OBST 83

Jürgen Erfurt (Frankfurt/Main). Eduard Haueis ... Karen Schramm (Leipzig). Constanze .... (Goethe-Universität Frankfurt/M., Institut für Romanische Sprachen und.
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OBST 83

OBST

ISBN 978-3-942158-68-8

9 783942 158688 Universitätsverlag Rhein-Ruhr

ISSN 0936-0271

Mehrsprachigkeit und Mehrschriftigkeit

Mehrsprachigkeit und Mehrschriftigkeit: Sprachliches Handeln in der Schule

Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie

83

OBST 2013 83

Mehrsprachigkeit und Mehrschriftigkeit: Sprachliches Handeln in der Schule

Herausgegeben von Jürgen Erfurt, Tatjana Leichsering & Reseda Streb

Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST)

Redaktion

Manuela Böhm (Kassel) Hermann Cölfen (Duisburg-Essen) Jürgen Erfurt (Frankfurt/Main) Eduard Haueis (Heidelberg) Franz Januschek (Flensburg/Oldenburg) Martin Reisigl (Berlin/Wien) Heike Roll (Münster) Ulrich Schmitz (Duisburg-Essen) Karen Schramm (Leipzig) Constanze Spieß (Münster) Patrick Voßkamp (Duisburg-Essen)

Redaktionsbeirat

Henning Bolte (Utrecht) Joachim Gessinger (Potsdam) Willi Grießhaber (Münster) Jakob Ossner (St. Gallen) Angelika Redder (Hamburg)

Anschrift der Redaktion Universitätsverlag Rhein-Ruhr Redaktion OBST Gut Schauenhof Paschacker 77 47228 Duisburg [email protected] Unsere seit Jahren bewährte Praxis

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Satz



Druck und Bindung



978-3-942158-68-8 (Printausgabe) 978-3-942158-69-5 (E-Book)

UVRR format publishing, Jena Printed in Germany

Inhalt

Jürgen Erfurt, Tatjana Leichsering & Reseda Streb Editorial ....................................................................................................... 7 Konrad Ehlich Sprach(en)aneignung – mehr als Vokabeln und Sätze ....................... 21 Jürgen Erfurt & Tatjana Leichsering „Aber es gibt keine Alternative. Die Vielfalt ist da.“ Ein Gespräch mit Expertin Rosanna Ferdigg ....................................... 39 Rita Franceschini Die Entwicklung dreisprachiger Schreibkompetenzen: Resultate aus den ladinischsprachigen Tälern Südtirols .................... 57 Joana Duarte, Ingrid Gogolin & Jens Siemon Mehrsprachigkeit im Fachunterricht am Übergang in die Sekundarstufe II – erste Ergebnisse einer Pilotstudie .............. 79 Gabriele Budach Multimodale Repräsentationen zweisprachiger Alphabetisierung: Ethnographische Forschung im Unterricht und die Konstruktion von Daten ........................................................... 95 Melanie Kunkel Teamteaching und sprachenübergreifendes Lernen in der Two-Way-Immersion .................................................................... 115 Susanne Schittler Bilingualer Schriftspracherwerb in Anlehnung an den Spracherfahrungsansatz ........................................................... 133 Reseda Streb „Una bella donna sag ich einfach“ – Prozesse und Strategien im bilingualen Schriftsprachenerwerb .... 151

Ulrich Mehlem, Maria Mochalova & Magdalena Spaude Schreiben in der Herkunftssprache bei russischen und polnischen Schülern in Deutschland – graphematischer Transfer und Exploration phonologischer Differenz ........................ 173 Eduard Haueis Rezension: Von der Unzuständigkeit der Zuständigen: Gerlind Belke: Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft ..................... 197 Anschriften der Autorinnen und Autoren....................................................... 203

