Migration und Ethik - PDFDOKUMENT.COM

Carsten Köllmann. Migration in die Illegalität 233. III. STAATSBÜRGERSCHAFT UND. POLITISCHE PARTIZIPATION. Anna Goppel. Wahlrecht für Ausländer? 255. Simone Zurbuchen. Haben Einwanderer Anspruch auf politische Rechte? 275. Robin Celikates. Demokratische Inklusion: Wahlrecht oder Bürgerschaft? 291.
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ethica ethica Cassee/Goppel (Hrsg.) ·

Über diese Fragen ist in den letzten Jahren insbesondere im englischen Sprachraum eine philosophische Debatte in Gang gekommen. Der Band »Migration und Ethik« macht deren zentrale Positionen einem deutschsprachigen Publikum zugänglich und führt die Diskussion kontrovers fort. Thematisiert wird dabei nicht nur, ob Staaten Einwanderungswillige abweisen dürfen, sondern auch, ob niedergelassene Einwanderer Anspruch auf die vollen Bürgerrechte haben und wozu wir gegenüber ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘ und irregulären Migrantinnen verpflichtet sind. Das Buch behandelt so wesentliche Stränge der migrationsethischen Debatte und liefert eine fundierte Auseinandersetzung mit Fragen, die in einer globalisierten Welt stetig an Bedeutung gewinnen.

MIGRATION UND ETHIK

Sind Staaten moralisch dazu berechtigt, die Zuwanderung auf ihr Territorium nach eigenem Ermessen zu beschränken? Ist das Recht auf Ausschluss ein legitimer Bestandteil der nationalen Selbstbestimmung? Oder sollten Staaten vielmehr einen moralischen Anspruch auf globale Bewegungsfreiheit anerkennen?

ISBN 978-3-89785-317-1

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Andreas Cassee/Anna Goppel (Hrsg.)

MIGRATION

UND ETHIK

ethica

Cassee/Goppel (Hrsg.) · Migration und Ethik

ethica Herausgegeben von Dieter Sturma und Michael Quante

Andreas Cassee / Anna Goppel (Hrsg.)

Migration und Ethik 2., unveränderte Auflage

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: © Jacek Pulawski/KEYSTONE

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. = ethica, Band 20 2., unveränderte Auflage 2014

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706

© 2012 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN: 978-3-89785-317-1

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

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Andreas Cassee und Anna Goppel Ein doppeltes Recht auf Ausschluss? Einleitende Gedanken zu Migration und Ethik 9

I. EINWANDERUNG UND TERRITORIALER AUSSCHLUSS Joseph H. Carens Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten

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David Miller Einwanderung: Das Argument für Beschränkungen

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Bernd Ladwig Offene Grenzen als Gebot der Gerechtigkeit?

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Urs Marti Mein und Dein: Eigentum oder Eigenart? Überlegungen zur Begründbarkeit eines Rechts auf Exklusion 89 Michael Walzer Mitgliedschaft und Zugehörigkeit 107 Martino Mona Recht auf Einwanderung oder Recht auf politisch-kulturelle Selbstbestimmung? Zur kommunitaristischen Kritik an einer liberalen Migrationspolitik 147

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Inhaltsverzeichnis

Francis Cheneval und Johan Rochel Rimessen, Personenfreizügigkeit und globale Gerechtigkeit

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Peter Schaber Das Recht auf Einwanderung: Ein Recht worauf?

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II. WIRTSCHAFTLICHE FLUCHTGRÜNDE UND IRREGULÄRE MIGRATION Stephan Schlothfeldt Dürfen Notleidende an den Grenzen wohlhabender Länder abgewiesen werden?

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Andreas Cassee Das Recht zu bleiben. Irreguläre Migration und die Erfordernisse der Gerechtigkeit 211 Carsten Köllmann Migration in die Illegalität

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III. STAATSBÜRGERSCHAFT UND POLITISCHE PARTIZIPATION Anna Goppel Wahlrecht für Ausländer?

