenen fortgesetzten Kämpfe seien. Den Streik begriff Sorel als die revolutionäre Lernphase der Arbeiter. Die steigende Anzahl der Streiks, ihre Ausweitung und ihre zunehmende Dauer deuteten auf einen möglichen

Generalstreik hin, d. h. auf die bevorstehende Revolution. Jeder einzelne Streik erschien ihm als ein verkleinertes Abbild des Generalstreiks, als Vorbereitung auf den endgültigen Aufstand. Das wachsende revolutionäre Potential dürfe deshalb nicht an den Erfolgen der politischen Parteien, sondern gemessen werden. Organisation hieß: Vorbereitung der direkten Aktion, und diese wiederum formte den Charakter der Organisation. In den spontanen Streiks erblickte er die organisatorischen Formen der Revolte und gleichzeitig die Vorstufen der zukünftigen gesellschaftlichen Organisation, in der die Produzenten selber ihre Produktion kontrollieren. Nach Sorels Theorie schreitet die Revolution von Aktion zu Aktion fort in kontinuierlicher Verschmelzung spontaner und organisatorischer Momente des Kampfes um Emanzipation.

gesellschaftliche Leben. Im Kapitalismus kann keine Organisation strikt und konsequent antikapitalistisch handeln. «Puristischer» Antikapitalismus ist das Privileg von Einzelnen und Sekten; Organisationen müssen bis zu einem Grade opportunistisch sein, um gesellschaftliche Bedeutung zu erlangen, mittels derer sie dann ihren eigenen Zielen gemäss die Offensichtlich haben Opportunismus und «Realismus» mancherlei gemein. Selbst eine Ideologie, die die bestehende Gesellschaftsordnung radikal ablehnt, kann auf opportunistische Taktik nicht verzichten. Alle gegenteiligen Versuche sind fehlgeschlagen. Nur diejenigen Organisationen, die das Bestehende nicht grundsätzlich in Frage stellten, erlangten einiges Gewicht. Bei Organisationen, die zu Anfang eine revolutionäre Ideologie vertraten, trieb ihr Wachstum stets die Differenz zwischen Theorie und Praxis hervor. Den Kapitalismus bekämpfend,

II Durch die Betonung der Spontaneität gaben die Arbeiterorganisationen ihre eigene Schwäche zu. Da sie nicht wußten, wie die Gesellschaft zu ändern sei, hofften sie, daß der Gang der Geschichte ihr Problem lösen würde. Diese Hoffnung beruhte zweifellos auf der Erkenntnis aktueller Trends, z. B. der Weiterentwicklung der Technologie, der fortschreitenden Konzentration und Zentralisation usw. Es handelte sich hier jedoch um nicht mehr als eine Hoffnung, die den Mangel an organisatorischer Macht und die Unfähigkeit, effektiv zu handeln, kompensieren sollte. Starke Organisationen neigen dazu, Spontaneität zu ersticken. Sie leiten ihren Optimismus aus ihrem eigenen Erfolg ab, nicht aus der Hoffnung auf spontane Bewegungen, die ihnen zu einem späteren Zeitpunkt zu Hilfe kommen könnten. Sie meinen, daß organisierte Macht durch organisierte Macht gebrochen werden müßte, oder sie vertreten die These, die Alltagspraxis der Partei und der Gewerkschaften werde immer mehr Arbeiter davon überzeugen, daß die bestehenden Verhältnisse umgewälzt werden müßten. Das Wachstum der eigenen Organisationen Klassenbewußtseins; bisweilen nehmen sie an, daß diese Organisationen schließlich die gesamte Arbeiterklasse umfassen würden. Indes passen sich alle Organisationen der allgemeinen gesellschaftlichen Struktur an; sie sind niemals im strengen Sinne «unabhängig», sondern werden von

ihren Gegnern in die Hände. Und wenn sie nicht von ihren Gegnern zerschlagen werden, unterliegen sie schließlich als Opfer ihrer erfolgreichen Aktivität der kapitalistischen Gewalt. Hier, in der Frage der Organisation, offenbart sich das Dilemma der Radikalen: Um gesellschaftliche Veränderungen zu bewerkstelligen, müssen Aktionen organisiert werden; organisierte Aktionen aber nehmen immer auch Züge dessen an, wogegen sie sich richten. Es scheint, als könne man nur das Falsche oder, aus Angst vor dem Falschen, gar nichts tun. Das politische Bewußtsein des Radikalen ist ein unglückliches Bewußtsein; sich seines Utopismus bewußt, erfährt es nichts als Fehlschläge. Der Radikale legt aus Gründen der Selbstverteidigung Wert auf Spontaneität, es sei denn, er ist Mystiker, der seine eigenen Gedanken und Wünsche insgeheim für Unsinn hält; seine Beharrlichkeit scheint jedoch zu beweisen, daß er in dem Unsinn allemal einen Sinn entdeckt. Die Flucht in die Spontaneität kennzeichnet die tatsächliche oder eingebildete Unfähigkeit, wirkungsvolle Organisationsformen auszubilden und sich «realistisch» mit bestehenden Organisationen auseinanderzusetzen. Diese erfolgreich bekämpfen hieße nämlich, Gegenorganisationen schaffen, die selber die Ursache ihrer Entstehung zerstören würden. In diesem Sinne markiert «Spontaneität» einen negativen Zugang zum Problem der gesellschaftlichen Veränderung und kann nur in ideologischem Sinne positiv gewertet werden, insofern sie sich gegen systemkonforme Handlungsweisen richtet. Sie 41

schärft die Kritikfähigkeit und führt dazu, sich von hoffnungslosen Vorhaben und aussichtslosen Organisationen zu lösen. Sie geht den Symptomen Grenzen der Klassenunterdrückung zu ermitteln. Sie ist, kurz gesagt, das Merkmal revolutionärer Einstellung. Gesellschaftliche Gruppen, Kräfte und Organisationen, die am Neuen interessiert sind, betonen die Spontaneität, solche, die sich dem Alten verbunden fühlen, werden auf der Notwendigkeit von Organisation beharren.

III

Handelns offenbart, daß alle bedeutenden Organisationen, gleich welcher Ideologie, den Status quo stützen oder bestenfalls eine begrenzte Entwicklung im Rahmen der allgemeinen Bedingungen einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten historischen Epoche begünstigen. Der Terminus «Status quo» hilft bei der Klärung des Begriffs der Ruhe im Wandel. Er muß wie jedes andere Theorem geprüft werden und ist, unabhängig von seinen vielen philosophischen Implikationen, hier einigermaßen nützlich. Es ist natürlich klar, daß immer, in kapitalistische Bedingungen eingegangen sind und daß nachkapitalistische Bedingungen ebenso in irgendeiner Weise in kapitalistischen schon auftauchen. Dies bezieht sich auf die allgemeine Entwicklung, und obwohl das Allgemeine sich nicht vom Besonderen trennen läßt, werden sie doch durch die praktischen Tätigkeiten der Menschen dauernd auseinandergehalten. «Status quo», hier auf den Kapitalismus angewandt, bedeutet eine geschichtliche Phase, in der die Arbeiter, in komplexe gesellschaftliche Abhängigkeiten verwoben, von den Produktionsmitteln getrennt sind und von einer herrschenden Klasse kontrolliert werden. Die Besonderheit der politischen Herrschaft basiert auf der Besonderheit ökonomischer Herrschaft. Solange das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit das gesellschaftliche Leben prägt, werden wir die Gesellschaft im wesentlichen «unverändert» erscheinen mag. «Laissez-faire», Monopol- und Staatskapitalismus sind Entwicklungsstufen in den Grenzen des Status quo. Obschon wir die Unterschiede zwischen diesen Entwicklungsstufen nicht abstreiten wollen, müssen wir doch auf ihrer grundlegenden Identität beharren, und indem wir das 42

ihnen Gemeinsame bekämpfen, bekämpfen wir nicht eine einzelne Formation, sondern alle Formationen kapitalistischer Verhältnisse. Entwicklung oder einfach Veränderung innerhalb des Status quo mag aus der zeitlich bestimmten Sicht der Beherrschten «positiv» oder «negativ» sein. Positiv z. B. wäre der erfolgreiche Kampf der Arbeiter für bessere Lebensbedingungen und größere politische Freiheiten, «negativ» der Verlust von beiden im Faschismus, und zwar unabhängig davon, ob das zweite durch das erste teilweise bedingt ist. Die Zugehörigkeit zu einer Organisation, die innerhalb des Status quo Entwicklungen vorantreibt, ist oft unausweichlich. Es hilft daher nicht weiter, Organisationen auf Grund eines nur außerhalb des Status quo zu realisierenden Maximalprogramms abzulehnen. Beim Eintritt oder Verbleiben in «realistischen» Organisationen ist es trotzdem nötig, nach der Richtung zu fragen, in der Veränderungen im Rahmen des Status quo vor sich gehen und welche Auswirkungen sie auf die arbeitende Bevölkerung haben. Seit langer Zeit haben die Gewerkschaften und Arbeiterparteien aufgehört, in Einklang mit ihren ursprünglichen radikalen Intentionen zu handeln. Tagespolitik verwandelte diese Bewegungen; die Folge ist eine Situation, in der es trotz vieler PseudoOrganisationen keine wirkliche Arbeiterorganisation mehr gibt. Selbst der sozialistische Flügel der Bewegung begreift Reform nicht als zielgerichteten Übergang zum Sozialismus, sondern als Instrument zur «Verbesserung» des Kapitalismus, ungeachtet der Begriffe benutzt. Der Kampf um bessere Lebensbedingungen innerhalb der Marktwirtschaft, der ja ein Kampf um einen höheren Preis für die Arbeitskraft war, formte die Arbeiterbewegung in eine kapitalistische Bewegung von Arbeitern um. Je stärker der proletarische Druck wurde, desto größer wurde der Zwang für das Kapital, die Produktivität der Arbeit durch technologische und organisatorische Maßnahmen zu steigern und sich national und international auszudehnen. Wie die Konkurrenz im allgemeinen, so diente auch der proletarische Kampf letztlich der Beschleunigung der Kapitalakkumulation, die die Gesellschaft auf immer höhere Produktionsniveaus ruckte. Nicht nur die Arbeiterführer, sondern auch die Arbeiter verloren ihre ursprünglichen revolutionären Ambitionen als die steigende Produktivität der Arbeit die Kapitalexpansion schürte sowie dem Kapital höhere Obwohl die Löhne im Verhältnis zur Produktion

sanken, stiegen sie absolut und verbesserten den Lebensstandard der Masse der Industriearbeiter in den die Kapitalentwicklung wurde durch Außenhandel und koloniale Ausbeutung beschleunigt. Dies begünstigte den Aufstieg einer «Arbeiteraristokratie». Der Prozeß wurde durch Krisen und Depressionen periodisch unterbrochen, die, obwohl unkontrolliert, als koordinierende Faktoren in den kapitalistischen Sanierungsprozessen fungierten. Langfristig bewirkte die doppelte Forcierung der Kapitalexpansion durch die Arbeiterklasse und die kapitalistische Konkurrenz eine Interessensidentität vonArbeiterkoorganisationen und Kapitaleigentümern. Es gab natürlich Organisationen, die sich gegen die Integration der Arbeiterbewegung in die kapitalistische Struktur sperrten. Sie interpretierten Reformen als Schritte zur Revolution und versuchten, an kapitalistischen Aktivitäten teilzuhaben und gleichzeitig an einem revolutionären Ziel festzuhalten. Sie sahen in dem Bündnis von Arbeit und Kapital ein befristetes Provisorium, das, solange es dauerte, ertragen bzw. genutzt werden mußte. Doch ihre Halbherzigkeit in Fragen der Kollaboration mit anderen Ländern hinderte sie daran, organisatorische Bedeutung zu erlangen; dies wiederum ließ sie die Spontaneität betonen. Linksradikale Sozialisten und Syndikalisten gehören in diese Kategorie. Einige Länder besitzen einen höheren Lebensstandard als andere, hohen Löhnen einiger Gruppen stehen niedrige Löhne anderer Gruppen gegenüber. Egalisierende Momente im Konkurrenzkapitalismus schalten besondere Interessen und Privilegien in tendenziell aus. So wie die Kapitalisten dem Nivellierungsprozeß durch Monopolisierung zu entkommen suchen, so streben organisierte Arbeitergruppen danach, die von ihnen errungenen Positionen, ungeachtet der Klassenbedürfnisse der ganzen Arbeiterschaft, abzusichern. Diese besonderen Interessen sind im Begriff, «nationale» Interessen zu werden. Indem sie ihre politischen und ökonomischen Organisationen verteidigen, die ja ihre sozioökonomischen Privilegien garantieren, verteidigen die Arbeiter nicht nur diese bestimmte Stufe kapitalistischer Entwicklung, sondern auch die imperialistische Politik ihrer Nation.

