Meine Soldaten- und Kriegszeit

Eine sanfte Ermahnung!“. Auf unserem Gut Pokiertynie I ...... Im Dezember 1989 erklärte die Litauische Kommunistische Partei ihre Trennung von der. KPdSU34.
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Meine Soldatenund Kriegszeit Kriegstagebuch von Johann Gräpel aus den Jahren 1915 - 1919 Herausgegeben von Volker Wolters

Meine Soldatenund Kriegszeit Aufzeichnungen des Gefreiten Johann Gräpel über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg vom 08. Januar 1915 bis zum 08. Januar 1919.

Privatdruck Volker Wolters Hoher Weg 7 27337 Blender

Telefon 04233-942813 Telefax 04233-942815 E-Mail [email protected]

Vorwort Mein Großvater Johann Gräpel wurde am 14. Dezember 1894 in Steinborn bei Asendorf, Landkreis Diepholz geboren. Nach seinem Tod am 27. Dezember 1993 fanden wir neben vielen anderen alten Erinnerungsstücken auch sein handschriftlich geführtes Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg.

Während seiner Zeit im Ersten Weltkrieg hat Johann Gräpel auch eine Vielzahl von Feldpostbriefen nach Hause geschrieben. Aufgrund der Inhalte dieser Feldpostbriefe hat er vor vielen Jahren sein ursprüngliches Kriegstagebuch überarbeitet und gleichzeitig mit der Schreibmaschine neu geschrieben. Das überarbeitete Kriegstagebuch sowie die vielen Feldpostbriefe, zum Teil mit Fotografien sowie seine weiteren militärischen Unterlagen, wie z. B. Soldbuch, Wehrpass und Abzeichen, wurden ebenfalls aufgefunden.

Nach Durchsicht dieser Unterlagen kam mir der Gedanke, hieraus ein Buch zu schreiben, um diese Kriegserinnerungen für die Nachwelt festzuhalten. Die nachstehenden Informationen zu



den weiteren Auszeichnungen von Johann Gräpel und der



Geschichte Litauens

stammen aus dem Internet. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang meiner Arbeitskollegin Petra Haltermann für eine erste Durchsicht des Buches und vor allem meiner Frau Silke für die sorgfältige Endkorrektur. Blender, im Dezember 2004

Volker Wolters

Inhaltsverzeichnis 1. Die Musterung .................................................................................................................. 1 2. Grundausbildung in Hannover .......................................................................................... 2 3. Das Munsterlager.............................................................................................................. 6 4. Soldatenlieder ................................................................................................................... 7 5. Es geht ins Feld .............................................................................................................. 10 6. Ankunft in Russland ........................................................................................................ 13 7. Die Feuertaufe ................................................................................................................ 15 8. Die neue Stellung ........................................................................................................... 17 9. Die Verwundung ............................................................................................................. 22 10. Weiter gen Osten .......................................................................................................... 24 11. Gut Antomir................................................................................................................... 28 12. Gut Pokiertynie I ........................................................................................................... 32 13. Die Zeit in der Schreibstube .......................................................................................... 36 14. Revolution ..................................................................................................................... 44 15. Der Rückzug ................................................................................................................. 46 16. Die letzen Tage ............................................................................................................. 50 Anhang .............................................................................................................................. 52 A. Weitere Auszeichnungen von Johann Gräpel ............................................................ 53 1. Die Kriegsdenkmünze 1914/18 des Kyffhäuser-Bundes ................................................. 53 2. Ehrenkreuz für Frontkämpfer .......................................................................................... 55 B. Weitere Unterlagen....................................................................................................... 57 1. Militärpass ...................................................................................................................... 57 2. Soldbuch......................................................................................................................... 58 C. Die Geschichte Litauens .............................................................................................. 59 1. Die Anfänge .................................................................................................................... 59 2. Der Erste Weltkrieg ......................................................................................................... 60 3. Die Unabhängigkeitserklärung - Die erste Republik ........................................................ 61 4. Der Zweite Weltkrieg....................................................................................................... 62 5. Die deutsche Besetzung ................................................................................................. 63 6. Die sowjetische Besetzung ............................................................................................. 64 7. Die Unabhängigkeit seit 1991 ......................................................................................... 65 D. Daten über Litauen ....................................................................................................... 66 E. Landkarten .................................................................................................................... 68 1. Europakarte 2004 ........................................................................................................... 68 2. Litauen 1935 ................................................................................................................... 69 3. Ostpreußen 1914 ............................................................................................................ 70 4. Das heutige Litauen ........................................................................................................ 71

1. Die Musterung Am 27. November 1914 fand die erste Kriegsmusterung für die zurückgestellten Mannschaften

der

Jahrgänge

1892,

1893

und

1894

im

Hotel

„Dörgeloh“

in Bruchhausen-Vilsen statt. Meinem Geburtstag zufolge, dem 14. Dezember 1894, hatte ich auch dort zu erscheinen und wurde als „tauglich für Infanterie I" befunden. Sechs Wochen konnte ich noch zu Hause bleiben, dann schlug für mich die Abschiedsstunde. Am 08. Januar 1915 hatte ich mich beim Bezirkskommando in Nienburg zu stellen. Es waren vielleicht zweihundert Mann, die zusammenkamen.