255

Simone Zurbuchen Haben Einwanderer Anspruch auf politische Rechte? 275 Robin Celikates Demokratische Inklusion: Wahlrecht oder Bürgerschaft? Die Autorinnen und Autoren

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291

VORWORT Haben Staaten ein moralisches Recht, Einwanderungswillige nach Belieben aufzunehmen oder abzuweisen? Welche Pflichten haben wir gegenüber ›illegalen‹ Migrantinnen und ›Wirtschaftsflüchtlingen‹? Haben Einwanderer einen moralischen Anspruch, als Staatsbürger in die politische Gemeinschaft des Einwanderungslandes aufgenommen zu werden? Über diese und ähnliche Fragen findet seit einigen Jahren insbesondere im englischen Sprachraum eine philosophische Debatte statt, die zunehmend an Fahrt gewinnt. Der vorliegende Band will diese Debatte fortführen und deren zentrale Positionen einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen. Dieses Buch über Fragen der Grenzüberschreitung ist selbst das Ergebnis einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Wir sind vielen zu Dank verpflichtet, die zu seinem Zustandekommen beigetragen haben. An erster Stelle danken wir natürlich den Autorinnen und Autoren sowie Michael Kienecker vom mentisVerlag, der unser Buchprojekt mit viel Sorgfalt und Geduld betreut hat. Ein besonderer Dank gebührt auch Peter Schaber, der an der Entstehung dieses Bandes maßgeblich beteiligt war. Zusammen mit Barbara Bleisch hat er bei mentis den Band Weltarmut und Ethik herausgegeben, an den sich dieses Buch nicht nur im Titel anlehnt. Bei Norbert Anwander bedanken wir uns herzlich für die gelungene Übersetzung des Beitrags von David Miller und bei Andreas Ackermann für seine Hilfe bei den Korrekturen sowie für seine wertvollen Rückmeldungen zur Übersetzung des Artikels von Joseph Carens. Für die Bereitschaft, seine Fotografie für das Cover zur Verfügung zu stellen, möchten wir uns bei Jacek Pulawski bedanken. Dank gebührt schließlich den Herausgebern von ethica, Dieter Sturma und Michael Quante, die dieses Buch in ihre Reihe aufgenommen haben. Dem Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich danken wir für die finanzielle Unterstützung. Und last but not least möchten wir Lisa Brun und Eva Schaufelberger für ihre organisatorische Unterstützung einen ganz besonderen Dank aussprechen. Zürich, Januar 2012

Andreas Cassee und Anna Goppel

Andreas Cassee und Anna Goppel

EIN DOPPELTES RECHT AUF AUSSCHLUSS? Einleitende Gedanken zu Migration und Ethik

Die Fotografie auf dem Cover dieses Buches zeigt einen ›illegalen‹ Migranten aus Nigeria, der in einem schweizerischen Gefängnis seiner Abschiebung harrt. Sie illustriert den Anspruch, den Nationalstaaten darauf erheben, nötigenfalls mit Zwangsmitteln über ihre eigenen territorialen Grenzen zu verfügen: Wer in ein Land einwandern möchte, muss dafür um eine Bewilligung ersuchen; wer sich ohne Bewilligung auf dem Staatsgebiet aufhält, muss damit rechnen, inhaftiert und abgeschoben zu werden. Zusätzlich erheben Staaten auch den Anspruch, über ihre politischen Grenzen zu bestimmen: Sie beanspruchen die Entscheidungskompetenz darüber, wer durch Einbürgerung als neues Mitglied in die politische Gemeinschaft aufgenommen wird. Doch erheben Staaten diesen doppelten Verfügungsanspruch über ihre eigenen Grenzen zu Recht? Steht es ihnen (bzw. ihren Bürgerinnen und Bürgern) frei, Einwanderungs- und Einbürgerungswillige nach Gutdünken aufzunehmen oder abzuweisen? Versteht man diese Frage als eine nach den geltenden Normen des internationalen Rechts, so lautet die Antwort grundsätzlich Ja: Es gibt zwar ein Menschenrecht auf Auswanderung und eines auf innerstaatliche Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, 1 nicht aber ein Menschenrecht auf Einwanderung bzw. zwischenstaatliche Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit. Und auch die Einbürgerungspolitik gehört völkerrechtlich prinzipiell zum domaine réservé souveräner Nationalstaaten. Doch ist das geltende Recht diesbezüglich auch gerechtfertigt? Sind Staaten aus moralischer Sicht dazu berechtigt, Einwanderungswillige nach Belieben abzuweisen? Und wie steht es mit denjenigen, die bereits auf dem Territorium aufgenommen wurden: Ist es ethisch vertretbar, sie von den vollen Bürgerrechten und insbesondere von den politischen Partizipationsrechten auszuschließen? Um diese und ähnliche Fragen soll es in diesem Buch gehen.