Jürgen Erfurt, Tatjana Leichsering & Reseda Streb

Editorial 1. Dass die in Deutschland und vielen Staaten Europas gängige Konzeption schulischen Sprachenlernens längst mit der sprachlichen und sozialen Dynamik globalisierter und migrationsgeprägter Lebensverhältnisse kollidiert, gehört mittlerweile zu den Grundüberzeugungen, auf denen viele innovative und mehrsprachig orientierte Schulprojekte aufbauen. Sprachliche Heterogenität wird in diesen Projekten nicht als Hindernis, sondern als eigene Ressource und als Stimulus für Lernprozesse begriffen. Im tradierten Verständnis von Schule zielen jedoch das Vermitteln und Lernen von Sprache fast ausschließlich auf den Ausbau der jeweiligen ‚National-’ bzw. ‚Landessprache’ – meist als ‚Muttersprache’ modelliert – und auf das Lehren prestigeträchtiger ‚Fremdsprachen’, allen voran Englisch, und in deutlich geringerem Maß Französisch, Spanisch oder wenige andere Sprachen. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit hingegen, wie sie im Munde einer sprachlich heterogenen Schülerschaft in urbanen Schulen weit verbreitet ist, findet wenig Berücksichtigung im schulischen Regelbetrieb. Der gemeinsame Nenner der auf Mehrsprachigkeit zielenden Schulprojekte besteht nun darin, die gesellschaftsweit vorhandene sprachliche Vielfalt nicht einfach zu ignorieren oder homogenisierender Separierung zu unterwerfen. Vielmehr sucht man nach Wegen, wie schulisches (Sprachen-)Lernen unter den gegebenen und komplexen gesellschaftlichen Bedingungen, die Steven Vertovec (2007) mit dem Konzept „super-diversity“ analytisch fasst, erfolgreich sein kann. Hierbei geht es keineswegs nur darum, dass sich alloglotte SchülerInnen die dominante Sprache und vielleicht auch noch weitere Sprachen aneignen, sondern vielmehr darum, dass sie die Möglichkeit erhalten, parallel zum Ausbau der Landessprache bzw. der schulisch vorgegebenen Fremdsprachen, auch ihre Herkunftssprache(n) weiterzuentwickeln. Damit einher geht, den SchülerInnen das jeweils vorhandene (mehr-)sprachliche Potenzial bewusst und als Ressource (be-)greifbar zu machen. Von genereller Bedeutung sind dabei zuvorderst alltägliche Strategien im Umgang mit sprachlicher und kultureller Heterogenität im Klassenraum, Sprachaneignungsprozesse in mehrsprachigen Umfeldern sowie die Berücksichtigung und Nutzung unterschiedlicher sprachlicher Ressourcen im Auf- und Ausbau „pluriOsnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 83 (2013), 7-19

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lingualer Kompetenzen“ (Castellotti/Moore 2011, Coste/Moore/Zarate 1997). Und dies gilt eben auch für Kinder, die familiär ausschließlich in der Sprache der Mehrheitsgesellschaft aufwachsen. Um in diesem Sinne geeignete Lösungen zu entwickeln, bedarf es pädagogisch-didaktischer Zugänge, deren Handlungslogik auf interdisziplinärer theoretischer Grundlage beruht und vor allem Erkenntnisse und Methoden aus Sprachwissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Didaktik und Erziehungswissenschaft vereint (vgl. Mejía/Hélot 2011). In diesen Kontext ordneten sich unter dem Rahmentitel „Bilingualer Unterricht, Mehrsprachigkeit und Heterogenität in der Schule“ drei Fachtagungen ein, die als Fortbildung für Lehrende, SchulleiterInnen sowie Schulverwaltungspersonal konzipiert waren. In Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Schulamt und dem Italienischen Generalkonsulat in Frankfurt/M. setzte die Forschungsgruppe „Migration und Mehrsprachigkeit“ (Goethe-Universität Frankfurt/M., Institut für Romanische Sprachen und Literaturen) diese Tagungsreihe zwischen November 2010 und Mai 2011 um.1 Ziel der Tagungen war es, aktuelle Ergebnisse aus der Mehrsprachigkeitsforschung sowie schulspezifische Erkenntnisse aus mehrjährigen Begleitforschungen in bilingualen Schulzweigen und Regelschulen mit sprachlich heterogener Schülerschaft zu bündeln und diese zugleich mit den Erfahrungen von Lehrenden aus der schulischen Praxis zu verbinden. In diesem Sinne knüpft der vorliegende Band an zwei thematische Achsen dieser Tagungen an. Einerseits geht es um Untersuchungen von Mehrsprachigkeit, Mehrschriftigkeit und sprachlichen Ausbauprozessen in der Primar- und Sekundarstufe. Andererseits finden Studien Berücksichtigung, die Praxisformen des Umgangs mit sprachlicher Heterogenität beleuchten. Das Spektrum der Beiträge reicht dabei von Untersuchungen zu individuellen Sprachaneignungsprozessen in sprachlich heterogenen Klassen über forschungsmethodische Fragestellungen im Kontext von Ethnographie und videobasierter Analyse bis hin zu Ausbauprozessen 1 Die drei Fachtagungen wurden finanziell unterstützt durch die Vereinigung von Freunden und Förderern der Goethe-Universität Frankfurt/M., das Staatliche Schulamt für die Stadt Frankfurt/M., das Italienische Generalkonsulat Frankfurt/M. sowie den Frankfurter Jugendring. Unser Dank gilt der Leiterin des Staatlichen Schulamts, Frau Silvia Bouffier-Spindler, und Herrn Turgut Yüksel (Frankfurter Jugendring) für die logistische Unterstützung. Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir Frau Pia Kersten (Staatliches Schulamt für die Stadt Frankfurt/M.) und Frau Dr. Rosanna Ferdigg (vormals Italienisches Generalkonsulat Frankfurt/M.) für die konstruktive und engagierte Zusammenarbeit bei der Vorbereitung und Gestaltung der Tagungen.