IV Zur Erhaltung des Status quo bedarf es einer

grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Die gegenwärtige Reorganisation der gesellschaftlichen Klassenstruktur hat totalitären Charakter. Auch die Ideologie, als Vorbedingung und Ergebnis dieser Reorganisation, zeigt totalitäre Züge. Im Versuch zu überleben, werden selbst nicht-totalitäre Organisationen totalitär. In totalitären Nationen handeln die Arbeiterorganisationen ausschließlich im Sinne der herrschenden Klasse; in «demokratischen» Ländern tun sie das ebenfalls, wenn auch weniger offensichtlich und mit einer anderen Ideologie. Offenbar gibt es keine Möglichkeit, diese Organisationen durch neue mit revolutionärem Charakter zu ersetzen - eine hoffnungslose Situation für all jene, die die neue Gesellschaft innerhalb der alten organisieren wollen, und für diejenigen, die noch an eine Verbesserung im Status quo glauben, da nunmehr alle Reformen totalitär durchgesetzt werden. Bürgerliche Demokratien mit den Bedingungen des «Laissez-faire» – d. h. eine gesellschaftliche Situation, in der Arbeiterorganisationen traditionellen Typs sich entwickeln konnten – existieren entweder nicht mehr oder sterben aus. So hat die Debatte über die Frage von Organisation und Spontaneität, die die alte Arbeiterbewegung nachhaltig beschäftigte, an Bedeutung verloren. Sowohl die Organisationen, die sich auf die Spontaneität verlassen, als auch die, die sie zu überwinden suchen, verschwinden allmählich. Die Propaganda für neue Organisationen erweckt nicht mehr als die Hoffnung, daß sie spontan entstehen werden. Wie die Anhänger der Spontaneität sind auch die Befürworter der Organisationen zu «Utopisten» geworden angesichts der sich herausbildenden totalitären Realität. Die Existenz des bolschewistischen Rußland scheint für einige die Behauptung, die alte Arbeiterbewegung sei verschwunden, sowie das Argument, die Diskussion um Spontaneität und Organisation sei angesichts veränderter gesellschaftlicher Bedingungen bedeutungslos geworden, zu widerlegen. Immerhin kamen diejenigen, die auf Organisation Wert legten, in der Sowjetunion zu ihrem Recht und üben noch heute im Namen des Sozialismus ihre Macht ihrer Theorie, ebenso wie die reformistischen Organisationen, die zu Regierungsparteien geworden sind, so z. B. die British Labour Party. Sie verstehen sich in ihrer gegenwärtigen Stellung nicht als Teil des totalitären Kapitalismus, sondern als Vorstufe zu Sozialismus. Die Labour-Regierung und die sie unterstützen- den Organisationen machen jedoch deutlich, daß die alte Arbeiterbewegung an ihrem organisatorischen Erfolg gestorben ist. Es ist ganz 43

offensichtlich, daß die einzige Sorge der Labour Party die Aufrechterhaltung des Status quo ist. Zwar ist ihr nach wie vor daran gelegen, das politische System und seine Regierungsstruktur zu erneuern; aber die Verteidigung ihrer eigenen Existenz fällt inzwischen mit der Verteidigung des Kapitalismus zusammen. Den Kapitalismus verteidigen heißt, die Konzentration und Zentralisation ökonomischer und politischer Macht, die sich z. B. als «Verstaatlichung» der Schlüsselindustrien tarnt, fortsetzen und intensivieren. Die Verstaatlichung zieht Wandlungen Kapitals und des Staates sichern und ausweiten; die Arbeiterbewegung wird in einem sich entfaltenden Netz totalitärer Organisationen gefangen, die niemandem außer den herrschenden Gruppen dienen. Wenn Organisationen wie die der britischen nicht an revolutionäre Zielsetzungen knüpfen, dann liegt das nicht an ihrer «demokratischen Ideologie», die ihnen verbietet, anders als per Mehrheitsbeschluß zu wirklicher Macht zu gelangen; diese Organisationen, nur der Terminologie nach «demokratisch», zeichnen sich vielmehr selbst durch eine Bürokratie aus, die der kapitalistisch-demokratischen Struktur sehr ähnlich ist und die die Herrschaft der Kapitaleigner zur Voraussetzung hat. Auch fürchten sie die Macht ihrer kapitalistischen Gegner nicht; ihr Konservativismus hängt unmittelbar mit ihren eignen organisatorischen Interessen zusammen, die eng mit der vor-totalitären Phase der kapitalistischen Entwicklung verbunden sind. Die totalitäre Entwicklung solcher Organisationen ist ein Abbild der Umwandlung der liberalen in die autoritäre Gesellschaft. Es ist ein langsamer und widersprüchlicher Prozeß, der innerorganisatorische Auseinandersetzungen und Kämpfe gegen konkurrierende politische Bewegungen impliziert. Die internationale Expansion des Kapitals kombiniert monopolistische und nationalistische Interessen; wenige Nationen oder Machtblöcke monopolisieren die Weltwirtschaft. Die unmittelbare Kontrolle über Produktion und Markt wird von den stärksten Nationen weltweit ausgeübt. Unter diesen Umständen unterstützt die Arbeiterbewegung die Kapitalexpansion nicht mehr indirekt durch den Kampf um eigene Gruppeninteressen; sie muß eine «nationale» Bewegung werden und an der Reorganisation der Weltwirtschaft im Einklang mit den sich verändernden Machtverhältnissen teilnehmen. Durch Traditionen und festgesetzte Interessen gehemmt, hat die Arbeiterbewegung es allerdings schwer, sich von einer Stütze des Nationalismus 44

in eine treibende Kraft des Imperialismus zu verwandeln. Neue politische Bewegungen entstehen, die diese Unbeweglichkeit ausnutzen und, wenn möglich, die Arbeiterbewegung durch eine «nationalsozialistische» Bewegung ersetzen. Die «national-sozialistische» Bewegung ist «national» nur im Interesse des Imperialismus. Der bürgerliche «Internationalismus», d. h. der freie Weltmarkt, war eine Fiktion. Er war «frei» nur in dem Sinne, daß er frei von der Konkurrenz mit den führenden Industrienationen und internationalen Konzernen war. Kapitalexpansion schränkte einerseits Konkurrenz ein, um sie andererseits auszuweiten. Alte monopolistische Positionen wurden zugunsten neuer monopolistischen Konstellationen zerstört. Während monopolistische Eingriffe in den «freien» Weltmarkt die kapitalistische Expansion erschwerten, zwang sie zur gleichen Zeit neu entstehende Nationen zu eigenen monopolistischen Wettbewerbsbeschränkungen, um sich einen Platz in der Weltwirtschaft zu sichern. Der Kampf um den Eintritt in den «freien« Weltmarkt und der Versuch, Emporkömmlinge auszuschalten, beschleunigten die allgemeine kapitalistische Entwicklung auf Kosten einer wachsenden Disproportionalität der gesamten Ökonomie. Der Widerspruch zwischen den entfesselten gesamtgesellschaftlichen Produktivkräften, der privat und national begrenzten Organisation des Welthandels und der Weltproduktion wuchs mit dem kapitalistischen Fortschritt. Da die Konkurrenzsituation eine Begrenzung der stetig wachsenden Produktivkräfte nicht zuließ, wurden die Veränderung der Weltwirtschaft und die Umverteilung der ökonomischen Macht von Krisen und Kriegen begleitet. Dies belebte wiederum den Nationalismus, obgleich alle politischen und ökonomischen Prozesse von der kapitalisch organisierten Weltwirtschaft determiniert sind. Nationalismus bildet hier lediglich das Instrument für Konkurrenz in größerem Maßstab; er ist der «Internationalismus» der kapitalistischen Gesellschaft. Proletarischer Internationalismus beruhte auf der «freien Handels». Er begriff die internationale Entwicklung als quantitative Ausdehnung der schon bekannten nationalen. So wie der kapitalistische Unternehmer überwand die Arbeiterbewegung die nationalen Grenzen, ohne jedoch Ihre Form einzige qualitative Veränderung, die im Zuge der quantitativen Wandlungen erwartet werden konnte, war die proletarische Revolution. Die These gründete auf der Theorie der Polarisierung der Gesellschaft,

was bedeutet, daß eine immer kleinere Zahl von Herrschenden einer stetig wachsenden Masse von Beherrschten gegenübersteht. Logischerweise könnte dieser Prozeß entweder zur Absurdität oder zur gesellschaftlichen Expropriation der individuellen Ausbeuter führen. Wenn der Kampf um den Preis der Ware Arbeitskraft als Ergebnis der Herausbildung proletarischen Klassenbewußtseins und der Herstellung einer objektiven Grundlage für den Sozialismus betrachtet wurde, dann mußte auch der gesamte kapitalistische Konzentrationsprozeß als notwendiger Entwicklungsschritt in Richtung auf die neue Gesellschaft begrüßt werden. Großangelegtes Unternehmertum, Kartellbildung, Trustbildung, Finanzkontrolle, staatliche Eingriffe, Nationalismus, selbst Imperialismus wurden als Anzeichen dafür genommen, daß die kapitalistische Gesellschaft zur sozialistischen Revolution «heranreifte». Das bewog die Reformisten anzunehmen, die legal gewonnene Regierungsmacht sei eine ausreichende Bedingung für gesellschaftliche Veränderung, und erweckte bei den Revolutionären die Hoffnung, daß der Sozialismus selbst unter weniger «reifen» Verhältnissen durch die Eroberung der Regierungsmacht institutionalisiert werden könnte. Die Streitigkeiten zwischen Bolschewisten und Sozialisten bezogen sich auf taktische Probleme; sie berührten nicht ihre grundsätzliche Übereinstimmung, daß das «letzte Stadium» des Kapitalismus durch die übernahme der Regierungsgewalt in den Sozialismus überführt werden könnte. Während die Sozialisten den Gang des «Fortschritts» abzuwarten schienen, der ihnen die Regierungsmach von selbst in die Hand geben würde, waren die Bolschewisten darauf aus, diesen «Fortschritt» selbst voranzutreiben. Die Niederlage Rußlands im Ersten Weltkrieg und die Notwendigkeit, das Land zu «modernisieren», um seine nationale Unabhängigkeit zu sichern, führten zum Zusammenbruch des Zarismus und zu einer Revolution, die die «Progressiven» an die Macht brachte. Der aggressivere Flügel der sozialistischen Bewegung konzentrierte bald die Macht in seinen Händen. Um den Aufbau des Sozialismus zu beschleunigen, zwangen die Bolschewisten die Bevölkerung zur strikten Einhaltung ihres politischen Programms. Aus ihrer Sicht war es gleichgültig, ob ihre Entscheidungen noch kapitalistischen Charakter hatten, solange sie mit der allgemeinen Entwicklung zum Staatskapitalismus im Einklang standen, solange sie zur Erweiterung der Produktion und zur Stabilisierung der bolschewistischen Regierung beitrugen, die als Garantie für die endgültige

Errichtung eines von oben betrachtet wurde. Es ging darum, eine revolutionäre bolschewistische Regierung zu installieren und deren revolutionären Charakter durch rigide Indoktrinierung ihrer Mitglieder mit einer grundsätzlich gleichbleibenden Ideologie zu bewahren. Diktatur des Staates, von Parteidiktatur und einem hierarchischen Privilegiensystem unterstützt, galt als der erste wichtige Schritt zur Verwirklichung des Sozialismus. Neben der Ausdehnung monopolistischer Kontrolle, den staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und den organisatorischen Anforderungen des modernen Imperialismus gab es in allen Ländern eine Neigung zu totalitärer Herrschaft, besonders in solchen, die unter mehr oder weniger permanenten Krisen litten. Kapitalistische Krisen, wenn auch international treffen verschiedene Länder unterschiedlich hart. Es gibt «ärmere» und «reichere» Länder in bezug auf Kapital, Rohstoffe, Menschen und Geldreserven. Krisen und Kriege bewirken in der Regel eine Umverteilung der Machtpositionen und neue Trends in der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung; sie können entweder Ausdruck bereits verwirklichter Machtverlagerung oder das Instrument ihrer Realisierung sein. Der Konkurrenzkampf verallgemeinert organisatorische Neuerungen, wenn auch nicht überall in gleicher Weise. In einigen Ländern tragen die neuen Formen gesellschaftliche Kontrolle, von hoher Kapitalkonzentration eingeleitet, vorwiegend ökonomischen Charakter, während sie in anderen ein politisches Phänomen sind. Tatsächlich mag es in Ländern mit hoher Kapitalkonzentration eine weiter fortgeschrittene zentralistische Kontrolle geben, was freilich die weniger zentralistisch organisierten Nationen die Kapazität ihrer politischen Kontrollorgane auszuweiten zwingt. Ein faschistisches Regime entsteht aus internen gesellschaftlichen gegenüber stärkeren kapitalistischen Nationen mittels polistisch-organisatorischer Massnahmen zu kompensieren. Das politisc autoritäre Regime ist ein Ersatz für ein «frei» entwickeltes, zentralistisch organisiertes Entscheidungssystem. Wenn Totalitarismus eine Folge von Wandlungen innerhalb der Weltwirtschaft ist, dann ist er verantwortlich für die inzwischen weltweite Tendenz, ökonomische Macht durch politisch-organisiatorische Mittel zu ergänzen. Daher kann die Entwicklung des Totalitarismus nur im Kontext der kapitalistischen Welt verstanden werden. Bolschewismus, Faschismus und Nazismus sind keine unabhängigen nationalen Phänomene, sondern nationale Reaktionen auf veränderte Formen des Weltwettbewerbs, so wie 45

der Trend zum Totalitarismus in «demokratischen» Nationen zum Teil eine Antwort auf den Druck für oder gegen imperialistische Handlungen ist. Selbstverständlich sind nur die größeren kapitalistischen Länder unabhängige Konkurrenten um die Weltmacht, die kleineren Nationen passen sich lediglich der gesellschaftlichen Struktur der dominierenden Mächte an. Dennoch entwickelte sich die totalitäre Struktur der modernen Gesellschaft nicht da, wo sie zuerst erwartet wurde, nämlich wo eine starke Konzentration ökonomischer Macht vorhanden war, sondern in den schwächeren Nationen. Die im Westen geschulten Bolschewisten sahen im letzten Stadium der kapitalistischen Entwicklung, dem Staatskapitalismus, das Tor zum Sozialismus. Dieses Ziel durch politische Mittel zu erreichen, erforderte ihre Diktatur; sie mußten totalitaristisch sein. Die faschistische Regime Deutschlands, Italiens und Japans markieren den Versuch, fehlende kapitalistische Macht durch Organisation zu kompensieren, um einen Zugang zum erweiterten ökonomische Entwicklung sie daran gehindert hat, ihren Anteil an der Weltausbeutung auszudehnen oder zu behalten. So gesehen, bewegt sich die gesamte kapitalistische Entwicklung auf den Totalitarismus zu; dies wurde mit dem Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts offensichtlich. Das Medium seiner Verwirklichung sind Krisen, Kriege und Revolutionen. Er beschränkt sich nicht auf spezielle Klassen oder besondere Nationen, sondern umfaßt die gesamte Weltbevölkerung. Man kann also sagen, daß ein «voll entwickelter» Kapitalismus ein in totalitärer Weise zentralistisch kontrollierter Weltkapitalismus sein würde. Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war «unterentwickelt», von seiner feudalistischen Vergangenheit noch nicht völlig emanzipiert. Der Kapitalismus, der lediglich die monopolistische Stellung einer bestimmten Form der Ausbeutung in Frage stellte, konnte sich innerhalb der alten Gesellschaft entfalten; er griff nach der Staatsmacht, um feudalistische Beschränkungen zu durchbrechen und kapitalistische Freiheiten einzusetzen. Die Kapitalisten waren gänzlich davon in Anspruch genommen, den Welthandel auszudehnen, die Industrie zu entfalten und Kapital zu akkumulieren. Ihr Hauptinteresse galt der «wirtschaftlichen» Freiheit und solange der Staat ihre ausbeuterische gesellschaftliche Stellung unterstützte, interessierten sie sich weder für seine Zusammensetzung noch für seine Autonomie. 46