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Vgl. Art. 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie völkerrechtlich verbindlich Art. 12 des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte.

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Andreas Cassee und Anna Goppel

Einigen Leserinnen und Lesern werden diese Fragen wahrscheinlich seltsam erscheinen: Sie werden es für selbstverständlich halten, dass es den Bürgerinnen und Bürgern eines Staates überlassen sei, über dessen Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik zu entscheiden. In der Tatsache, dass Nationalstaaten die Einwanderung unterschiedlich restriktiv oder liberal regeln und unterschiedliche Kriterien für die Erlangung der Staatsangehörigkeit vorsehen, werden sie einfach den legitimen Ausdruck unterschiedlicher politischer Präferenzen sehen. Und sie werden darauf verweisen, dass eine Aufhebung des nationalstaatlichen Rechts auf Ausschluss schlicht jenseits des politisch Denkbaren liege. Zwar finden Veränderungen statt; einzelne Staaten haben sich (wie im Fall der Europäischen Union) zu Zonen zusammengeschlossen, innerhalb derer Personenfreizügigkeit gewährt wird. Doch keine Demokratie des globalen Nordens lässt freie Einwanderung aus allen Weltgegenden zu oder vergibt die Staatsbürgerschaft automatisch an alle, die sie haben möchten. Und zumindest in näherer Zukunft dürfte eine solche Aufhebung der Grenzregime politisch auch nirgendwo ernsthaft zur Debatte stehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir den Staaten ein doppeltes Recht auf Ausschluss zugestehen, ist allerdings alleine noch kein Grund, diese Praxis für moralisch gerechtfertigt zu halten. So galt etwa auch die Verweigerung des Frauenwahlrechts lange Zeit vielen schlicht als Selbstverständlichkeit. Es scheint uns gerade die Aufgabe der Philosophie zu sein, auch solche weithin als selbstverständlich geltenden Praktiken auf ihre Rechtfertigbarkeit hin zu hinterfragen. Das heißt natürlich noch nicht, dass das juridische Recht auf Ausschluss tatsächlich ein moralisches Unrecht darstellt. Auch die Tatsache, dass das bestehende Migrationsregime für den Abschiebungshäftling auf unserem Titelbild offenbar überaus unangenehme Folgen hat, vermag ein solches Urteil alleine noch nicht zu begründen. Es mag gute Gründe für Einwanderungsbeschränkungen geben. Wenngleich das Bild selbst also noch keine bestimmte moralische Wertung impliziert, so macht es doch deutlich, dass in der Diskussion über ein Recht auf Ausschluss einiges auf dem Spiel steht. Zu dieser Debatte soll dieses Buch einen Beitrag leisten. Der Band ist grob in drei Themenbereiche gegliedert. Der erste Teil ist der allgemeinen Frage gewidmet, ob Staaten bzw. ihre Bürgerinnen und Bürger das Recht haben sollten, Einwanderungswillige abzuweisen. Im zweiten Teil werden die spezifischen Ansprüche zweier (sich überlappender) Gruppen von Migrierenden verhandelt. Es wird diskutiert, ob und inwiefern ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ und ›illegale‹ Migrantinnen besondere Ansprüche geltend machen können. Der dritte Teil schließlich dreht sich um die Frage, ob diejenigen, die bereits als Bewohner des Territoriums zugelassen wurden, in den Genuss der vollen Bürgerrechte kommen sollten.

Ein doppeltes Recht auf Ausschluss?

