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AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin ... Es ist ein milder Winter dieses Jahr in Berlin. Wenn der Wind weht, .... ‚Emil und die Detektive' und ‚Das doppelte.
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Irina Sehl

Geschichten aus der Volkshochschule Erlebnisberichte

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Der Anfang

Es ist ein milder Winter dieses Jahr in Berlin. Wenn der Wind weht, fühlt es sich fast wie im Frühling an, und das im Dezember. Die Kälte kommt noch, das sind sich alle sicher, jetzt ist es aber so warm, dass die Weihnachtsstimmung sich gar nicht einstellen will. Im großen Klassenraum in einem Oberstufenzentrum in Wilmersdorf ist an diesem Sonnabend die Stimmung alles andere als weihnachtlich. Heute findet die Prüfung ‚Deutsch für den Beruf‘ statt und ich bin die Prüferin. Die Prüfung beginnt mit einem schriftlichen Teil, der bis zur Mittagspause dauert. Ich habe die Aufsicht während der schriftlichen Prüfung, am Nachmittag kommt eine Kollegin, wir werden zu zweit den mündlichen Teil der Prüfung abnehmen. Die zentralen Prüfungen finden immer sonnabends statt, da alle lizenzierten Prüfer unter 4

der Woche unterrichten. Ich habe Prüferlizenzen für die Zertifikatsprüfung ‚Deutsch als Fremdsprache‘ und ‚Deutsch für den Beruf‘. Es ist still im Klassenraum, man hört nur, wie die Bleistifte auf dem Papier quietschen und das eifrige Scheuern mit dem Radiergummi. Die Prüfung wird mit Bleistift geschrieben, damit keine Zeit beim Umschreiben ins Saubere verloren geht. Ich schaue aus dem Fenster. Der Himmel ist blau wie im Frühling, es gibt nur einige harmlose Wölkchen. Draußen ist es auch ruhig, aus dem Fenster sehe ich nur Jogger. Die Schule liegt in einer verkehrsberuhigten Straße an einem Park. Ich versuche, den Moment zu genießen und nicht an den Alltag zu denken. Ich erinnere mich an den Winter in Moskau und an den Dezember, in dem mein Leben sich völlig unerwartet verändert hat. Der Dezember ist kalt in Moskau, es wird auch früh dunkel. Damals, am späten Nachmittag, musste ich zur Arbeit. Meine Mutter

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kam, um auf meine Tochter aufzupassen, solange ich arbeiten war. Das Gute an meiner Arbeit war, dass ich viel Zeit für mein Kind hatte, ich war geschieden und alleinerziehend. Ich unterrichtete montags, mittwochs und freitags an einer Sprachenschule für Erwachsene jeweils acht Stunden. Manchmal musste ich an anderen Tagen erkrankte Kollegen vertreten, die Vorbereitung nahm nicht sehr viel Zeit in Anspruch, in der Schule passierte nicht viel, ein Tag war wie der andere. Eigentlich wollte ich bald mit dem Unterrichten aufhören, einige Monate zuvor hatte ich für einen bekannten Verlag Geschichten aus dem Deutschen und Englischen übersetzt. Dieser Verlag arbeitete eng mit einem Verlag in Ost-Berlin zusammen, es waren sogar gemeinsame Veröffentlichungen geplant. Ich hatte schon einige Artikel über Naturschutz und Waldsterben übersetzt, hoffte aber, dass ich bald vielleicht einen neuen spannenden Roman übersetzen könnte und endlich nicht 6

mehr unterrichten müsste. Es kam aber alles ganz anders. An diesem Dezembernachmittag musste ich früher los, es gab an unserer Schule keinen Unterricht sondern ein Treffen mit Touristen aus der DDR. Wie jedes Jahr hatte die Direktorin unserer Fremdsprachenschule einen deutschsowjetischen Freundschaftsabend organisiert. Sie hatte Beziehungen zu „Intourist“, dem größeren von zwei Auslandsreiseunternehmen in der SU. Eine Touristengruppe aus der DDR wurde mal wieder in unsere Schule eingeladen. Sie hatten keine lange Busreise vom Hotel bis zur Schule, da die Schule direkt im Stadtzentrum und nicht weit vom Kreml lag. Die Abende verliefen immer nach einem und demselben Muster: unsere Kursteilnehmer sagten Gedichte auf Deutsch auf, jemand spielte ein klassisches Musikstück auf dem verstimmten Klavier, danach sangen die DDR-Touristen ein Volkslied. Nach dem Konzert wurden die Touristen auf die Kurse verteilt, damit unsere Kursteilnehmer sich im 7