Die relative Unabhängigkeit des Staates war jedoch kein wesentliches Charakteristikum des Kapitalismus, sondern lediglich Ausdruck kapitalistischen Wachstums innerhalb noch unfertiger kapitalistischer Bedingungen. Die Weiterentwicklung des Kapitalismus implizierte die Kapitalisierung des Staates. Was der Staat an Unabhängigkeit verlor, gewann er an Macht; was die Kapitalisten an den Staat verloren, gewannen sie an zunehmender Kontrolle. Mit der Zeit gingen die Interessen des Staates und des Kapitals zusammen ein Anzeichen dafür, daß die kapitalistische Produktionsweise und ihre Wettbewerbspraxis nunmehr allgemein anerkannt waren. Der auf nationaler Ebene organisierte Kapitalismus machte die Unterdrückung von Opposition und die Kapitalisierung der gesamten Gesellschaft, der Arbeiterbewegung eingeschlossen, offensichtlich. Daß die Kapitalisierung der Arbeiterbewegung bereits vollzogen war, wurde deutlich in ihrem steigenden Interesse am Staat als einem Instrument zur Emanzipation. «Revolutionär» sein hiess, dem engen Gewerkschaftsbewußtsein der Periode des Manchester-Kapitalismus entkommen, um die Staatsmacht kämpfen und deren Wichtigkeit durch Ausdehnung der Macht auf immer weitere gesellschaftliche Bereiche vergrößern. Die Verschmelzung von Staat und Kapital bedeutete gleichzeitig die Verschmelzung beider mit der organisierten Arbeiterbewegung. System, in dem die Verschmelzung von Kapital, Arbeit und Staat durch die politische Initiative des radikalen Flügels der alten Arbeiterbewegung zustande gebracht wurde. In Lenins Augen war die Bourgeoisie selbst nicht mehr in der Lage, die Gesellschaft zu «revolutionieren»; die Zeit für eine kapitalistische Revolution im traditionellen Sinne war vorbei. Die imperialistische Phase des Kapitalismus zwang rückständige Nationen, einen Ausgangspunkt für ihre Entwicklung zu akzeptieren, der unter «Laissez-faire»-Bedingungen als das Ende von Konkurrenzverhältnissen betrachtet worden war, um einen kolonialen Status zu vermeiden. Rückständige Nationen konnten sich nicht durch traditionelle Mittel kapitalistischer Entwicklung befreien, sondern nur durch politische Kämpfe bolschewistischer Manier. Die bolschewistische Partei griff nicht das kapitalistische System der Ausbeutung, sondern seine Beschränkung auf bestimmte Gruppen von Unternehmern und Finanziers an; sie eignete sich die Kontrolle über die Produktionsmittel durch die Kontrolle über den Staat an. Es war nicht nötig, sich dem historischen Schema des Geldverdienens und der

Kapitalanhäufung anzupassen, um gesellschaftliche Machtposition zu erlangen; Ausbeutung beruhte nicht auf «Laissez-faire»-Bedingungen, sondern auf der Kontrolle über die Produktionsmittel. Unter einem einheitlichen und zentralisierten Kontrollsystem sollte der Vergangenheit unter der indirekten Kontrolle durch den Markt und sporadischen Eingriffen des Staats. Die Initiierung des Totalitarismus in Rußland durch die radikale Arbeiterbewegung erklärt sich aus der Nähe zu Westeuropa, wo sich ähnliche Prozesse abspielten, allerdings auf erkennbar reformistische, auf nicht revolutionäre Weise. In Japan ging die Initiative vom Staat aus, sie nahm einen anderen Charakter an, indem die alte herrschende Klasse zum neuen Vollstrecker staatlicher Politik gemacht wurde. In Westeuropa hatten die Kapitalisierung der alten Arbeiterbewegung Kriegsjahre ein Stadium erreicht, das diese Bewegung jeglicher Initiative zu gesellschaftlicher Veränderung beraubte; sie vermochte die soziale Stagnation, die der Krieg verstärkt hatte, ohne radikale Wandlung ihrer selbst nicht zu überwinden. Versuche der Bolschewisierung scheiterten. Im Gegensatz zur russischen besaß die westliche Bourgeoisie eine größere Flexibilität innerhalb der «progressiven» demokratischen Institutionen und operierte auf einer breiteren und geschlossenen gesellschaftlichen Basis. Es war Deutschland, das kapitalistisch am weitesten entwickelte Land, das im Ersten Weltkrieg eine Niederlage erlitt, wo sich der Faschismus zuletzt entfaltete. Der Bolschewismus hatte indes den Weg zur Macht über die Parteiaktivität gewiesen. In der UdSSR wurde totalitäre Kontrolle durch die Partei demonstriert - die Möglichkeit eines Parteikapitalismus. Neue politische Parteien, teils bürgerlich, teils proletarisch, mit nationalistisch-imperialistischen Ideologien und mehr oder weniger konsistenten staatskapitalistischen Programmen entstanden und traten den alten Organisationen als neue Kräfte entgegen. Mit einer eigenen Massenbasis, die sich aufgrund der unlösbaren Krise ständig vergrößerte, mit weniger Achtung vor Gesetz und Tradition und mit der Unterstützung all jener, die auf eine imperialistische Lösung der Krisenbedingungen drängten; wurde es den neuen Parteien zunächst in Italien und später in Deutschland möglich, die alten Organisationen zu besiegen. Selbst in den USA, der stärksten kapitalistischen Nation, versuchte man während der Weltwirtschaftskrise, die neu hinzugewonnene Autorität des Staates durch eine Massenunterstützung der staatlich dirigierten Klassenkollaborationspolitik zu gewährleisten.

Der Zusammenbruch der faschistischen Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg änderte nichts am Totalitarismus. Obwohl die Unabhängigkeit der besiegten Nationen gebrochen ist, besteht ihre autoritäre Struktur fort; nur diejenigen Momente des Totalitarismus, die unmittelbar mit ihrer unabhängigen Kriegführung verbunden waren, wurden zerstört bzw. den Bedürfnissen der Sieger unterworfen. Obwohl die Machtpositionen sich verlagert haben und neue Methoden gebraucht werden, gibt es heute mehr autoritäre Regierungssysteme als vor dem Krieg. Selbst «siegreiche» Nationen wie England und die besiegten Nationen nach dem Ersten Weltkrieg. Es scheint, daß sich die gesamte Entwicklung Mitteleuropas zwischen den beiden Weltkriegen in England und Frankreich wiederholen wird. Der Totalitarismus beschränkt sich jedenfalls nicht mehr auf die politischen Ziele neuer Organisationen, sondern wird von allen aktiven politischen Kräften geübt. Bestehende Organisationen übernehmen totalitäre Methoden, um internen faschistischen oder bolschewistischen Tendenzen standhalten zu können. Da alle inneren Rivalitäten imperialistische Konkurrenz widerspiegeln, treiben Rüstung und Expansionsprogramm die Gesellschaft dem Totalitarismus in die Hände. Da der Staat immer mehr Kontrolle über Gesellschaft und Wirtschaft gewinnt, verlangt die Verteidigung privater und monopolistischer Interessen die Stärkung ihrer zentralistischen Position. Das bedeutet, daß die gesellschaftlichen Kräfte, die in beiden Weltkriegen freigesetzt wurden und nach Lösungen im Rahmen des Status quo suchen, sämtlich dazu neigen, einen totalitären Kapitalismus zu entwickeln und zu unterstützen. Unter solchen Bedingungen ist eine Wiederbelebung der Arbeiterbewegung der Vergangenheit oder ihre Fortführung dort, wo sie noch ansatzweise existiert, ausgeschlossen. Alle, wie auch immer gearteten, erfolgreichen Bewegungen werden autoritären Prinzipien folgen. Gleichgültig, ob gesellschaftliche Kontrolle in der Form staatsmonopolistischer Allianzen, des Faschismus oder des Parteikapitalismus ausgeübt wird, das Ausmaß der Macht in den Händen der Herrschenden zeigt das Ende des»Laissez-faire« und die Ausdehnung des totalitären Kapitalismus an. Es ist unwahrscheinlich, daß der Kapitalismus je eine absolute totalitäre Gestalt annehmen wird; er war auch niemals ein «Laissezfaire»-System im vollen Sinne des Wortes. Derlei Begriffe bezeichnen lediglich die dominierende gesellschaftliche Praxis innerhalb einer Vielzahl gesellschaftlicher Praktiken und 47

Unterschiede in der Organisierung der herrschenden Praxis. Es ist jedoch offensichtlich, daß die neue Macht des Staates, der hochentwickelte Kapitalismus, die moderne Technologie, die neue Struktur der Weltwirtschaft, die Periode imperialistischer Kriege usf. zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Status quo eine gesellschaftliche Organisation ohne wirkungsvolle Opposition voraussetzen, d.h. eine umfassende zentralistische Kontrolle über die gesellschaftlich relevante Tätigkeit der Menschen.

V Wenn auch das Ende der alten Arbeiterbewegung die Frage nach Organisation und Spontaneität zumindest in bezug auf diese Bewegung und ihre Kontroversen belanglos gemacht hat, so behält sie gleichwohl im Problemen der vergangenen Arbeiterorganisationen, eine Bedeutung. So wie revolutionäre Ausbrüche müssen auch Krisen und Kriege unter dem Aspekt spontaner Ereignisse betrachtet werden. Allerdings hat man mehr Wissen und Erfahrung in Hinblick auf Kriege und Krisen denn auf Revolutionen gesammelt. Im Kapitalismus sind die Systematisierung der grundlegenden gesellschaftlichen Anforderungen an die Produktion und dieAufteilung der gesellschaftlichen Arbeit zur Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse weitgehend dem Marktautomatismus überlassen. Monopolistische Praktiken sprengen diesen Mechanismus; doch selbst ohne solche Störungen kann diese Form sozioökonomischer Bedürfnissen des Kapitalismus dienen. Die indirekte Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage, wie sie durch den Marktmechanismus hergestellt wird, ist bestimmt. Die bewußt eingesetzten «Ordnungs»prinzipien der Monopole, die ausschliesslich ihre eigenen besonderen Interessen betreffen, steigern die Irrationalität des gesamten Systems. Auch die staatskapitalistische Planung dient zuallererst der Sicherung ihrer herrschenden und privilegierten Gruppen sowie deren Bedürfnissen, nicht den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft. Da die

unterscheiden sich die tatsächlichen Ergebnisse ihrer Entscheidungen von ihren Erwartungen; das gesellschaftliche Ergebnis verschiedener individualistisch bestimmter Entscheidungen kann die gesellschaftliche Stabilität beeinträchtigen und 48

die Intentionen, die hinter den Entscheidungen standen, zunichte machen. Nur einige wenige der gesellschaftlichen Konsequenzen individualistischer Aktionen sind kalkulierbar. Private Interessen machen jede Organisation, die eine angemessene Sicherheit bezüglich der Hauptkonsequenzen ihrer Aktionen bieten könnte, unmöglich. Dies hat Spannungen, Disproportionalitäten, Verzögerungen bei zwischen alten und neuen Interessen, zu Krisen und Depressionen führt, die zumeist als spontane Prozesse erscheinen, weil eine Organisation. fehlt, die sich von einem klassenlosen Standpunkt aus mit der Gesellschaft und ihren wirklichen Bedürfnissen auseinandersetzen könnte. Es gibt keine Möglichkeit innerhalb des Status quo gesellschaftliche Tätigkeit im Interesse der Gesamtgesellschaft zu organisieren. Neue Organisationen sind vorab Ausdruck sich wandelnder Klassenpositionen; sie lassen das grundlegende Klassenverhältnis unangetastet. Alte herrschende Minderheiten werden durch neue herrschende Minderheiten ersetzt, die proletarische Klasse ist in zahlreichen Statusgruppen zerfallen, Teile der Mittelklasse verschwinden, andere Teile gewinnen an Tätigkeit, wenn überhaupt gesellschaftlich, nur der Wirkung, nicht aber der Anlage nach gesellschaftlich ist – sozusagen zufällig –, gibt es auch keine gesellschaftliche Kraft, deren Wachstum die Anarchie verringern und ein Bewusstsein von gesellschaftlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten schaffen könnte, die in gesellschaftlicher Selbstbestimmung und einer wirklichen sozialen Struktur sich ausdrückten. Es ist die Vielzahl, die Verschiedenheit der Organisationen im Kapitalismus, die eine Organisierung der Gesellschaft verhindern. Das bedeutet nicht nur, dass die unkoordinierten und widersprüchlichen Aktivitäten zu erwarteten oder unerwarteten Krisen führen müssen, sondern auch, dass menschliche Tätigkeit, organisierte wie unorganisierte, für spontane «Ausbrüche» beispielsweise in Krisen haftbar gemacht wird. Kriege erscheinen dann als spontane Ausbrüche und als organisierte Unternehmen, Die Schuld an ihrem Ausbruch wird bestimmten Nationen, Regierungen, Pressure-groups, Monopolen, Kartellen und Trusts aufgebürdet. Die Schuld an Kriegen und Krisen einzelnen Organisationen und ihrer Politik zuschreiben heißt jedoch, das wirkliche Problem verkennen, und zeigt die Unfähigkeit, ihm wirksam zu begegnen. So verbreitet man die Illusion, daß andere Organisationen und eine andere Politik im Rahmen des Status quo möglicherweise derlei gesellschaftliche