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1. Einwanderung und territorialer Ausschluss Wenn wir zu einem begründeten Urteil über die Situation des Migranten auf dem Titelbild kommen wollen, so dürfte die grundlegendste Frage die sein, ob Staaten überhaupt dazu berechtigt sind, Einwanderungswillige abzuweisen. In der politischen Debatte gilt diese Befugnis als so selbstverständlich, dass sie kaum je explizit verteidigt wird. Wenn kontrovers etwa darüber diskutiert wird, ob mehr Einwanderung im wirtschaftlichen Interesse des Landes wäre oder ob vielmehr zusätzliche Restriktionen nötig seien, um Lohndruck auf dem heimischen Arbeitsmarkt zu verhindern, gehen jeweils beide Seiten von denselben normativen Annahmen aus: Dass die bisherigen Bürgerinnen und Bürger eines Staates die migrationspolitische Entscheidungskompetenz haben sollten, dass die Ablehnung eines Einwanderungsgesuchs legitimer Inhalt ihrer Entscheidung sein kann und dass bei der Ausübung dieser Entscheidungskompetenz Parteilichkeit zugunsten der eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürger geübt werden darf, wird stillschweigend vorausgesetzt. Auch in der philosophischen Debatte galt das territoriale Recht auf Ausschluss lange Zeit als selbstverständlich. Dass sich dies geändert hat und insbesondere im englischen Sprachraum eine Debatte über die normativen Grundlagen der Einwanderungspolitik in Gang gekommen ist, 2 ist nicht zuletzt Joseph Carens zuzuschreiben. In seinem hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Aufsatz Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten vertritt Carens die Auffassung, es sei ein Gebot der Gerechtigkeit, die Grenzen für Einwanderungswillige (weitgehend) zu öffnen. Er stützt sich dabei auf drei normative Theorien. Erstens lasse Robert Nozicks Libertarismus, dem zufolge der Zweck des Staates einzig im Schutz individueller Eigentumsrechte besteht, keinen Raum für Einwanderungsbeschränkungen: Diese würden das Recht auf freiwillige wirtschaftliche Transaktionen beschneiden, statt es zu schützen. Zweitens seien Einwanderungsbeschränkungen mit dem Grundgedanken von John Rawls’ Vertragstheorie der Gerechtigkeit unvereinbar: Wenn wir nicht wüssten, in welchem Land der Welt wir geboren werden und welche Lebenspläne wir verfolgen, würden wir uns darauf einigen, die zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit in die Liste der Grundfreiheiten aufzunehmen. Diese Grundfreiheiten dürfen nach Rawls nur um der Freiheit selbst willen eingeschränkt werden. Einwanderung dürfte deshalb nur dann beschränkt werden, wenn eine realistische Bedrohung für die öffentliche Ordnung insgesamt bestünde (Carens nennt dies die »Restriktion der öffentlichen Ordnung«). Und schließlich spreche auch eine utilitaristische Hintergrundtheorie gegen die moralische Legitimität von Einwanderungsbeschränkungen, wie wir sie kennen. 2

Für eine frühe Übersicht über die Debatte vgl. Barry/Goodin 1992. Für neuere Beiträge siehe u.a. Pevnick 2011; Wellman/Cole 2011.

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Andreas Cassee und Anna Goppel

Stellen die bestehenden Einwanderungsbeschränkungen also eine Verletzung von Freiheitsrechten und Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit dar? Sind sie, wie Arash Abizadeh in einem neueren Artikel argumentiert hat, 3 auch demokratisch defizitär, weil diejenigen, denen gegenüber sie mit Zwang durchgesetzt werden, bei der politischen Entscheidung über die entsprechenden Regeln keine Stimme haben? Die gegenteilige Ansicht, dass ein nationalstaatliches Verfügungsrecht über die eigenen Grenzen durchaus mit dem liberalen Bekenntnis zur Autonomie als zentralem politischem Wert vereinbar sei, vertritt eine Gruppe von Autorinnen und Autoren, die als ›liberale Nationalistinnen‹ bezeichnet werden. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Position ist David Miller. 4 In seinem in diesem Band erstmals auf Deutsch veröffentlichten Aufsatz Einwanderung: Das Argument für Beschränkungen verwirft er zunächst drei Argumente für ein Recht auf Einwanderung. Der Schluss vom menschenrechtlich verbrieften Anspruch auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit auf ein Menschenrecht auf zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit sei fragwürdig, weil schon die innerstaatliche Bewegungsfreiheit nicht unbeschränkt gelte – man denke etwa an die Verkehrsregeln. Ein eigentliches Grundrecht bestehe nur auf genügend Bewegungsfreiheit, um eine angemessene Auswahl an Optionen in wichtigen Lebensbereichen wie der Berufswahl oder der Partnersuche zu haben. Dafür sei ein Recht auf Einwanderung in einen anderen Staat aber typischerweise nicht nötig. Auch aus dem Recht auf Auswanderung lasse sich kein Recht auf Einwanderung ableiten. Es bestehe vielmehr eine Asymmetrie zwischen Ein- und Austritt, wie sie etwa auch mit Blick auf die Ehe gelte: Niemand hat das Recht, einen Partner zu heiraten, der diese Ehe seinerseits nicht eingehen will. Schließlich vermöge auch das Argument, dass die Grenzen um der globalen Chancengleichheit willen geöffnet werden sollten, nicht zu überzeugen: Es sei vielmehr plausibel anzunehmen, dass der Anwendungsbereich der Prinzipien distributiver Gerechtigkeit auf den Einzelstaat beschränkt sei. Miller zufolge ist das Recht auf Ausschluss ein wichtiger Bestandteil des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Die bisherigen Mitglieder einer nationalstaatlichen Gemeinschaft tun kein Unrecht, wenn sie die Einwanderung begrenzen, etwa um damit über ihre eigene kulturelle Zukunft zu bestimmen. Bernd Ladwig versucht in seinem Beitrag, eine Mittelposition zu begründen. Er spricht sich zunächst dafür aus, den Anspruch auf Bewegungsfreiheit ernst zu nehmen. Es sei von einem »Kosmopolitismus der Rechtfertigung« auszuge3 4