Unteroffiziere

der

Ersatzbataillone der Infanterieregimenter 73 und 74 aus Hannover standen schon bereit, uns abzuholen. Nach Verlesung der Anwesenheitsliste Singen Bahnhof,

des von

ging es mit dem

Deutschlandliedes wo

die

zum

Abfahrt

zum

Garnisionsort erfolgte.

Vorladungsschein für die Musterung

Seite 1

2. Grundausbildung in Hannover Nach Ankunft in Hannover, ich war den 73igern zugeteilt worden, traten wir dann den Marsch zur Bultkaserne an und wurden dort an die Kompanien des Rekruten-Depots überwiesen. Diese Rekruten-Depots hatten keine Nummern, sondern trugen den Namen des jeweiligen Kompanieführers. Meine Kompanie hieß „Stein“. Infolge eines Offiziermangels hatte man ältere Feldwebel zu Offiziers-Stellvertretern gemacht und diese mit der Führung beauftragt. In der Kaserne fand ich schon Bekannte vor, die schon sechs Wochen „krumm hatten“1. Dieses waren unter anderem Heinrich

Mahlstädt

Steinborn,

sowie

Heinrich

Dreyer

aus Tischler aus

Kampsheide. Beide waren bei der Kompanie „Föckel“. Als gut bekannten

Stubengenossen

hatte ich Georg Marquard aus Haendorf bei mir. Bultkaserne in Hannover

1

Anderer Begriff für „in der Ausbildung waren“

Seite 2

Am zweiten Tag wurden wir eingekleidet. Wir erhielten noch die blauen Uniformen, die

aber

sehr

abgetragen

waren.

Die ersten Tage gingen mit dem üblichen Arm-, Bein- und Fußspitzenrollen sowie Marschieren hin. Am vierten Tag bekamen wir unsere Gewehre. Es war das Modell 71, das hinsichtlich seiner Größe und Schwere nicht sehr handlich war. Nun ging das Griffekloppen los, immer Gewehr auf und Gewehr wieder ab. Als nächstes kam das Zielen an die Reihe. Kasernenhofdrill und Ausmärsche in die Umgebung von Hannover wechselten in ständiger Folge. Auf der kleinen Bult hinter der Stadthalle habe

rechts: Johann Gräpel

ich

manchen

Schweißtropfen

vergossen. Nach dreiwöchigem Dasein hatten wir das erste Scharfschießen auf den Schießständen der Bult. Wir erhielten hierzu das Gewehr Modell 98. Ich konnte die Bedingungen „Hundertfünfzig Meter Scheibe liegend aufgelegt, drei Schuss“ mit insgesamt dreißig Ringen gut erfüllen. Auch bei den späteren Schießen schnitt ich gut ab, bis auf „stehend freihändig“. Da habe ich auch mal „Gewehr pumpen müssen“2. Die Zeit im Rekruten-Depot dauerte fünf Wochen. Anschließend wurde ich mit anderen Kameraden zu der 2. Kompanie des 2. Ersatz-Bataillons Füsilier-Regiment 73 überwiesen. Mit unseren Habseligkeiten bezogen wir nun die Kaserne Nr. 3 am Waterlooplatz in Hannover. Die Kasernen waren alt und hatten wohl schon zu hannoverschen Zeiten Soldaten als Aufenthalt

gedient.

Wasser

musste

in

Eimern

heraufgetragen

werden,

ebenso

Schmutzwasser wieder herunter. Latrinen ohne Wasserspülung waren auf dem Hof hinter der Kaserne. Alles sehr primitiv. Ein Glück, dass es elektrisches Licht gab, da in der Bultkaserne beim Stubendienst noch Petroleumlampen gesäubert werden mussten.

2

Dann musste das 9 – 10 Pfund schwere Gewehr 98 mit beiden Armen vorgestreckt werden, während man dabei langsam in die Kniebeuge ging. Schon nach den ersten Dutzend solcher Übungen fingen die Arme und Beine an zu zittern.