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im Zuge des Lernens in mehreren Sprachen. Mehrere Beiträge beziehen sich dabei auf das bilinguale Lernen in Immersionsmodellen (Two-WayImmersion). 2. Mit den Themenfeldern der Mehrsprachigkeit und des Erlernens bzw. der Praxis von Schriftsprachen befassten sich in den letzten Jahren mehrere Bände der Zeitschrift OBST, zuletzt „Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch“ (OBST 77/2010), hrsg. von H. Roll und K. Schramm, mit Fokus auf der Alphabetisierung von Erwachsenen, „Elitenmigration und Mehrsprachigkeit“ (OBST 75/2008), hrsg. von J. Erfurt und M. Amelina, mit Fokus auf der Mehrsprachigkeit von hochqualifizierten MigrantInnen, und „(Schrift-)Sprachenerwerb und Grammati(kali)sierung“ (OBST 73/2007), hrsg. von E. Haueis und S. Schallenberger, mit Fokus auf der schulischen Aneignung des Deutschen als Schrift- und Zweitsprache. Auch in den beiden Bänden „Diagnose und Schrift“ (OBST 66/2003 und 67/2004), hrsg. von M. Baumann und J. Ossner, kommen Forschungsansätze zum Tragen, in welchen das Deutsche als Zweitsprache (DaZ) und seine Aneignung als Schriftsprache untersucht werden. Diese Themen und Zugriffsweisen haben ihre Verbindung in der Einsicht, dass migrationsbedingte Mehr-/ Anderssprachigkeit zu einem weit verbreiteten Phänomen geworden ist, mit der Folge, dass das schulische Lehren und Lernen in der jeweils dominanten Landessprache von anderen Prämissen ausgehen muss als von jenen der Einsprachigkeit, des Vorhandenseins von sprachlichem Wissen in der Mehrheitssprache und somit eines gemeinsam geteilten „muttersprachlichen“ Erfahrungshorizonts. Ähnlich wie in angelsächsischen Ländern mit dem Konzept von ESL (English as a Second Language) oder in Frankreich und frankophonen Ländern mit dem Konzept FLS (le français langue seconde) ist der Fokus bei DaZ darauf gerichtet, wie sich anderssprachige LernerInnen am besten die Zielsprache bzw. die Landessprache aneignen können. Ihre Herkunftssprachen spielen, wenn überhaupt, nur insoweit eine Rolle, als sie den Schlüssel für rekurrente Abweichungen in der Sprachpraxis der LernerInnen von zielsprachlichen Strukturen und Normen liefern (können). Im migrationserfahrenen Großbritannien zeichnet sich im Kontrast zu der hauptsächlich zielsprachlichen Orientierung von ESL mit dem Konzept EAL (English as an Additional Language) ein anderer Zugriff auf sprachliche Heterogenität ab (vgl. Leung 2012), mit dem man nun explizit die Zweisprachigkeit der Lernenden einbeziehen und vor allem den bildungssprachlichen Registerausbau fördern will. Eine Entsprechung für EAL im deutsch- oder französischsprachigen Kontext gibt es bislang nicht.