Katastrophen hätten verhindern können. «Status quo» ist aber nur ein anderer Ausdruck für Krise. Selbstverständlich gab es eine Art «Ordnung» im Kapitalismus, auch einen bestimmten Entwicklungstrend, der auf dieser «Ordnung» beruhte. Dafür sorgte die wachsende Produktivität der Arbeit. Zunehmende Produktivität in einer oder mehreren Produktionssphären bewirkte eine allgemeine gefolgt von der Umbildung der sozioökonomischen Verhältnisse. Diese Veränderungen schienen in den politischen Verhältnissen auf und stifteten eine mehr oder weniger widerspruchsvolle Beziehung zwischen der Klassenstruktur und den Produktivkräften der Gesellschaft. Was sind die Produktivkräfte? Offensichtlich Arbeit, Technologie und Organisation; weniger Ideologie. Mit anderen Worten: Produktivkräfte sind menschliche Tätigkeiten, nicht etwas Äußerliches, das menschliche Tätigkeit bestimmt. Daher muß nicht jede Entwicklungslinie stringent verfolgt werden. Gesellschaftliche Situationen können stillgestellt werden, und es können Bedingungen geschaffen werden, die das zerstören, was vorher aufgebaut wurde. Aber wenn das «gesellschaftliche Ziel» die Ausweitung und Fortführung der vorangegangenen Entwicklung gewesen wäre, so wäre Geschichte tatsächlich Geschichte des gesellschaftlichen Fortschritts durch die Entfaltung der produktiven Kapazität. Die Entstehung des Kapitalismus hatte eine bestimmte Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, eine Zunahme der Mehrarbeit und die Fähigkeit, eine wachsende nicht-produzierende Klasse zu versorgen, zur Voraussetzung. Vom «Wachstum der Produktivkräfte» als dem entscheidenden Faktor der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung zu sprechen, war im Zeichen des Warenfetischismus des «Laissezfaire»- Kapitalismus durchaus am Platze, denn hier schien es, als ob sich die «Produktivkräfte» unabhängig von kapitalistischen Wünschen und Notwendigkeiten entwickelten. Der Akkumulationszwang ließ die Produktivkräfte sich rasch entfalten, ihre Steigerung erlaubte die ständige Reorganisation der sozioökonomischen Struktur, woraus immer neue Anstöße zu einer weiteren Verstärkung gesellschaftlicher Produktivität kamen. Es wurde gesagt, daß der Kapitalismus, historisch gesehen, sich durch die blinde, aber fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte legitimiert habe, als deren größte das moderne Industrieproletariat anzusehen sei. Obwohl es so scheinen könnte,

daß die totale Entfaltung der gesellschaftlichen Produktionskapazität die Herausbildung einer klassenlosen Gesellschaft befördern werde, steht fest, daß die unmittelbar privilegierte Klasse ihre Macht Besitzer und Kontrolleure der Produktion in dieser Sache nicht als «Klasse» handeln; eine «Revolution durch Übereinstimmung» ist Unsinn. Akkumulation um der Akkumulation willen besteht fort und führt zu weiterer Kapital- und Machtkonzentration, d. h. auch zu Kapitaldestruktion, zu Krisen, Depressionen und Kriegen, da die Produktivkräfte vom Kapitalismus gleichzeitig entfaltet und gebremst werden, was die Kluft zwischen tatsächlicher und potentieller Produktion ausdehnt. Der Widerspruch zwischen der Klassenstruktur und den Produktivkräften schließt sowohl die Bescheidung mit dem gegebenen Produktionsniveau als auch seine Erweiterung zu Wenn nicht aus anderen Gründen, so jedenfalls aus der Macht der Gewohnheit scheint die unmittelbare Zukunft durch das Wachstum der Produktivkräfte gekennzeichnet zu sein. Daraus resultiert eine Verschärfung der Konkurrenz, trotz aller Versuche, die Produktion teilweise oder total zu kontrollieren. Obwohl größere kapitalistische Einheiten sich zahlreiche Unternehmen einverleibt und einstweilen monopolistische Bedingungen für ganze Industrien und Industriezweige gesichert haben, hat dieser Prozeß lediglich den internationalen Wettbewerb nicht-monopolistischen Unternehmen zugespitzt. Im Staatskapitalismus nimmt der Wettbewerb einen anderen, aber umfassenden Charakter an, da die Bevölkerung sowie die Bürokratie selbst, aufgrund ihrer hierarchischen Organisationsstruktur, durch die Staatsmaschinerie vollständig atomisiert werden. Die Anwendung neuer technologischer und organisatorischer Produktivkräfte mündet notwendig in zusätzlichen gesellschaftlichen Kontrollen. Die Desorganisation des Proletariats zeigt den Beginn eines Prozesses an, dessen Endpunkt die totale Atomisierung der Bevölkerung gegenüber dem organisierten Staatsmonopol markiert. An dem einen an dem anderen Pol eine amorphe Menschenmasse, die unfähig ist, sich zu einem Kampf für ihre Interessen zusammenzuschliessen. Insofern sie überhaupt organisiert sind, werden die Massen durch ihre Kontrolleure organisiert; insofern sie sich artikulieren können, gebrauchen sie die Sprache ihrer Herren. In allen Organisationen begegnen die vereinzelten Menschen demselben Feind: dem totalitären Staat. 49

Die Atomisierung der Gesellschaft bedarf einer umfassenden staatlichen Organisation. Die Sozialisten hielten die kapitalistische Gesellschaft in der Produktion, im Austausch und in den außerökonomischen Bereichen für unzulänglich organisiert. Die Betonung der Organisation war die Betonung der gesellschaftlichen Kontrolle. Der Sozialismus sollte die erste vernünftige Organisationsform der Gesellschaft bilden. Eine gründlich organisierte Gesellschaft schliesst indes unvorhersehbare Aktivitäten maximal aus. Spontaneität sollte mit der Planung der Produktion und der zentralistisch bestimmten Distribution der Güter verschwinden. Der Widerspruch zwischen der Klassenstruktur und den Produktivkräften bleibt jedoch bestehen und mit ihm der unausbleibliche Ausbruch von Krisen und Kriegen. Da die apathisch gehaltenen Massen sich dem Totalitarismus nicht länger in traditionell organisierter Form entgegenstellen können, und weil sie keine neuen Kampfmittel und den neuen Aufgaben adäquaten Aktionsweisen hervorgebracht haben, bleiben die Antagonismen der gesellschaftlichen Klassenstruktur ungelöst. Während es zeitweilig Sicherheit spendet, spiegelt das von Grund auf autoritäre System die zunehmende Unsicherheit des totalitären Kapitalismus wider. Die Verteidigung des Status quo verletzt den Status quo, indem sie neue unkontrollierte oder unkontrollierbare Aktivitäten auslöst. Die mächtigsten Kontrollen über Menschen sind tatsächlich schwach, verglichen mit den immensen Widersprüchen, die die heutige Welt spalten. Obwohl alle Widersprüche einer Organisation gegenüberstehen, war die kapitalistische Gesellschaft nie zuvor so schlecht organisiert wie heute - da sie total organisiert ist. Es gibt keine Garantie, daß der Sozialismus aus der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung notwendig hervorgehen muß, noch gibt es Grund zu der Annahme, daß die Welt in totalitärer Barbarei enden wird. Die Organisierung des Status qua kann seine Totalitarismus

gibt,

bestehen

innerhalb

seiner

So wie die moderne Klassenkampftheorie nicht nur der kapitalistischen Entwicklung, sondern auch der tatsächlichen proletarischen Kämpfe innerhalb des kapitalistischen Systems zur Theoriebildung bedarf, so ist es unerläßlich, zunächst die tatsächlichen Aufstandsversuche im Totalitarismus zu beobachten, wirksame Formen des Widerstandes aufzuzeigen und

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auszunutzen. Die scheinbare Hoffnungslosigkeit und Belanglosigkeit, die alle Anfänge charakterisieren, sind kein Grund zur Resignation. Alle gesellschaftlich integrierte Tätigkeit, obwohl ein Mittel der Herrschaft, zieht der Herrschaft gleichzeitig Grenzen. Der von anonymen Kräften und direkten Entscheidungen abhängige Arbeitsprozeß enthält in organisatorischer und technologischer Hinsicht hinreichend Ansatzpunkte, um zentralistische Manipulationen zu erschweren, ja zu verhindern. Die Manipulateure können sich aus den Formen der Arbeitsteilung, die die Macht der zentralistischen Kontrolle oft einschränken nicht befreien; sie können bestimmte Folgen der Industrialisierung nicht auslöschen, ohne ihre eigene Herrschaft zu gefährden. Widerstand wird so in vielfältigen Kombinationen geübt werden, manche werden bedeutungslos, manche selbstzerstörerisch, wieder andere werden erfolgreich sein. Während einige neuen Aktionsformen vielleicht an Gewicht verlieren, werden alte möglicherweise wiederbelebt. Da Gewerkschaftspolitik heute nicht mehr die Artikulation der Interessen der Basis bedeutet, sondern Manipulationen zwischen Sozialpartnern, müssen Industrie und Produktion gefunden werden. Obschon die politischen Parteien den Keim des Totalitarismus in sich tragen, sind zahlreiche Organisationsformen denkbar, die antikapitalistischen Gruppten zu gemeinsamem Vorgehen zusammenzubringen. Sie müssen den Nachdruck auf Selbstbestimmung, Einheit, Freiheit und Solidarität legen. Die Suche nach Mitteln, den Machtlosen zur Selbstbestimmung zu verhelfen, Deformation, Ausbeutung und Kriege zu beenden, eine Rationalität zu begründen, die den Widerspruch von Individuum und Gesellschaft aufhebt und die wirkliche Stellung der Einzelnen im Produktionsprozess erkennt und Fortschritt ohne gesellschaftliche Kämpfe herbeiführt, wird weitergehen. Es scheint freilich, dass Widerstand und Kampf noch eine Zeitlang als spontane Prozesse verstanden werden, obwohl sie in Wirklichkeit geplante Aktivität oder geplante Passivität der Menschen bezeichnen. Der Gegensatz zwischen Spontaneität und Organisation wird so lange bestehen, wie es eine Klassengesellschaft gibt – und den Versuch, sie hinter sich zu lassen.

Autoritärer Staat Max Horkheimer (1940/42) Die historischen Voraussagen über das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft haben sich bewährt. Im System der freien Marktwirtschaft, das die schließlich

zur

mathematischen

Weltformel

die Maschinen, Destruktionsmittel nicht bloß im wörtlichen Sinn geworden: sie haben anstatt Bourgeoisie selbst ist dezimiert, die Mehrzahl der Bürger hat ihre Selbständigkeit verloren; soweit sie nicht ins Proletariat oder vielmehr in die Masse der Arbeitslosen hinabgestoßen sind, gerieten sie in Abhängigkeit von den großen Konzernen oder vom Staat. Das Dorado der bürger-lichen Existenzen, die Sphäre der Zirkulation, wird liquidierte Ihr Werk wird teils von den Trusts verrichtet, die ohne Hilfe der ausschalten und die Generalversammlung in Zucht nehmen. Teils wird das Geschäft vom Staat besorgt. Als caput mortuum des Verwandlungsprozesses der Bourgeoisie ist die oberste industrielle und staatliche Bürokratie übrig geblieben. »So oder so, Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, die Leitung der Produktion übernehmen... Alle gesellschaftlichen Funktionen der Kapitalisten werden jetzt von besoldeten Angestellten versehen... Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten... Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.« [1] Im Übergang; vom Monopolzum Staatskapitalismus ist das letzte, was die bürgerliche Gesellschaft zu bieten hat, »Aneignung der großen Produktions- und Verkehrsorganismen, erst durch Aktiengesellschaften, später durch Trusts, sodann durch den Staat«. [2] Der Staatskapitalismus ist der autoritäre Staat der Gegenwart. Dem natürlichen Ablauf der kapitalistischen Weltordnung ist nach der Theorie ein unnatürliches Ende bestimmt: die vereinigten Proletarier