freien Sprechen üben konnten. In dieser Situation fühlte sich niemand wohl, freies Sprechen mit wildfremden Leuten funktionierte nicht, es fehlte immer der notwendige Wortschatz, außerdem wusste niemand so richtig, worüber man sich unterhalten sollte. Beim letzten Freundschaftsabend musste ich moderieren. Mein Widerstand war zwecklos, da die Schulleiterin ein unschlagbares Argument hatte: „Du bist die jüngste und du wirst das machen!“ Also stand ich auf der Bühne in der Aula und kündigte an: „Jetzt wird Mischa Iwanow auftreten und den ‚Erlkönig‘ von Goethe rezitieren. Jetzt wird unser Chor ‚Das Einheitsfrontlied‘ singen. Jetzt spielt uns Sascha Resnikow einen Strauß-Walzer auf dem Klavier.“ Danach sangen unsere Gäste ‚Hoch auf dem Gelben Wagen‘ man hörte aber nur Frauenstimmen. Nach dem peinlichen Konzert wurden die Touristen auf die Gruppen verteilt. Ein schlanker junger Mann mit aufmerksamen 8

Augen sagte zu unserer Schulleiterin, die mit der Verteilung der Gäste etwas überfordert war: „Ich gehe nur in die Gruppe von der Moderatorin.“ Und so saß er vor meinem Deutschkurs. Ausnahmsweise hatten meine Kursteilnehmer keine Probleme, Fragen zu stellen, sie hatten einen ganz einfachen Weg gefunden, sie fragten auf Russisch und ich sollte übersetzen. Sie versuchten, diesen Mann nach ganz privaten Sachen auszufragen. Da schon Perestroika-Zeit war, brauchte man nicht mehr zu denken, was man sagen durfte und was nicht, deshalb überlegten sie sich überhaupt nicht, was sie da fragten. Ich gab mir Mühe, diese Fragen beim Übersetzen zu entschärfen und schämte mich in Grund und Boden. Die harmlosesten davon waren, wie viel er im Monat verdiente und ob man davon gut leben könne. Dabei wurde der Begriff ‚Gut leben‘ ausführlich definiert. Unseren Gast schien das alles nicht zu beeindrucken, er erzählte irgendetwas über Berlin, 9

wo er herkam, über die Musik, die er gerne hörte, manche Fragen blieben zum Glück unbeantwortet. Endlich war das Treffen zu Ende. Nach dem Treffen sagte er zu mir schnell, dass er eine ganz persönliche Bitte an mich habe, er möchte unbedingt das Borodinopanorama sehen, der Besuch stehe aber nicht auf dem Programm, morgen sei doch Sonnabend, ob ich Zeit hätte, ihn dorthin zu begleiten. Ich sagte zu, er war mir sehr sympathisch und ich schämte mich immer noch für die dummen Fragen, die aus allen Ecken des Klassenzimmers prasselten. Das Borodinopanorama ist ein riesiges Panorama-Gemälde von der größten Schlacht zwischen russischen und französischen Truppen in Borodino bei Moskau während Napoleons Russland-Feldzug 1812. Das ist eigentlich ein ganzes Museum im Südwesten von Moskau, das dem Krieg gegen Napoleon gewidmet ist. Ich übersetzte fleißig für meinen Gast, der sich für jedes kleinste Detail interessierte. 10

Während meines Studiums hatte ich ab und zu als Dolmetscherin gejobbt, war aber noch nie einem Touristen, der sich so für Geschichte interessierte, begegnet. Ich war selbst das erste Mal in diesem Museum und fand es und das Panorama-Gemälde genauso beeindruckend wie mein Gast. Wir verstanden uns auch vom Anfang an sehr gut. Im Frühjahr kam er wieder mit einer Touristengruppe nach Moskau. Bei einem Spaziergang an der Kremlmauer begegneten wir einmal meiner Schuldirektorin, die uns übertrieben freundlich begrüßte. „Jetzt weiß ich, warum er unbedingt in deine Gruppe wollte“, sagte sie auf Russisch. Dabei zuckte ihr Oberlippenbart so komisch, dass ich wie schon öfters einen Schluckauf vom unterdrückten Lachen bekam. Am nächsten Tag wussten alle Kollegen, wie ich meine freie Zeit verbrachte. Es hagelte Ratschläge und Vermutungen, denen ich nicht zuhörte. Mein neuer Bekannter und ich kamen uns immer näher, wir telefonierten jede Woche 11