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Mehrsprachigkeit im institutionellen Sinne, dass also mehrere Sprachen gleichzeitig Schul- und Unterrichtssprachen sind, zeichnet das in vielen Ländern verbreitete Konzept der internationalen Schulen aus. In der Regel als Privatschulen für die Kinder von hochmobilen Funktionseliten eingerichtet, übersetzen sie die institutionelle Mehrsprachigkeit in eine nach Fächern und Jahrgangsstufen geordnete Praxis mehrmaliger Einsprachigkeit, wobei das Lernen in international prestigereichen Sprachen erfolgt. Recherchiert man in einschlägigen Datenbanken nach Studien zu Zweioder Mehrsprachigkeit in der Schule und zum bilingualen Lernen2, wird man rasch konstatieren, dass der bilinguale Sachfachunterricht, der in den späten 1960er Jahren im Kontext deutsch-französischer Bildungskooperation entworfen wurde, seine Erfolgsgeschichte unter dem Akronym CLIL (Content and Language Integrated Learning) erfahren hat. Die Philosophie dieser Unterrichtsform besteht hierzulande in einer Kombination aus Fremdsprachenunterricht in Englisch oder Französisch und dem Unterricht eines sog. Sachfachs wie etwa Geschichte, Geographie, Mathematik oder Sport. Idealtypischerweise erfolgt der Unterricht des Sachfachs ausschließlich in der Fremdsprache und anhand entsprechend einsprachiger Materialien. Die zu entwickelnden sprachlichen Kompetenzen orientieren sich ebenfalls an der Einsprachigkeit in der Fremdsprache. Bilingualität stellt sich somit erst im größeren Zusammenhang des schulischen Curriculums her, und weniger in der unmittelbaren Interaktion im Unterricht (dazu ausführlich die Darstellung von Steffen 2013, insb. Kap. 3). Vor diesem disziplinären Hintergrund lässt sich der Gegenstand der Studien im vorliegenden Band etwas genauer umreißen. Weder die Perspektiven von DaZ noch die des bilingualen Sachfachunterrichts rücken hier in den Mittelpunkt, wenn Fragen der Mehrsprachigkeit und Mehrschriftigkeit diskutiert werden. Auch geht es nicht um das Sprachenlernen im Sinne von Fremdsprachen und ihrer Didaktik. Vielmehr siedeln die ForscherInnen die zu untersuchende sprachliche Heterogenität in der Schule innerhalb eines Kontinuums zwischen Herkunftssprachen und Partnersprachen an. Sowohl die biographisch bedingte lebensweltliche Verankerung von Sprachen bei Lernenden als auch die Nutzung der jeweils vorhandenen sprachlichen Ressourcen und ein entsprechender Ausbau der sprachlichen Repertoires stehen somit im Fokus dieser Studien. Im 2 Vgl. z. B. die Datenbank des Informationszentrums für Fremdsprachenforschung (IFS) der Philipps-Universität Marburg: http://www.uni-marburg. de/ifs/literaturrecherche.