vernichten die letzte Form der Ausbeutung, die staatskapitalistische Sklaverei. Die Konkurrenz der Lohnarbeiter hatte das Gedeihen der privaten Unternehmer garantiert. Das war die Freiheit der Armen. Einmal war Armut ein Stand, dann wurde sie zur Panik. Die Armen sollten rennen und sich stoßen wie die Menge im brennenden Saal. Der Ausgang war der Eingang in die Fabrik, die Arbeit für den Unternehmer. Es konnte nicht genug Arme geben, ihre Zahl war ein Segen für das Kapital. Im gleichen Maße jedoch, in dem das Kapital die Arbeiter im Großbetrieb konzentriert, gerät es in die Krise und macht ihr Dasein aussichtslos. Sie können sich nicht einmal mehr verdingen. Ihr Interesse verweist sie auf den Sozialismus. Wenn einmal die herrschende Klasse den Arbeiter »ernähren muß, anstatt von ihm ernährt zu werden«, ist die Revolution an der Zeit. Diese Theorie des Endes entspringt einem Zustand, der noch mehrdeutig war; sie ist selbst doppelsinnig: Entweder sie rechnet mit dem Zusammenbruch durch die ökonomische Krise, dann ist die Fixierung durch den autoritären Staat ausgeschlossen, den Engels doch voraussieht. Oder sie erwartet den Sieg des autoritären Staats, dann ist nicht mit dem Zusammenbruch durch die Krise zu rechnen, denn sie war stets durch die beseitigt aber den Markt und hypostasiert die Krise für die Dauer des ewigen Deutschlands. In seiner »ökonomischen Unabweisbarkeit« bedeutet er einen Fortschritt, ein neues Atemholen für die Herrschaft. Die Arbeitslosigkeit wird organisiert. Einzig die schon gerichteten Teile der Bourgeoisie sind am Markt noch wahrhaft interessiert. Großindustrielle schreien heute nach dem Liberalismus nur, wo die etatistische Verwaltung noch zu liberal, nicht völlig unter ihrer Kontrolle ist. Die zeitgemäße Planwirtschaft kann die Masse besser ernähren und sich besser von ihr ernähren lassen als die Reste des Marktes. Eine Periode mit eigener gesellschaftlicher Struktur hat die freie Wirtschaft abgelöst. Sie zeigt ihre besonderen Tendenzen national und international. Daß der Kapitalismus die Marktwirtschaft überleben kann, hat sich im Schicksal der proletarischen Organisationen längst angekündigt. Die Parole der Vereinigung in Gewerkschaften und Parteien war gründlich befolgt, aber diese führten weniger die unnatürlichen Aufgaben der vereinigten 51

Proletarier durch, nämlich den Widerstand gegen die Klassengesellschaft überhaupt, als daß sie den natürlichen Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung zur Massenorganisation gehorchten. Sie fügten sich den Wandlungen der Wirtschaft ein. Im Liberalismus hatten sie sich der Erzielung einigermaßen gesicherter Arbeiterschichten gewann schon kraft ihrer Zahlungsfähigkeit in den Vereinen größeres Gewicht. Die Partei verwandte sich für eine soziale Gesetzgebung, der Arbeiterschaft sollte das Leben im Kapitalismus erleichtert werden. Die Gewerkschaft erkämpfte Vorteile für Berufsgruppen. Als ideologische Rechtfertigung bildeten sich die Phrasen der Betriebsdemokratie und des Hineinwachsens in den Sozialismus aus. Die Arbeit als Beruf: als die Plackerei, wie die Vergangenheit sie einzig kennt, wurde kaum mehr in Frage gestellt. Sie wurde aus des Bürgers Zierde zur Sehnsucht der Erwerbslosen. Die großen Organisationen förderten eine Idee der Vergesellschaftung, die von der Verstaatlichung, Nationalisierung, Sozialisierung im Staatskapitalismus kaum verschieden war. Das revolutionäre Bild der Entfesselung lebte (nur noch in den Verleumdungen der Konterrevolutionäre fort. Wenn überhaupt die Phantasie sich vom Boden der Tatsachen entfernte, setzte sie an Stelle der vorhandenen staatlichen Apparatur die Bürokratien von Partei und Gewerkschaft, an Stelle Noch die Utopie war von Maßregeln ausgefüllt. Die Menschen wurden als Objekte vorgestellt, gegebenenfalls als ihre eigenen. Je größer die Vereine wurden, desto mehr verdankte ihre Führung einer Auslese der Tüchtigsten ihren Platz. Robuste Gesundheit, das Glück, dem durchschnittlichen Mitglied erträglich und den herrschenden Gewalten nicht unerträglich zu sein, der zuverlässige Instinkt gegen das Abenteuer, die Gabe, mit der Opposition umzuspringen, die Bereitschaft, das Verstümmelte an der Menge und an ihnen selbst als Tugend auszuschreien, Nihilismus und Selbstverachtung sind notwendige Eigenschaften. Diese leitenden Männer zu kontrollieren und zu ersetzen wird mit der Vergrößerung des Apparats aus technischen Gründen immer schwieriger. Zwischen der sachlichen Zweckmäßigkeit ihres Verbleibens und ihrer persönlichen Entschlossenheit, nicht abzutreten, herrscht prästabilierte Harmonie. Der führende Mann und seine Clique wird in der Arbeiterorganisation so unabhängig wie in dem anderen, dem Industriemonopol, das Direktoriat von der Generalversammlung. Die Machtmittel, 52

hier die Reserven des Betriebs, dort die Kasse der Partei oder Gewerkschaft, stehen der Leitung im Kampf gegen Störenfriede zur Verfügung. Die Unzufriedenen sind zersplittert und auf die eigene Tasche angewiesen. Im äußersten Fall wird die Fronde geköpft, die der Generalversammlung durch Bestechung, die des Parteitags durch Ausschluß. Was unter der Herrschaft gedeihen will, steht in Gefahr, die Herrschaft zu reproduzieren. Soweit die proletarische Opposition in der Weimarer auch sie dem Geist der Administration. Die Institutionalisierung der Spitzen von Kapital und Arbeit hat denselben Grund: die Veränderung der Produktionsweise. Die monopolisierte Industrie, welche die Masse der Aktionäre zu Opfern und Parasiten macht, verweist die Masse der Arbeiter auf Warten und Unterstützung. Sie haben nicht so viel von ihrer Arbeit wie von der Protektion und Hilfeleistung der Vereine zu erwarten. In den der großen Arbeiterorganisationen heute schon in einem ähnlichen Verhältnis zu ihren Mitgliedern wie im integralen Etatismus die Exekutive zur Gesamtgesellschaft: sie halten die Masse, die sie versorgen, in strenger Zucht, schließen sie gegen unkontrollierten Zuzug hermetisch ab, dulden Spontaneität bloß als Ergebnis ihrer eigenen Mache. Weit mehr noch als die vorfaschistischen Staatsmänner, die zwischen den Monopolisten der Arbeit und der Industrie vermitteln und von der Utopie einer humanitären Version des autoritären Staats nicht lassen können, streben sie nach ihrer Art Volksgemeinschaft. An Rebellionen gegen diese Entwicklung der Arbeitervereine hat es nicht gefehlt. Die Proteste der sich absplitternden Gruppen glichen einander wie ihr Schicksal. Sie richten sich gegen die konformistische Politik der Leitung, gegen das Avancement zur Massenpartei, gegen die unentwegte Disziplin. Sie entdecken früh, daß das ursprüngliche Ziel, die Abschaffung der Beherrschung und Ausbeutung in jeder Form, im Mund der Funktionäre nur noch eine Propagandaphrase ist. Sie kritisieren in den Gewerkschaften den Tarifvertrag, weil er den Streik einschränkt, in der Partei die Mitarbeit an der kapitalistischen Gesetzgebung, weil sie korrumpiert, in beiden die Realpolitik. Sie erkennen, daß der Gedanke an die soziale Umwälzung bei den Instanzen um so stärker kompromittiert wird, je mehr Anhänger sie für ihn werben. Aber die Bürokraten an der Spitze sind kraft des Amtes auch die besseren Organisatoren, und wenn die

Partei bestehen soll, geht es ohne eingespielte Fachleute nicht ab. Überall sind die oppositionellen Versuche gescheitert, die Verbände mitzureißen oder neue Formen der Resistenz auszubilden. Wo die oppositionellen Gruppen nach der Sezession größere Bedeutung erlangten, wandelten sie sich selbst in bürokratische Einrichtungen um. Anpassung ist der Preis, den Individuen und Vereine zahlen müssen, um im Kapitalismus aufzublühen. Selbst jene Gewerkschaften, deren Programm im Gegensatz zu allem Parlamentieren stand, sind mit der Zunahme ihrer Mitgliedschaft von den Extravaganzen des Generalstreiks und der direkten Aktion weit abgekommen. Durch Übernahme eines Munitionsministeriums haben sie schon im Ersten Weltkrieg ihre Bereitschaft zu friedlicher Kooperation dokumentiert. Sogar die Maximalisten blieben nach der Revolution nicht davor bewahrt, daß die schmähliche Soziologie des Parteiwesens am Ende noch recht behielt. Ob Revolutionäre die Macht wie den Raub oder den Räuber ergreifen, zeigt sich erst im Verlauf. Anstatt am Ende in der Demokratie der Räte aufzugehen, kann die Gruppe sich als Obrigkeit festsetzen. Arbeit, Disziplin und Ordnung können die Republik retten und mit der Revolution aufräumen. Wenngleich die Abschaffung der Staaten auf ihrem Banner stand, hat jene Partei ihr industriell zurückgebliebenes Vaterland ins geheime Vorbild jener Industriemächte umgewandelt, die an ihrem Parlamentarismus kränkelten und ohne den Faschismus nicht mehr leben konnten. Die revolutionäre Bewegung spiegelt den Zustand den sie angreift, negativ wider. In der monopolistischen Periode durchdringen sich private und staatliche Verfügung über fremde Arbeit; Auf das private Moment zielt der sozialistische Kampf gegen die Anarchie der Marktwirtschaft, auf das private und staatliche zugleich der Widerstand gegen die letzte Form der Ausbeutung. Der historische Widerspruch, vernünftige Planung und Freiheit, Entfesselung und Regulierung zugleich zu fordern, kann überwunden werden; bei den Maximalisten jedoch hat schließlich die Autorität gesiegt und Wunder verrichtet. Opposition als politische Massenpartei konnte eigentlich nur in der Marktwirtschaft existieren. Der Staat, der infolge der Zersplitterung des Bürgertums einige Selbständigkeit besaß, wurde mittels seiner Parteien bestimmt. Sie verfolgten teils das allgemeine bürgerliche Ziel, die alten Feudalmächte abzuwehren, teils vertraten sie besondere Gruppen. Von der Vermittlung der Herrschaft durch Parteien hat auch die proletarische

herrschenden Klasse, welche die Trennung der Gewalten und die verfassungsmäßigen Rechte der Individuen bedingte, war die Voraussetzung der Arbeitervereine. Die Freiheit der Versammlung gehörte in Europa zu den notwendigen Konzessionen der Klasse ans Individuum, solange die Individuen, aus denen sie bestand, noch nicht unmittelbar mit dem Staat koinzidierten und daher staatliche Übergriffe befürchten mußten. Auch im Anfang wurden bekanntlich die Achtung vor der Person, die Heiligkeit des Hausfriedens, die Unverletzlichkeit des Arrestanten und ähnliche Grundsätze mit Füßen getreten, sobald die Rücksicht auf die eigene wie politischer Insurrektionen und besonders die Kolonialgeschichte sind Kommentare zur bürgerlichen Humanität. Soweit die Koalitionsfreiheit die Proletarier betraf, war sie von Anfang an ein Stiefkind unter den Menschenrechten. »Gewiß soll allen Bürgern erlaubt sein, sich zu versammeln«, sagte der Referent für Arbeitsfragen in der Konstituierenden Versammlung 1791, »aber es soll nicht erlaubt sein, daß sich Bürger bestimmter Berufe zwecks ihrer angeblichen, gemeinsamen Interessen versammeln.« [3] Im Namen der Abschaffung von Zünften und Korporationen haben die Liberalen den Zusammenschluß der Arbeiter erschwert, aber schließlich nicht verhindern können. Außer den Aufgaben bürgerlicher Parteien enthielt das Programm der sozialistischen Vereine noch die Revolution. Sie erschien als das abgekürzte Verfahren dazu, das ideologische Ziel des Bürgertums, den allgemeinen Wohlstand zu verwirklichen. Die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die Überwindung der Kraftund Materialvergeudung des Marktsystems durch Planwirtschaft, die Abschaffung des Erbrechts und so fort waren rationale Forderungen im Zug der Zeit. Die Sozialisten vertraten gegen das Bürgertum seine eigene fortgeschrittenere Phase und strebten schließlich eine bessere Regierung an. Die Einrichtung der Freiheit galt dann als mechanische, selbstverständliche Folge der Eroberung der Macht oder gar als Utopie. Die Richtung auf den autoritären Staat war den radikalen Parteien in der bürgerlichen Ära seit jeher vorgezeichnet. In der französischen Revolution erscheint die spätere Geschichte zusammengedrängt. Robespierre hatte die Autorität im Wohlfahrtsausschuß zentralisiert, das Parlament zur Registrierkammer von Gesetzen herabgedrückt. Er hatte die Funktionen der Verwaltung und Beherrschung in der jakobinischen Parteileitung 53