Abizadeh 2008. Für eine kritische Einschätzung vgl. Miller 2010. Vgl. auch Tamir 1995; Kymlicka 1996. Gemeinsam ist diesen Autorinnen und Autoren die Ansicht, dass nationale Identitäten innerhalb eines liberalen Ansatzes eine bedeutende Rolle spielen, wobei sich ihre Begründungen im Einzelnen unterscheiden. So betont Kymlicka die Bedeutung eines kulturellen Hintergrunds für die individuelle Autonomie, während andere Autoren stärker mit dem Anspruch auf nationale Selbstbestimmung argumentieren.

Ein doppeltes Recht auf Ausschluss?

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hen. Dies schließe von vornherein gestufte Rechtfertigungspflichten aus. Und die Bewegungsfreiheit sei in doppelter Hinsicht gerechtigkeitsrelevant: zum einen instrumentell, weil sie die ökonomischen Aussichten von Individuen beeinflusst; zum anderen (gegen Miller) aber auch deshalb, weil sie selbst ein intrinsisch wertvolles Grundgut sei. Wer die Einwanderung begrenzen möchte, nicht wer sie zulassen wolle, stehe deshalb in der Rechtfertigungspflicht. Eine solche Rechtfertigung könne aber gelingen, und zwar mit Blick auf die »Restriktion der öffentlichen Ordnung«, der Ladwig eine stärkere Deutung gibt als Carens: Ladwig zufolge dürfen Staaten die Einwanderung nicht nur beschränken, wenn der Verlust einer gerechten Ordnung überhaupt droht, sondern auch, um ihr spezifisches nationalstaatliches Gerechtigkeitsprojekt, das universale Gerechtigkeitsprinzipien auf jeweils besondere Weise realisiert, vor abrupten Brüchen zu bewahren. Urs Marti wählt einen ideengeschichtlichen Zugang zur Einwanderungsfrage. Ausgehend von Kants Ansicht, dass »ursprünglich […] niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat, als der Andere« 5, wirft er die Frage auf, um welche Art von ›Mein und Dein‹ es in der Einwanderungspolitik gehe. Seine Diagnose: In der liberalen Tradition bestehe ein enger Zusammenhang zwischen staatlicher Souveränität und privatem Eigentum; erstere werde wesentlich durch letzteres gerechtfertigt. Wenn überhaupt, könne ein Recht auf Ausschluss in einem liberalen Staat deshalb nur im Rekurs auf Eigentum gerechtfertigt werden, nicht aber im Rekurs auf die Eigenart einer kulturellen Gemeinschaft. Der klassische Vertreter der gegenteiligen Auffassung ist der Kommunitarist Michael Walzer. Seiner Ansicht nach ist gerade die Wahrung der Eigenart einer kulturellen Gemeinschaft der legitime Zweck von Einwanderungsbeschränkungen. Ohne sie gäbe es »keine spezifischen Gemeinschaften, keine historisch stabilen Vereinigungen von Menschen, die einander in einer speziellen Weise verbunden und verpflichtet sind und die eine spezielle Vorstellung von ihrem gemeinsamen Leben haben« 6. Entlang der Analogien des Clubs 7 und der Familie entwickelt Walzer eine Position, der zufolge es den einzelnen nationalen Gemeinschaften weitgehend frei steht, Fremde aufzunehmen oder abzuweisen. Wer einmal als 5 6 7