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Falle von Italienisch und Deutsch in Projekten der bilingualen Immersion sind zumindest diese beiden Herkunftssprachen konzeptuell zugleich auch Partnersprachen. Mit dem Begriff der Partnersprache wird nicht nur – im engeren Sinne – auf die Sprache(n) der MitschülerInnen bzw. der anderen LernerInnen rekurriert, mit denen gemeinsam im Rahmen dieser Projekte gelernt wird, sondern – in einem weiteren Sinne – auch auf jede andere lebensweltlich geteilte Sprache, unabhängig davon, ob es sich um das Albanisch, Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Niederländisch, Serbisch oder Türkisch der MitschülerInnen handelt, die als sprachliche Ressourcen genutzt werden. Das Konzept der Partnersprache hat seinen Sinn auch darin, den monolingualen Habitus der Institution Schule zu problematisieren und der weit verbreiteten Stigmatisierung von Minderheitensprachen entgegenzuwirken. 3. Die primäre Aufgabe von Schule ist das Lehren von Lesen, Schreiben und Rechnen. Das war wohl schon vor fünftausend Jahren bei den Sumerern so, und es ist auch heute noch gültig. Im Sinne von L. S. Wygotski (1934/1964) bedeutet dies, dass das alltägliche Wissen der Kinder, wie sie es in der Vorschulphase aufbauen, nun um das systematische Lernen erweitert wird. Lesen, Schreiben und Rechnen erfolgen in Sprache, anhand von Sprache und in der Regel in einer spezifischen Sprache, der Schulsprache, die auch die zu erlernende Schriftsprache bereitstellt. Dazu quer liegt der Sachverhalt, dass die Schulsprache nicht selten eine andere ist als die Sprache(n), in der oder in denen die Kinder aufwachsen. Sie sind somit bei Schulbeginn mit einer gänzlich oder zumindest partiell anderen sprachlichen Realität konfrontiert, als sie es in den bisherigen familiären und informellen Situationen erfahren haben. Der Konflikt liegt auf der Hand, ist in vielen Studien facettenreich dargestellt worden und kommt auch im vorliegenden Band zur Sprache. Es handelt sich im Kern darum, dass die Regeln und die Funktionsweise der Institution mit den individuellen sprachlichen Möglichkeiten der Kinder kollidieren. Institutionell geht es darum, inwieweit im Funktionieren der Schule die sprachliche Realität der Kinder ausgeblendet wird – im Sinne von Submersion mit dem Ziel der sprachlichen Assimilation – , so wie das bis in die zweite Hälfte des 20. Jh.s hinein der Regelfall der meisten nationalen Schulsysteme war. Oder, ob im Funktionieren der Schule die anderen sprachlichen Erfahrungen der Kinder bewusst zum Gegenstand mehr oder weniger systematischen Lernens im Rahmen von Förderunterricht oder weitergehend im Rahmen von Konzepten der Mehrsprachigkeit in Form von Spracherhaltungsprogrammen, Immersionsprogrammen oder von Herkunftssprachenunter-

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richt gemacht werden. Die individuelle Seite des Problems besteht darin, wie die von den Kindern im alltäglichen Verkehr aufgebauten sprachlichen Strukturen der Mündlichkeit, der Nähekommunikation, des intimen und informellen Kontakts mit ihrer Umwelt um die Strukturen der nun zu lernenden anderen Dimension, die der Schriftlichkeit, der Distanzkommunikation, des formellen Registers erweitert werden. Im Hinblick auf die damit verbundenen kommunikativen Kompetenzen hat Jim Cummins bereits Mitte der 1980er Jahre die Unterscheidung von BICS (Basic Interpersonal Communication Skills) und CALP (Cognitive Academic Language Proficiency; analog dazu das Konzept der „Bildungssprache“ bei Gogolin 2009) ausgearbeitet, um zu diagnostizieren, welche Hürden im Bewältigen von kommunikativen Anforderungen im Laufe eines schulischen Curriculums zu nehmen sind. Utz Maas wiederum siedelt in seiner Theorie des sprachlichen Ausbaus die auf- und auszubauenden sprachlichen Strukturen im Spannungsfeld des Begriffspaars von „orat“ und „literat“ an und bezieht sie auf die Register der Sprache, die er grob in Intimbereich (Familie, Freunde, etc.), informelle Öffentlichkeit (Straße, Geschäfte [„Markt“] etc.) und formelle Öffentlichkeit ([staatliche] Institutionen, etc.) gliedert (vgl. Maas 2008, 2012). Im Zentrum des sprachlichen Ausbaus steht „die Ausdifferenzierung und Erweiterung der Ressourcen einer Sprache in Reaktion auf die Bewältigung komplexer Aufgaben, insbesondere durch die Nutzung einer Sprache zur Artikulation des förmlichen Registers, also für schriftkulturelle Zwecke“ (Maas 2008, 761). Sprachlicher Ausbau bedeutet letztlich „Gewinn an Autonomie“ (Maas 2012, 516). Der Prozess des sprachlichen Ausbaus verläuft bei vielen Menschen über mehrere Sprachen verteilt, je nachdem, in welcher Sprache das Kind, oder allgemeiner, das Individuum, welche kommunikativen Anforderungen erfüllt. Mehrsprachigkeit bedeutet nicht mehrmalige Einsprachigkeit, d. h. eine Spiegelung der Registerarchitektur der Sprache A in der Sprache B, sondern in der Regel eine funktional verschiedene Ausformung der Register in den einzelnen Sprachen. Ein im Migrations- und Minderheitenmilieu immer wieder anzutreffendes Phänomen besteht zum Beispiel darin, dass in der Mutter- oder/und Familiensprache einer Person die Register der intimen und eventuell auch informellen Kommunikation ausgebaut sind, nicht aber die der formellen Kommunikation. Geschrieben wird in diesem Fall in einer Zweit- oder Drittsprache, die z. B. die Sprache der beruflichen Praxis ist, nicht aber in der Erst- oder Familiensprache. Der Terminus der ‚Mehrschriftigkeit’, wie er im Titel unseres Bandes in Beziehung zu ‚Mehrsprachigkeit’ und zu ‚Schule’ gesetzt wird, ist relativ neu. Das Phänomen hingegen ist weit verbreitet und lange bekannt. Gera-