vereinigt. Der Staat regulierte die Wirtschaft. Die Volksgemeinschaft durchsetzte alle Lebensformen mit Brüderlichkeit und Denunziation. Der Reichtum war fast in die Illegalität gedrängt. Auch Robespierre und die Seinen planten, den inneren Feind zu enteignen, der wohl dirigierte Volkszorn gehörte zur politischen Maschinerie. Die französische Revolution war der Tendenz nach totalitär. Ihr Kampf gegen die Kirche entsprang nicht der Antipathie gegen die Religion, sondern der Forderung, daß auch sie der patriotischen Ordnung sich einzugliedern und zu dienen habe. Die Kulte der Vernunft und des höchsten Wesens sind wegen der Renitenz des Klerus verbreitet worden. Der »Sansculotte Jesus« kündet den nordischen Christus an. Unter den Jakobinern kam der Staatskapitalismus über die blutigen Anfänge nicht hinaus. [4] Aber der Thermidor hat nicht seine Notwendigkeit beseitigt. Sie meldet sich in den Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts stets wieder an. In Frankreich haben die konsequent liberalen Regierungen immer nur ein kurzes Leben geführt. Um der etatistischen Tendenzen von unten Herr zu werden, müßte die Bourgeoisie rasch den Bonapartismus von oben rufen. Der Regierung Louis Blancs ist es nicht besser ergangen als dem Directoire. Und seitdem in der Junischlacht einmal die Nationalwerkstätten und das Recht auf Arbeit nur durch die Entfesselung der Generäle zu unterdrücken waren, hat sich die Marktwirtschaft als immer reaktionärer erwiesen. Setzte Rousseaus Einsicht, daß die großen Unterschiede des Eigentums dem Prinzip der Nation zuwiderliefen, schon seinen Schüler Robespierre in Gegensatz zum Liberalismus, so ließ sich das spätere Wachstum der kapitalistischen Vermögen mit dem allgemeinen Interesse nur noch im nationalökonomischen Kolleg zusammenbringen. Unter den Bedingungen der großen Industrie ging dann der Kampf darum, wer das Erbe der Konkurrenzgesellschaft antritt. Die hellsichtigen Lenker des Staates erfuhren nicht weniger als die Massen hinter den extremen Parteien, Arbeiter und ruinierte Kleinbürger, daß sie erledigt war. Die dunkle Beziehung von Lassalle, dem Begründer der deutschen sozialistischen Massenpartei, und Bismarck, dem Vater des deutschen Staatskapitalismus war symbolisch. Beide steuerten zur staatlichen Kontrolle hin. Regierungen und oppositionelle Parteibürokratien von rechts und links wurden je nach ihrer Stellung im Gesellschaftsprozeß auf irgend eine Form des autoritären Staats verwiesen. Für die Individuen freilich ist es entscheidend, welche Gestalt 54

er schließlich annimmt. Arbeitslose, Rentner, Geschäftsleute, Intellektuelle erwarten Leben oder Tod, je nachdem ob Reformismus, Bolschewismus oder Faschismus siegt. Die konsequenteste Art des autoritären Staats, die aus jeder Abhängigkeit vom privaten Kapital sich befreit hat, ist der integrale Etatismus oder Staatssozialismus. Er steigert die Produktion wie nur der Übergang von der merkantilistischen Periode in die liberalistische. Die faschistischen Länder bilden eine Mischform. Auch hier wird der Mehrwert zwar unter staatlicher Kontrolle gewonnen und verteilt, großen Mengen weiter an die Industriemagnaten Organisation gestört und abgelenkt. Im integralen Etatisinus ist die Vergesellschaftung dekretiert. Die privaten Kapitalisten sind abgeschafft. Coupons werden einzig noch von Staatspapieren abgeschnitten. Infolge der revolutionären Vergangenheit des Regimes ist der Kleinkrieg der Instanzen und Ressorts nicht wie im Faschismus durch Verschiedenheiten der sozialen Herkunft und Bindung innerhalb der bürokratischen Stäbe kompliziert, die dort so viel Reibungen erzeugt. Der integrale Etatismus bedeutet keinen Rückfall, sondern Steigerung der Kräfte, er kann leben ohne Rassenhaß. Aber die Produzenten, denen juristisch das Kapital gehört, »bleiben Lohnarbeiter, Proletarier«, mag noch so viel für sie getan werden. Das Betriebsreglement hat sich über die ganze Gesellschaft ausgebreitet. Spielte nicht die Armut an technischen Hilfsmitteln und die kriegerische Umwelt der Bürokratie in die Hände, so hätte der Etatismus sich schon überlebt. Im integralen Etatismus steht, wenn man von den kriegerischen Verwicklungen absieht, der Absolutismus der Ressorts, für deren Kompetenzen die Polizei das Leben bis in die letzten Zellen durchdringt, der freien Einrichtung der Gesellschaft entgegen. Zur Demokratisierung der Verwaltung bedarf es keiner ökonomischen oder juristischen Maßnahmen mehr, sondern des Willens der Regierten. Der circulus vitiosus von Armut, Herrschaft, Krieg und Armut umfängt sie solange, bis sie ihn selbst durchbrechen werden. Wo auch sonst in Europa Tendenzen im Sinn des integralen Etatismus sich regen, eröffnet sich die Aussicht, daß sie diesmal nicht wieder in bürokratischer Herrschaft sich verfangen werden. Wann es gelingt, ist nicht vorher zu entscheiden und auch nachher durch die Praxis nicht ein für Geschichte nur das Schlechte: die ungewordenen

Möglichkeiten, das versäumte Glück, die Morde mit und ohne juristische Prozedur, das, was die Herrschaft den Menschen antut. Das andere steht immer in Gefahr. In allen seinen Varianten ist der autoritäre Staat repressiv. Die maßlose Vergeudung wird nicht mehr durch ökonomische Mechanismen im klassischen Sinn bewirkt; sie entsteht jedoch aus den unverschämten Bedürfnissen des Machtapparats und aus der Vernichtung jeglicher Initiative der Beherrschten: Gehorsam ist nicht so produktiv. Trotz der sogenannten Krisenlosigkeit gibt es keine Harmonie. Auch sofern der Mehrwert nicht länger Zirkulation wird abgeschafft, die Ausbeutung Satz, daß der Anarchie in der Gesellschaft die straffe Ordnung in der Fabrik entspricht, bedeutet heute, daß der internationale Naturstand, der Kampf um den Weltmarkt, und die faschistische Disziplin der Völker wechselseitig sich bedingen. Auch wenn Eliten heute gemeinsam gegen ihre Völker verschworen sind, bleiben sie immer auf dem Sprung, sich von den Jagdgebieten etwas abzujagen. Wirtschaftsund Abrüstungskonferenzen schieben die Händel immer nur für eine Weile auf, das Prinzip der Herrschaft erweist sich im Äußeren als das der permanenten Mobilisation. Der Zustand bleibt weiterhin absurd. Freilich wird die Fesselung der Produktivkräfte von nun an als Bedingung der Herrschaft verstanden und mit Bewußtsein ausgeübt. Daß zwischen den Schichten der Beherrschten, sei es zwischen Gemeinen und Facharbeitern oder den Geschlechtern oder den Rassen, ökonomisch differenziert, daß die Isolierung der Individuen voneinander mit allen Verkehrsmitteln, mit Zeitung, Kino, Radio, systematisch betrieben werden muß, gehört zum Katechismus der autoritären Regierungskunst. Sie sollen allen zuhören, vom Führer bis zum Blockwart, nur nicht einander, sie sollen über alles orientiert sein, von der nationalen Friedenspolitik bis zur Verdunkelungslampe, nur nicht sich orientieren, sie sollen überall Hand anlegen, nur nicht an die Herrschaft. Die Menschheit wird allseitig ausgebildet und verstümmelt. Mag das Land, zum Beispiel die Vereinigten Staaten Europas, noch so groß und mächtig sein, die Unterdrückungsmaschinerie gegen den inneren Feind muß einen Vorwand in der Kriegsgefahr notwendige, unkontrollierte, wider Willen produzierte Folgen der freien Wirtschaft waren, werden sie vom autoritären Staat der Tendenz nach konstruktiv angewandt.

So unerwartet nach Ort und Zeit das Ende der letzten Phase kommen mag, es wird kaum durch eine wieder auferstandene Massenpartei herbeigeführt; sie würde die herrschende bloß ablösen. Die Aktivität politischer Gruppen und Vereinzelter mag zur Vorbereitung der Freiheit entscheidend beitragen; gegnerische Massenparteien hat der autoritäre Staat nur als konkurrierende zu fürchten. Sie rühren nicht ans Prinzip. In Wahrheit ist der innere Feind überall und nirgends. Nur im Anfang kommen die meisten Opfer des Polizeiapparates aus der unterlegenen Massenpartei. Später strömt das vergossene Blut aus dem geeinten Volk zusammen. Die Auslese, die man in den Lagern konzentriert, wird immer zufälliger. Ob die Menge der Insassen jeweils wächst oder abnimmt, ja ob man es sich zeitweise leisten kann, die leeren Plätze der Ermordeten gar nicht wieder zu belegen, eigentlich könnte jeder im Lager sein. Die Tat, die hineinführt, begeht jeder in Gedanken jeden Tag. Im Faschismus träumen alle den Führermord und marschieren in Reih und Glied. Sie folgen aus nüchterner Berechnung: nach dem Führer käme doch nur der Stellvertreter. Wenn die Menschen einmal nicht mehr marschieren, dann werden sie auch ihre Träume verwirklichen. Die vielberufene politische Müdigkeit der Massen, hinter der sich die Parteibonzen nicht selten verstecken, ist eigentlich nur die Skepsis gegen die Leitung. Die Arbeiter haben gelernt, daß von denen, die sie jeweils riefen und wieder nach Hause schickten, auch nach dem Sieg stets nur das gleiche zu gewärtigen war. In der französischen Revolution brauchten die Massen fünf Jahre, bis ihnen einerlei war, ob Barras oder Robespierre. Aus der gewitzigten Apathie, die den Widerwillen gegen die ganze politische Fassade enthält, ist kein Schluß für die Zukunft zu ziehen. Mit der Erfahrung, daß ihr politischer Wille durch die Veränderung der Gesellschaft wirklich ihr eigenes Dasein verändert, wird die Apathie der Massen verschwunden sein. Sie gehört dem Kapitalismus an, freilich allen seinen Phasen. Die generalisierende Soziologie hat daran gekrankt, daß sie zumeist von feineren Leuten betrieben worden ist. Diese differenzieren zu gewissenhaft. Die Millionen unten erfahren von Kindheit an, daß die Phasen des Kapitalismus zu demselben System gehören. Hunger, Polizeikontrolle, Soldatsein gibt es auf liberal und autoritär. Beim Faschismus sind die Massen vornehmlich daran interessiert, daß es nicht der Fremde schafft, denn die abhängige Nation hat die verstärkte Ausbeutung zu dulden. Hoffnung bietet ihnen gerade noch der integrale Etatismus, weil er an der Grenze des Besseren steht, 55

und Hoffnung widerspricht der Apathie. Im Begriff der revolutionären Diktatur als Übergang war keineswegs beschlossen, daß irgendeine Elite aufs neue die Produktionsmittel monopolisiert.. Solcher Gefahr kann die Energie und Wachsamkeit der Menschen selbst begegnen. Die Umwälzung, die der Herrschaft ein Ende macht, reicht so weit wie der Wille der Befreiten. Jede Resignation ist schon der der alten Machtpositionen wird die Gesellschaft entweder ihre Angelegenheiten auf Grund freier Übereinkunft verwalten, oder die Ausbeutung geht weiter. Daß sich Reaktionen ereignen, daß der Ansatz zur Freiheit immer wieder vernichtet wird, ist theoretisch nicht auszuschließen, gewiß nicht so lang es eine feindliche Umwelt gibt. Es lassen sich keine patenten Systeme ausdenken, die selbsttätig Rückfälle verhindern. Die Modalitäten Veränderung. Die theoretische Konzeption, die nach ihren Vorkämpfern der neuen Gesellschaft den Weg weisen soll, das Rätesystem, stammt aus der Praxis. Es geht auf 1871, 1905 und andere Ereignisse zurück. Die Umwälzung hat eine Tradition, auf deren Fortsetzung die Theorie verwiesen ist. Nicht weil das künftige Zusammenleben auf Aussicht auf Dauer, sondern weil die Herrschaft sich im Staatskapitalismus abnutzt. Dank seiner Praxis bereiten die zweckmäßige Leitung des Produktionsapparates, der Austausch von Stadt und Land, die Versorgung der großen Städte keine Schwierigkeiten mehr. Die Steuerung der Wirtschaft, die früher aus der trügerischen Initiative privater Unternehmer resultierte, wird schließlich in einfache Verrichtungen aufgelöst, die erlernbar sind wie Bau und Bedienung von Maschinen. der Führerweisheit. Ihre Funktionen können durchschnittlich geschulte Kräfte bewältigen. Ökonomische Fragen werden mehr und mehr zu technischen. Die Vorzugsstellung von Beamten der Verwaltung, technischen und planwirtschaftlichen Ingenieuren, verliert in der Zukunft ihre vernünftige Basis, die nackte Macht wird ihr einziges Argument. Daß die Rationalität der Herrschaft schon im Schwinden begriffen ist, wenn der autoritäre Staat die Gesellschaft übernimmt, ist der wahre Grund seiner Identität mit dem Terrorismus und zugleich der Engelsschen Theorie, daß die Vorgeschichte mit ihm zu Ende geht. Die Verfassung war, bevor sie in den faschistischen Ländern abstarb, ein Instrument der Herrschaft. Durch sie hatte seit der englischen 56