Kant AA VIII, S. 358; Dritter Definitivartikel. Walzer in diesem Band, S. 143, Hervorhebung im Original. Wellman (z.B. 2008) nimmt diese Analogie zwischen Staaten und Clubs wörtlich und sieht das Recht auf Ausschluss als Teil des Rechts auf Vereinigungsfreiheit gerechtfertigt. Im Gegensatz zu Walzer beruft er sich dabei nicht auf nationale Identitäten – Clubs genießen ein Recht auf Ausschluss völlig unabhängig davon, ob ihre Mitglieder sich kulturell besonders nahe stehen, so Wellman. Auch Singer (1994) bespricht ein Club-Beispiel, das allerdings den gegenteiligen Schluss nahelegen soll, dass Einwanderungsbeschränkungen angesichts der weltweiten Unterschiede bezüglich Lebensstandard und Lebenserwartung moralisch problematisch sind: Er vergleicht die wohlhabenden Staaten mit einem Club von Reichen, die privat einen luxuriös ausgestatteten Atombunker bauen und nach Eintreten der Katastrophe Nichtmitglieder der Strahlung anheimstellen, weil sie nicht auf den Tennisplatz in ihrem Bunker verzichten wollen.

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Andreas Cassee und Anna Goppel

Einwanderer aufgenommen werde, dem dürfe die volle Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft aber nicht langfristig verweigert werden: Dies gehöre nicht zur »gemeinschaftlichen Freiheit«, sondern sei vielmehr eine Form von Tyrannei. Martino Mona kritisiert, Walzer wolle das berechtigte Anliegen des Schutzes kultureller Gemeinschaften mit den falschen Mitteln betreiben. In unseren pluralistischen Gesellschaften gebe es keine allumfassende nationale Kulturgemeinschaft, sondern eine Vielzahl verschiedener kultureller Gemeinschaften (man denke beispielsweise an die Unterschiede zwischen den Hells Angels und der Religionsgemeinschaft der Amischen). Es sei zwar richtig, die Selbstbestimmungsrechte kultureller Gruppen hochzuhalten. Doch dazu sollte diesen Gemeinschaften selbst – nicht etwa liberalen Staaten – ein Recht zugestanden werden, Außenstehende auszuschließen. Francis Cheneval und Johan Rochel sprechen sich aus der Perspektive eines empirisch informierten migrationsethischen Ansatzes für eine kontrollierte Liberalisierung des Grenzregimes aus. Sie befassen sich mit dem Phänomen der Rimessen, der Geldflüsse von Migrantinnen und Migranten an Angehörige und Freunde in den Herkunftsländern. Ihr Urteil: Die entwicklungsökonomische Bedeutung der Rimessen werde oft unterschätzt. Aus ethischer Perspektive verliehen sie den Gründen zusätzliches Gewicht, die für eine offenere Einwanderungspolitik sprechen, da sie der individuellen Autonomie zuträglich seien und einen Beitrag zur Erfüllung der allgemeinen Hilfspflicht reicher Staaten gegenüber den global Armen darstellten. Peter Schaber rundet den ersten Teil des Buchs mit seinem Beitrag über die Frage ab, worauf ein Recht auf Einwanderung, so sich ein solches begründen ließe, eigentlich ein Recht wäre. Seine These lautet, dass nur eine liberale Argumentation, die sich auf individuelle Freiheitsrechte beruft, ein universales Recht auf Einwanderung zu begründen vermag. Argumentiere man mit der Chancengleichheit oder mit dem utilitaristischen Prinzip der Gesamtnutzenmaximierung, so könne man einen Anspruch auf Einwanderung hingegen nur für bestimmte Personengruppen begründen. Verstehe man das Recht auf Einwanderung als ein universales Recht auf liberaler Grundlage, so bestehe dieses Recht aber nur in der Erlaubnis, sich in einem Land seiner Wahl niederzulassen. Daran dürfe einen der Staat nicht hindern. Ein Anspruch auf Teilhabe am Wohlstand reicher Länder lasse sich aus einem so verstandenen Recht auf Einwanderung hingegen nicht ableiten.