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dezu augenfällig ist es bei Schriftstellern, Wissenschaftlern und anderen Intellektuellen, die ihre literarischen und wissenschaftlichen Werke in mehreren Sprachen verfassen oder/und in anderen Sprachen als in ihrer Erstsprache schreiben. Die Reihe der AutorInnen ist lang und prominent zugleich: Elias Canetti, Jorge Semprún, Samuel Becket, Maryse Condé, Mircea Eliade im 20. Jh., Alexander und Wilhelm von Humboldt, Karl Marx oder Adalbert von Chamisso im 19. Jh. und, weiter zurück, über Rabelais und Erasmus von Rotterdam bis Dante und Alfons den Weisen (Alfonso X.), um nur einige Namen zu nennen (dazu ausführlich Kremnitz 2004). Ihre Mehrschriftigkeit zeigt uns, dass selbst ein virtuoser Umgang mit Sprache, dass die Entstehung großer Literatur nicht bedenkenlos an ein sog. muttersprachliches Sprachgefühl zu binden ist, sondern auch sie erlernt und gemeistert werden kann, wenn dem nicht Blockaden entgegenstehen. Traumatische Erfahrungen wie Exil und Vertreibung zum Beispiel. Oder die Stigmatisierung von Minderheiten und ihrer Sprachen, die, gäbe es ein Schwarzbuch der Geschichte der Nationalstaaten, viele Seiten füllen würde. Die Diskussion über Mehrschriftigkeit folgt in diesem Band jedoch einer anderen Fluchtlinie. In Anlehnung an einen zentralen Gedanken in Konrad Ehlichs Beitrag wäre diese Fluchtlinie entlang einer Schulkultur der Ermöglichung zu ziehen. Die Mehrschriftigkeit von kulturellen Eliten soll hierbei nicht das Maß der Dinge sein. Schulkinder in Japan, Indien oder Georgien machen es uns vor. Sie erlernen ohne größere Mühe mehrere Alphabete bzw. Schriftsysteme, um darin eine Sprache zu schreiben, genauso wie sie diese Schriftsysteme gleichzeitig für das Schreiben und Lesen anderer Sprachen zu nutzen lernen. Dies wäre eine Seite von Mehrschriftigkeit. In der oben skizzierten Perspektive des Sprachausbaus und in einer Kultur der Ermöglichung tritt als andere Seite die Erweiterung des Inventars an sprachlichen Formen, das die Kinder sich aneignen, hinzu, im Schriftlichen wie im Mündlichen, in einer Sprache wie in weiteren Sprachen. Und sie lernen, im Idealfall, wenn der Unterricht tatsächlich auf die Förderung von Mehrsprachigkeit kalibriert ist, die Kenntnisse in der einen Sprache für das Lernen der anderen Sprache zu nutzen und Transferwissen zur Optimierung von Lernprozessen auszubilden. Dass dies nicht nur Theorie ist, zeigen viele Schulprojekte, die gleichermaßen auf Förderung von Minderheitensprachen wie Landessprachen oder von Migrantensprachen und offiziellen Sprachen ausgerichtet sind. Die kanadischen Immersionsprogramme für Anglophone, die ihre Kinder in minderheitensprachliche französischsprachige Immersionsschulen geben, sind ein vielzitiertes Beispiel. In diesen Klassen finden sich in letzter Zeit, gerade in Westkanada, immer mehr asiatische Kinder