und französischen Revolution das europäische Bürgertum die Regierung begrenzt und sein Eigentum gesichert. Daß die Rechte des Individuums nicht einer Gruppe vorbehalten bleiben konnten, sondern formelle Universalität gefordert war, macht sie heute zur Sehnsucht der Minoritäten. In einer neuen Gesellschaft wird sie nicht mehr Gewicht beanspruchen als Fahrpläne und Verkehrsregeln in der bestehenden. »Wie oft schon tat man«, klagt Dante über die Unbeständigkeit der Verfassung in Florenz, »Gesetze, Münzen, Ämter, Brauch in Bann, und deine Bürgerschaft sah neue Glieder.« [5] Was der zerfallenden Patrizierherrschaft gefährlich gewesen ist, wäre der klassenlosen Gesellschaft eigentümlich. Die Formen der freien Assoziation schließen sich nicht zum System zusammen. So wenig das Denken aus sich heraus die Zukunft zu entwerfen vermag, so wenig bestimmt es den Zeitpunkt. Die Etappen des Weltgeistes folgen nach Hegel einander mit logischer Notwendigkeit, keine kann übersprungen werden. Marx ist ihm darin treu geblieben. Die Geschichte wird als unverbrüchliche Entwicklung vorgestellt. Das Neue kann nicht beginnen, ehe seine Zeit gekommen ist. Aber der Fatalismus beider Denker bezieht sich, merkwürdig genug, bloß auf die Vergangenheit. Ihr metaphysischer Irrtum, daß die Geschichte einem festen Gesetz gehorche, wird durch den historischen Irrtum aufgehoben, daß es zu ihrer Zeit erfüllt sei. Die Gegenwart und das Spätere steht nicht wieder unter dem Gesetz. Es hebt auch keine neue gesellschaftliche Periode an. Fortschritt gibt es in der Vorgeschichte. Er beherrscht die Etappen bis zur Gegenwart. Von geschichtlichen Unternehmungen, die vergangen sind, mag sich sagen lassen, daß die Zeit nicht reif für sie gewesen sei. In der Gegenwart verklärt die Rede von der mangelnden Reife das Einverständnis mit dem Schlechten. Für den Revolutionär ist die Welt schon immer reif gewesen. Was im Rückblick als Vorstufe, als unreife Verhältnisse erscheint, galt ihm einmal als letzte Chance der Veränderung. Er ist mit den Verzweifelten, die ein Urteil zum Richtplatz schickt, nicht mit denen, die Zeit haben. Die Berufung auf ein Schema von gesellschaftlichen Stufen, das die Ohnmacht einer vergangenen Epoche post festum demonstriert, war im betroffenen Augenblick verkehrt in der Theorie und niederträchtig in der Politik. Die Zeit, zu der sie gedacht wird, gehört zum Sinn der Theorie. Die Lehre vom Wachsen der Produktivkräfte, von der Abfolge der Produktionsweisen, von der Aufgabe des Proletariats ist weder ein historisches Gemälde

zum Anschauen noch eine naturwissenschaftliche Formel zur Vorausberechnung künftiger Tatsachen. Sie formuliert das richtige Bewußtsein in einer bestimmten Phase des Kampfs und ist als erkennen. Die als Eigentum erfahrene Wahrheit schlägt in ihr Gegenteil um, auf sie trifft der Relativismus zu, dessen kritischer Zug von demselben Sekuritätsideal herrührt wie die absolute Philosophie. Die kritische Theorie ist von anderem Schlag. Sie kehrt sich gegen das Wissen, auf das man pochen kann. Sie konfrontiert Geschichte mit der Möglichkeit, die stets konkret in ihr sichtbar wird. Die Reife ist das Thema probandum und probatum. Obgleich der spätere historische Verlauf die Girondisten gegen die Montagnards, Luther gegen Münzer bestätigt hat, wurde die Menschheit nicht durch die unzeitgemäßen Unternehmungen der Umstürzler, sondern durch die zeitgemäße Weisheit der Realisten verraten. Die Verbesserung der Produktionsmethoden mag wirklich nicht bloß die Chancen der Unterdrückung, sondern auch die ihrer Abschaffung verbessert haben. Aber die Konsequenz, die heute aus dem historischen Materialismus und damals aus Rousseau oder der Bibel folgte, nämlich die Einsicht, daß »Jetzt oder war in jedem Augenblick an der Zeit. Die bürgerlichen Erhebungen hingen in der Tat von der Reife ab. Ihr Erfolg, von den Reformatoren bis zur legalen Revolution des Faschismus, war an die technischen und ökonomischen Errungenschaften gebunden, die den Fortschritt des Kapitalismus bezeichnen. Sie kürzen die vorbestimmte Entwicklung ab. Die Idee der Geburtshilfe entspricht genau der Geschichte des Bürgertums. Seine materiellen Existenzformen waren ausgebildet, ehe die politische Macht erobert war. Die Theorie der Abkürzung beherrscht die Revolution. Mit dem Imprimatur Saint-Simons hat Comte als politischen Leitsatz den Gedanken formuliert: »Es ist ein großer Unterschied, ob man dem Gang der Geschichte einfach folgt, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, oder mit Einsicht in die ursächlichen Verhältnisse. Die geschichtlichen Veränderungen greifen im ersten wie im zweiten Fall Platz, aber sie lassen länger auf sich warten, und sie geschehen vor allem nur, nachdem sie, je nach ihrer Art und Bedeutung, die Gesellschaft erst entsprechend verhängnisvoll erschüttert haben.« [6] Die Kenntnis der historischen Gesetze, die den Ablauf der Gesellschaftsformen regeln, soll nach

den Saint-Simonisten die Revolution mildem, nach den Marxisten verstärken. Beide schreiben ihnen die Funktion zu, einen Prozeß abzukürzen, der sich selbsttätig, gleichsam natürlich, vollzieht. »Die revolutionäre Umgestaltung«, sagt Bebel, »die alle Lebensbeziehungen der Menschen von Grund aus ändert und insbesondere auch die Stellung der Frau verändert, vollzieht sich also bereits vor unseren Augen. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß die Gesellschaft diese Umgestaltung in größtem Maßstab in die Hand nimmt, und den Umwandlungsprozeß beschleunigt und verallgemeinert und damit alle ohne Ausnahme an seinen zahllosen vielgestaltigen Vorteilen teilnehmen läßt.« [7] So reduzierte sich die Revolution auf den intensiveren Übergang zum Staatskapitalismus, der damals schon sich anmeldete. Trotz des Bekenntnisses zur Hegeischen Logik von Sprung und Umschlag erschien die Veränderung wesentlich als Vergrößerung von Ausmaßen: die Ansätze zur Planung sollten verstärkt, die Distribution vernünftiger gestaltet werden. Die Lehre vom Geburtshelfertum bringt die Revolution auf bloßen Fortschritt herunter. Dialektik ist nicht identisch mit Entwicklung. Zwei entgegengesetzte Momente, der Übergang zur staatlichen Kontrolle und die Befreiung von ihr, sind im Begriff der sozialen Umwälzung in eins gefaßt. Sie bewirkt, was auch ohne Spontaneität geschehen wird: die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die planmäßige Leitung der Produktion, die Naturbeherrschung ins Ungemessene. Und sie bewirkt, was ohne aktive Resistenz und stets erneute Anstrengung der Freiheit nie eintritt: das Ende der Ausbeutung. Solches Ende ist keine Beschleunigung des Fortschritts mehr, sondern der Sprung aus dem Fortschritt heraus. Das Rationale ist nie vollständig deduzierbar. Es ist in der geschichtlichen Dialektik überall angelegt als der Bruch mit der Klassengesellschaft. Die theoretischen Argumente dafür, daß der Staatskapitalismus ihre letzte Etappe sei, beziehen sich darauf, daß die gegenwärtigen materiellen Verhältnisse den Sprung ermöglichen und fordern. Die Theorie, der sie entstammen. weist dem bewußten Willen die objektiven Möglichkeiten. Wenn sie die Phasen der bürgerlichen Wirtschaft, Blüte und Verfall dartut wie ein immanentes Entwicklungsgesetz, so reißt mit dem Übergang zur Freiheit die Selbstbewegung ab. Man kann heute bestimmen, was die Führer der Massen ihnen noch antun werden, wenn man beide nicht abschafft. Das gehört zum immanenten Entwicklungsgesetz. Man kann nicht bestimmen, was eine freie Gesellschaft tun oder lassen wird. 57

Die Selbstbewegung des Begriffs der Ware führt zum Begriff des Staatskapitalismus wie bei Hegel die sinnliche Gewißheit zum absoluten Wissen. Wenn aber bei Hegel die Stufen des Begriffs ohne weitere Umstände der physikalischen und gesellschaftlichen Natur entsprechen müssen, weil Begriff und Wirklichkeit wie am Ende so schon im Grund nicht bloß unterschieden, sondern auch dasselbe sind, so darf das materialistische Denken sich dieser Identität nicht für versichert halten. Der Eintritt von Verhältnissen, die aus dem Begriff abzulesen sind, legt dem Idealisten das Gefühl der Befriedigung, dem historischen Materialisten eher das der Empörung nah. Daß die menschliche Gesellschaft wirklich alle Phasen durchläuft, die als Umschlag des freien und gerechten Tauschs in Unfreiheit und Ungerechtigkeit aus seinem eigenen Begriff zu entfalten sind, enttäuscht ihn, wenn es wirklich so kommt. Die idealistische Dialektik konserviert das Erhabene, Gute, Ewige; jeder historische Zustand enthalte das Ideal, nur nicht explizit. Die Identität von Ideal und Wirklichkeit gilt als Voraussetzung und Ziel der Geschichte. Die materialistische Dialektik trifft das Gemeine, Schlechte, Zeitgemäße; jeder historische Zustand enthält das Ideal, nur nicht explizit. Die Identität von Ideal und Wirklichkeit ist die universale Ausbeutung. Deshalb besteht die Marxsche Wissenschaft in der Kritik der bürgerlichen Ökonomie und nicht im Entwurf der sozialistischen: den hat Marx Bebel überlassen. Er selbst erklärt die Wirklichkeit an ihrer Ideologie: durch die das Geheimnis der Ökonomie. Verhandelt wird über Smith und Ricardo, angeklagt ist die Gesellschaft. Die Deduktion der kapitalistischen Phasen von der einfachen Warenproduktion bis zu Monopol und Staatskapitalismus ist freilich kein Gedankenexperiment. Das Tauschprinzip ist nicht bloß ersonnen, es hat die Wirklichkeit beherrscht. Die Widersprüche, welche die Kritik in ihm entdeckt, haben sich in der Geschichte drastisch bemerkbar gemacht. Im Tausch der Ware Arbeitskraft wird der Arbeiter entschädigt und betrogen zugleich. Die Egalität der Warenbesitzer ist ein ideologischer Schein, der im Industriesystem zergeht und im autoritären Staat der offenen Beherrschung weicht. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist in ihrer Produktionsweise beschlossen, die durch jenes ökonomische Prinzip bezeichnet war. Trotz seiner realen Gültigkeit jedoch ist es zwischen seiner kritischen Darstellung und dem historischen Verlauf nie zu einer Deckung gekommen, die 58

nicht hätte durchbrochen werden können. Die Differenz von Begriff und Realität begründet die Möglichkeit der umwälzenden Praxis, nicht der bloße Begriff. Zwischen den Veränderungen in der Produktionsweise und dem Gang der Ideologie besteht in der Klassengesellschaft ein notwendiger

legt so wenig den Willen zur Freiheit fest, der in ihr selbst sich meldet, wie den der Zukunft. Für jede Folgerung aus dem Glauben, daß die Geschichte einer aufsteigenden Linie folgen wird, gleichgültig, ob man sie nun als Gerade, Zickzack oder Spirale vorstellt, gibt es ein Gegenargument, das um nichts weniger gültig ist. Theorie erklärt wesentlich den Gang des Verhängnisses. Bei aller Konsequenz in der Entwicklung, welche sie zu erfassen vermag, bei aller Logik in der Abfolge der einzelnen gesellschaftlichen Epochen, bei aller Steigerung der materiellen Produktivkräfte, der Methoden und Geschicklichkeiten, sind in der Tat die kapitalistischen Antagonismen angewachsen. Durch sie werden schließlich die nur! fähiger zur Freiheit sondern auch unfähiger. Nicht bloß die Freiheit, auch künftige Formen der Unterdrückung sind möglich. Sie lassen theoretisch sich berechnen als Rückfall oder als neue ingeniöse Apparatur. Mit dem Staatskapitalismus kann die Macht neu sich befestigen. Auch er ist eine antagonistische, vergängliche Form. Das Gesetz seines Zusammenbruchs ist ihm leicht anzusehen: es gründet in der Hemmung der Produktivität durch die Existenz der Bürokratien. Aber die Ausbreitung der autoritären Formen hat noch viel vor sich, und es wäre nicht zum erstenmal, daß auf eine Periode größerer Selbständigkeit der Abhängigen eine lange Periode verstärkter Unterdrückung folgt. Athenische Industrie und römischer Grundbesitz haben die Sklaverei großen Maßstabs eingerührt, als die freien Arbeiter zu anspruchsvoll und teuer wurden. Im ausgehenden Mittelalter wurde den Bauern die Freiheit, die sie wegen ihres numerischen Rückgangs bis zum vierzehnten Jahrhundert errungen hatten, wieder abgenommen. Die Empörung beim Gedanken, daß auch die beschränkte Freiheit des neunzehnten Jahrhunderts auf lange Dauer durch den Staatskapitalismus, durch die »Sozialisierung der Armut« abgelöst werden, geht auf die Erkenntnis zurück, daß dem gesellschaftlichen Reichtum keine Schranken mehr gesetzt sind. Aber auf den Bedingungen des gesellschaftlichen Reichtums beruht nicht bloß die

Chance der Zertrümmerung, sondern ebenso sehr des Fortbestandes der modernen Sklaverei. .Der objektive Geist ist jeweils das Produkt der Anpassung der Macht an ihre Existenzbedingungen. Trotz des offenen Gegensatzes zwischen Kirche und Staat im Mittelalter, zwischen den weltumspannenden Kartellen in der Gegenwart, haben sie weder einander umgebracht, noch fusionieren sie sich völlig. Beides wäre das Ende der Herrschaft, die den Antagonismus in sich selbst erhalten muß, wenn sie den zu den Beherrschten ertragen soll. Das Weltkartell ist unmöglich, es schlüge sogleich in die Freiheit um. Die paar großen Monopole, die bei gleichen Fabrikationsmethoden und Erzeugnissen ihre Konkurrenz aufrechterhalten, geben das Modell künftiger außenpolitischer Konstellationen ab. Zwei freundlich-feindliche Staatenblocks wechselnder Zusammensetzung könnten die ganze Welt beherrschen, ihrer Gefolgschaft auf Kosten der halb-kolonialen und kolonialen Massen neben dem Fascio auch bessere Rationen bieten und in ihrer gegenseitigen Bedrohung immer neue Gründe zum der Produktion, die durch die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zuerst beschleunigt und später hintan gehalten wurde, entspricht an sich noch keineswegs den menschlichen Bedürfnissen. Heute wird sie zugunsten der Herrschaft gelenkt. Die Bäume sollen nicht in den Himmel wachsen. Solange auf der Welt noch Knappheit am Notwendigen, ja nur an Luxusmitteln besteht, nehmen die Herrschenden die Gelegenheit wahr, Personen und Gruppen, nationale und soziale Schichten, voneinander zu isolieren und ihre eigene Führerrolle zu reproduzieren. Die Bürokratie bekommt den ökonomischen Mechanismus wieder in die Hand, der unter der Herrschaft des fachwissenschaftliche Begriff der Ökonomie, der im Gegensatz zu ihrer Kritik mit dem Markt im Schwinden begriffen ist, enthält keine weiteren Einwände gegen die Existenzfähigkeit des Staatskapitalismus als die, welche Mises und die Seinen gegen den Sozialismus vorbrachten. Sie leben heute gerade noch vom Kampf gegen die sozialen Reformen in demokratischen Ländern und haben vollends ihr Gewicht verloren. Der Kern der liberalistischen Einwände bestand aus wirtschaftstechnischen Bedenken. Ohne einigermaßen unbehindertes Funktionieren der alten Mechanismen von Angebot und Nachfrage sollten unproduktive von produktiven industriellen Verfahrungsweisen nicht zu unterscheiden sein.