mit einander, ich besuchte ihn in Berlin, er kam nach Moskau aber nicht mehr mit Touristengruppen. Bald war es uns klar, dass wir uns unsere Zukunft nur gemeinsam vorstellten. Ich fing an, mich auf den Umzug nach Berlin vorzubereiten. Als erstes holte ich meine alten Schulbücher vom Dachboden, stellte ein Schnellprogramm für meine damals achtjährige Tochter zusammen und redete nur Deutsch mit ihr. Und sieh da! Nach einigen Monaten plapperte sie schon auf Deutsch, las ‚Emil und die Detektive‘ und ‚Das doppelte Lottchen‘. Ich war sehr stolz auf sie, fühlte mich auch als Lehrerin bestätigt. Das war ein Deutschunterricht, der Spaß machte. Bei meinem letzten Besuch in Berlin traf ich mich eines Tages mit der netten Frau Rosenträger vom Ost-Berliner Verlag und zeigte ihr die Referenzen aus Moskau und meine Übersetzungen. Sie war begeistert und sagte zu mir, dass sie sich auf die baldige Zusammenarbeit freute. 12

Unsere Ausreise nach Deutschland verlief unspektakulär. Es gab kleine Stolpersteine, die nach alter Tradition russischer Behörden den Menschen immer in den Weg gelegt werden, meine Ausreise konnten sie aber nicht verhindern. In Russland geht man mit den Menschen nicht zimperlich um. Wer unbedingt zu einer Behörde gehen muss, ist immer darauf vorbereitet, dass die zuständigen Beamten zumindest unfreundlich und schlecht gelaunt sind. Viele von ihnen wollen das bisschen Macht in vollen Zügen auskosten, vielleicht leben sie auf diese Weise ihre Minderwertigkeitskomplexe aus. Es kann auch sein, dass sie korrupt sind und ohne Schmiergeld keinen Finger krümmen. Korruption ist ein ewiges Problem in Russland, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwann verschwindet. Es gibt verschiedene Gründe für die großen und kleinen Schikanen bei den Behörden, auf jeden Fall versuchen die meisten Beamten, jedes Treffen mit ihnen 13

so unangenehm wie möglich zu gestalten. Der Mensch selbst ist nicht viel wert, nur eine Schraube in einem komplizierten und wichtigen Mechanismus. Die kaputten Schrauben kann man jederzeit ersetzen, Hauptsache der gesamte Mechanismus funktioniert. Diese Erfahrung machte man in der ehemaligen Sowjetunion schon in der Schule. Meine Schulerinnerungen sind deshalb nicht besonders nostalgisch. Schon in der Grundschule wird den Kindern beigebracht, dass man sich anpassen soll, dass man nichts zu sagen hat, dass man die wenigsten Probleme hat, wenn man so wie die anderen ist. Eigentlich kannte ich damals niemand, der gern zur Schule ging. Disziplin wurde ganz groß geschrieben, ich kann mich noch sehr gut an die Grundschullehrerin erinnern, die mit uns ewig nach dem Unterricht geräuschloses Aufstehen und Hinsetzen geübt hat. Während des Unterrichts spazierte sie zwischen den Reihen mit einem Lineal in der Hand, wer zappelig war, der bekam es sofort zu spüren. 14

Ich glaube, dass die meisten Eltern über diese Erziehungsmethoden Bescheid wussten, es war aber die Zeit, als sich noch niemand traute, zu protestieren. Als meine Tochter in Moskau eingeschult wurde, konnte ich keine großen Veränderungen in meiner alten Schule sehen. Das Schulgebäude war inzwischen saniert, es gab neue Lehrer, die Atmosphäre war aber die alte. Seit meine Tochter sprechen konnte, hatte sie zu allem ihre eigene Meinung, die sie auch immer sehr deutlich zum Ausdruck brachte, es war nicht immer einfach, einen Kompromiss mit ihr zu finden. Einige Wochen nach der Einschulung war sie mit ihrer Lehrerin nicht einverstanden und sagte laut mitten im Unterricht: „Und ich dachte…“ Den Satz konnte sie gar nicht beenden, so schnell die Reaktion der Lehrerin kam: „Hier ist die Schule, hier brauchst du nicht zu denken.“ Es war traurig zu sehen, wie schnell das Kind in diesen zwei Jahren Grundschule in Moskau gelernt hat, seine Meinung für sich zu behalten. 15