Die beschränkte Gescheitheit, die sich auf solche Argumente gegen die Geschichte versteift, war so Triumph im Faschismus übersah. Der Kapitalismus hat eine Frist, auch nachdem seine liberalistische Phase vorüber ist. Die faschistische freilich ist von denselben ökonomischen Tendenzen durchherrscht, die schon den Markt vernichteten. Nicht etwa die Unmöglichkeit der Rechnungslegung, sondern die internationale Krise, welche der autoritäre Staat perpetuiert, läßt der unter seinen Formen verkommenden Menschheit keine Wahl mehr. Das ewige System des autoritären Staats, wie furchtbar es auch droht, ist nicht realer als die ewige Harmonie der Marktwirtschaft. War der Tausch von Äquivalenten noch eine Hülle der Ungleichheit, so ist der faschistische Plan schon der offene Raub. Die Möglichkeit heute ist nicht geringer als jüngste Phase hat mehr Kräfte in sich, die wirtschaftlich zurückgebliebenen Territorien der Erde zu organisieren, als die vorhergehende, deren maßgebende Repräsentanten ihre verminderte Kraft und Initiative zur Schau stellen. Sie werden von der zu verlieren. Sie wollten gerne alles tun, um sich die Hilfe des zukünftigen Faschismus nicht auf die Dauer zu verscherzen. In ihm erscheint ihnen die regenerierte Gestalt der Herrschaft, sie ahnen die Kraft, die bei ihnen am Versiegen ist. Der seit Jahrhunderten akkumulierte Reichtum und die ihm zugehörige diplomatische Erfahrung wird darauf verwandt, daß die legitimen Beherrscher Europas seine Vereinigung selbst kontrollieren und den integralen Etatismus noch einmal draußen halten. Sowohl durch solche Rückfälle wie durch Versuche, wirkliche Freiheit herzustellen, kann die Ära des autoritären Staats unterbrochen werden. Diese Versuche, die ihrem Wesen nach keine Bürokratie dulden, können nur von den Vereinzelten kommen. Vereinzelt sind alle. Die verdrossene Sehnsucht der atomisierten Massen und der bewußte Wille der Illegalen weist in dieselbe Richtung. Genau so weit wie ihre Unbeirrbarkeit ging auch in früheren Revolutionen der kollektive Widerstand, der Rest war Gefolgschaft. Es führt eine Linie von den linken Gegnern des Etatismus Robespierres zum Komplott der Gleichen unter dem Directoire. Solange die Partei noch eine Gruppe, ihren antiautoritären Zielen noch nicht entfremdet ist, solange die Solidarität nicht durch Gehorsam ersetzt wird, solange sie die Diktatur des Proletariats noch nicht mit der Herrschaft der gerissensten Parteitaktiker 59

verwechselt, wird ihre Generallinie von eben den Abweichungen bestimmt, von denen sie als herrschende Clique sich freilich rasch zu säubern weiß. Solange die Avantgarde ohne periodische Säuberungsaktionen zu handeln vermag, lebt mit ihr die Hoffnung auf den klassenlosen Zustand. Die zwei Phasen, in denen nach dem Wortlaut der Tradition er sich verwirklichen soll, haben mit der Ideologie, die heute der Verewigung des integralen Etatismus dient, nur wenig zu tun. Weil die unbegrenzte Menge der Konsum- und Luxusmittel noch als ein Traum erscheint, soll die Herrschaft, die bestimmt war, in der ersten Phase abzusterben, sich versteifen dürfen. Gesichert durch schlechte Ernten und Wohnungsnot verkündet man, die Regierung der Geheimpolizei werde verschwinden, wenn das Schlaraffenland verwirklicht sei. Engels ist dagegen ein Utopist, er setzt die Vergesellschaftung und das Ende der Herrschaft in eins: »Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in die gesellschaftlichen Verhältnisse und schläft dann von selbst ein.« [8] Er hat nicht daran geglaubt, daß die unbegrenzte Steigerung der materiellen Produktion die Voraussetzung einer menschlichen Gesellschaft und die klassenlose Demokratie erst dann erreichbar sei, wenn die ganze Erde vollends mit Radios und Traktoren bevölkert ist. Die Praxis hat die Theorie zwar nicht widerlegt, aber interpretiert. Eingeschlafen sind die Feinde der Staatsgewalt, nur nicht von selbst. Mit jedem Stück erfüllter Planung sollte ursprünglich ein Stück in der Kontrolle der Pläne immer mehr Repression auskristallisiert. Ob die Produktionssteigerung den Sozialismus verwirklicht oder liquidiert, kann nicht abstrakt entschieden werden. Das Entsetzen in der Erwartung einer autoritären Weltperiode verhindert nicht den Widerstand. Die Ausübung von Verwaltungsfunktionen durch eine Klasse oder Partei kann nach der Abschaffung jedes Privilegs durch Formen einer klassenlosen Demokratie ersetzt werden, die vor der Erhöhung von administrativen zu Machtpositionen behüten können. Wenn ehemals die Bourgeoisie ihre Regierungen durch das Eigentum bei der Stange hielt, wird in einer neuen Gesellschaft die Verwaltung nur durch unnachgiebige Selbständigkeit der Nichtdelegierten davon abzuhalten sein, in Herrschaft umzuschlagen. Die Gefolgschaften 60

bilden schon heute für den autoritären Staat keine geringere Gefahr als die freien Arbeiter für den Liberalismus. Bankerott ist der Glaube daran, daß man etwas hinter sich hat. Ihm huldigen auch nicht wenige Marxisten. Ohne das Gefühl, mit einer großen Partei, einem allverehrten Führer, der Weltgeschichte oder wenigstens der unfehlbaren Theorie zu sein, funktionierte ihr Sozialismus nicht. Die Hingabe an marschierende Massen, die beseligte Einordnung in die Kollektivität, der ganze Philistertraum, den Nietzsches Verachtung getroffen hat, feiert bei den autoritären Jugendverbänden fröhliche Auferstehung. Die Revolution, die ein Beruf war wie die Wissenschaft, hat ins Gefängnis oder nach Sibirien geführt. Seit dem Sieg aber winkt auch eine Laufbahn, wenn nirgendwo sonst, dann wenigstens in den Parteihierarchien. Es gibt nicht bloß Professoren sondern auch Revolutionäre von Prominenz. Der publizistische Betrieb assimiliert die Revolution, indem er ihre Spitzen in die Liste der großen Namen aufnimmt. Der Vereinzelte aber, der von keiner Macht berufen und gedeckt ist, hat auch keinen Ruhm zu erwarten. Dennoch ist er eine Macht, weil alle vereinzelt sind. Sie haben keine Waffe als das Wort. Je mehr es von den Barbaren drinnen und den Kulturfreunden draußen verschachert wird, um so mehr kommt es doch wieder zu Ehren. Die ohnmächtige Äußerung im totalitären Staat ist bedrohlicher als die eindrucksvollste Parteikundgebung unter Wilhelm II. Daß die deutschen Geistigen nicht lange brauchen, um mit der fremden Sprache umzuspringen wie mit der eigenen, sobald diese ihnen die zahlenden Leser sperrt, rührt daher, daß ihnen Sprache immer schon mehr im Kampf ums Dasein als zum Ausdruck der Wahrheit diente. Im Verrat der Sprache an den Verkehr aber kündigt ihr Ernst sich aufs neue an. Es ist, als fürchteten sie, die deutsche Sprache könne sie am Ende doch weiter treiben, als ihnen mit ihrer tolerierten Existenz und den berechtigten Ansprüchen der Mäzenaten vereinbar dünkt. Die Aufklärer hatten viel weniger zu riskieren. Ihre Opposition harmonierte mit den Interessen der Bourgeoisie, die damals schon keine geringe Macht besaß. Voltaire und die Enzyklopädisten hatten ihre Beschützer. Jenseits jener Harmonie erst tat kein Minister mehr mit. Jean Meslier mußte zeit seines Lebens schweigen, und der Marquis hat das seine in Gefängnissen verbracht. Wenn aber das Wort ein Funke werden kann, so hat es heute noch nichts in Brand gesteckt. Es hat überhaupt nicht den Sinn von Propaganda und kaum den des Aufrufs. Es trachtet auszusagen, was alle wissen und zu

wissen sich verbieten, es will nicht durch versierte Aufdeckung von Zusammenhängen imponieren, die nur die Mächtigen wissen. Der stellungslose Politiker der Massenpartei aber, dessen rhetorisches Pathos vom starken Arm verklungen ist, ergeht sich heute in Statistik, Nationalökonomie und inside stories. Seine Rede ist nüchtern und wohlinformiert geworden. Er behält den angeblichen Kontakt mit der Arbeiterschaft und drückt sich in Exportziffern und Ersatzstoffen aus. Er weiß es besser als der Faschismus und berauscht sich masochistisch an den Tatsachen, die ihn doch verlassen haben. Wenn man sich schon auf gar nichts Gewaltiges mehr berufen kann, muß die Wissenschaft herhalten. Wem an der menschlichen Einrichtung der Welt liegt, der kann auf keine Appellationsinstanz blicken: weder auf bestehende noch auf zukünftige Macht. Die Frage, was »man« mit der Macht anfangen soll, wenn man sie einmal hat, dieselbe Frage, die für die Bürokraten der Massenpartei höchst sinnvoll war, verliert im Kampf gegen sie ihre Bedeutung. Die Frage setzt den Fortbestand dessen voraus, was verschwinden soll; die Verfügungsgewalt über fremde Arbeit. Wenn die Gesellschaft in Zukunft wirklich nicht mehr durch vermittelten oder unmittelbaren Zwang funktionieren, sondern aus Übereinkunft sich selbst bestimmen wird, so lassen die Ergebnisse der Übereinkunft sich nicht theoretisch vorwegnehmen. Entwürfe für die Besorgung der Wirtschaft über das hinaus, was im Staatskapitalismus schon vorliegt, können einmal nützlich werden. Das Nachdenken heute, das der veränderten Gesellschaft dienen soll, darf aber nicht überspringen, daß in der klassenlosen Demokratie das Ausgedachte weder durch Gewalt noch durch Routine vorweg zu oktroyieren ist, sondern seiner Substanz nach der Übereinkunft selber vorbehalten bleibt. Dies Bewußtsein wird keinen, der zur Möglichkeit der veränderten Welt steht, davon abhalten, zu überlegen, wie die Menschen am raschesten ohne Bevölkerungspolitik und Strafjustiz, ohne Musterbetriebe und unterdrückte Minoritäten leben können. Zwar ist es fraglicher, als neuhumanistische Deutsche sich ahnen lassen, ob die Absetzung der autoritären Bürokratien mit Volksfesten der Rache verbünden sein wird. Wenn aber die Entmachtung der Herrschenden sich nochmals unter Terrorakten vollzieht, so werden die Vereinzelten leidenschaftlich darauf dringen, daß sie ihre Bestimmung erfüllt. Nichts auf der Erde vermag länger die Gewalt zu rechtfertigen, als daß es ihrer bedarf, das Ende der Gewalt herbeizuführen. Wenn die Gegner damit recht haben, daß nach dem

Sturz des faschistischen Terrorapparates nicht bloß für einen Augenblick sondern für die Dauer das Chaos anbräche, bis ein neuer an seine Stelle tritt, so ist die Menschheit verloren. Die Behauptung, daß ohne neue autoritäre Bürokratie die Maschinen, die Wissenschaft, die technischen und administrativen Methoden, die gesamte Versorgung, zu der man im autoritären Staat gekommen ist, vernichtet würden, ist ein Vorwand. Ihre erste Sorge, wenn sie an die Freiheit denken, ist die neue Strafjustiz, nicht ihre Abschaffung. »Die Massen«, heißt es in einem Pamphlet mit >SchulungsmaterialFegefeuer