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Wir wurden nun in die feldgraue Kluft gekleidet. Ein Vorteil hiervon war, dass das Blankputzen der Knöpfe entfiel. Uns schwoll die Brust, kamen wir der Kriegswirklichkeit doch näher. Jedoch herrschte hier auch ein anderer Wind. Mit dem Spieß war nicht zu spaßen, auch zu den oberschlesischen Unteroffizieren hatten wir nicht das größte Vertrauen. Von nun ab war die Ricklinger Ohe und die Vahrenwalder Heide unser Ausbildungsgelände. Namentlich auf der letzteren hat uns unser Bataillonskommandeur Hauptmann von Ahlemann oft Dampf gemacht. Sowohl bei hohem Schnee, wie auch an den ersten warmen Märztagen haben wir mit dem Sandsack im Tornister die Gegend um Langenhagen und Engelbostel durchstreift. Ich erinnere mich noch genau an einen Sonnabend. Ich hatte für den folgenden Sonntag Urlaub eingereicht. Für diesen Sonnabend war nun eine Bataillonsübung angesetzt worden. In der Nacht von Freitag auf Sonnabend war dermaßen viel Schnee gefallen, dass der gesamte Verkehr in Hannover stockte. Während die anderen Truppenteile an diesem Morgen in der Kaserne blieben, zog unser Hauptmann von Ahlemann mit uns hinaus in den knietiefen Schnee bis nach Langenhagen zur Gefechtsübung. Völlig durchnässt kamen wir erst gegen 13.00 Uhr wieder zurück. Nach dem Essen war bis 15.00 Uhr Bettruhe angeordnet. Alsdann mussten Gewehr und Sachen in Stand gesetzt werden und vieles mehr. Ich konnte nun nicht mehr so zeitig fahren, um in Hoya den letzten Zug nach Asendorf zu erreichen. Auch musste ich erst zur Bahnhofskommandantur, um mir eine Genehmigung für die Benutzung von D-Zügen3 einzuholen. Uns Landsern4 war die Benutzung von D-Zügen nur im Ausnahmefall gestattet. Mein Kamerad Heinrich Ehlers aus Hassel bemühte sich um eine Genehmigung. Sie wurde ihm jedoch mit der Begründung versagt, dass er noch den nachfolgenden Personenzug benutzen könne und die vier Kilometer von Eystrup nach Hassel auch gut zu Fuß gehen könnte. Ich hatte nun in Eystrup Anschluss an den letzten Zug nach Hoya, wo ich gegen 22.30 Uhr ankam. Hier lag auch hoher Schnee, der noch nicht geräumt wurde. Nun ging der Fußmarsch nach Steinborn los (zwölf Kilometer). Bis Tivoli hatte ich noch Gesellschaft von Kameraden, die aber dann nach Sellingsloh gingen. Ich musste nun alleine weiter, hatte noch sieben Kilometer vor mir und war schon so müde. Bis halb den Duddenhauser Berg hinauf ging es noch, da wollten die Beine streiken. Auf einem Kilometerstein ruhte ich mich erstmal aus. Endlich zwang ich mich zum Weitergehen und gelangte nachts um 01.00 Uhr zu

3

4

D steht hierbei für Durchgang. Ursprünglich wurden Züge damit bezeichnet, die durch ihre Bauart bedingt durchgehbar waren (im Gegensatz zum Abteilwagen alter Bauart). Später wurde diese Bezeichnung für Züge benutzt, die auf überregionalen Strecken sehr wenige Halte hatten. Umgangssprachlich für einen Soldaten

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Hause an. Ich war auch am Ende meiner Kräfte, weiter hätte ich nicht gekonnt. Für den Rest der Nacht schlief ich nun den Schlaf des Gerechten. Ich wachte erst am hellen Vormittag auf. Die Zeit zu Hause verging schnell. Versehen mit Mutters Proviant musste ich schon um 18.30 Uhr wieder den Zug in Asendorf besteigen, da ich pünktlich um 22.00 Uhr wieder in Hannover sein musste. Karfreitag wurde unsere Gruppe zum Wachdienst in die Bultkaserne kommandiert. Die Wache dauerte insgesamt vierundzwanzig Stunden, im Wechsel erst zwei Stunden Dienst und dann vier Stunden Ruhe. Ich brauchte allerdings nicht Posten zu stehen, sondern wurde als Ordonanz zugeteilt und hatte Besucher vom Kasernentor in die Kaserne zu geleiten. Weiterhin musste ich einige Laufdienste verrichten.

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3. Das Munsterlager Unser Dasein auf dem Waterlooplatz dauerte bis zum 07. April 1915. An diesem Tag wurden wir mit dem Ziel „Munsterlager“ verladen.

Dort angekommen,

präsentierte sich eine Holzbaracke als Unterkunft. In manchen Nächten war es trotz eines kleinen Ofens empfindlich kalt. Das Soldatenleben nahm hier einen kriegsähnlichen Charakter an. Viele Platzpatronen wurden verknallt. Das war so der einzige Spaß, alles andere war auf deutsch gesagt „Scheiße“. Die Verpflegung ließ auch zu wünschen übrig. Ein Glück, dass die Pakete von zu Hause die Lücke ausfüllen konnten. Im Munsterlager brachte man uns auch das Geländeschießen bei. Jeder durfte fünfundzwanzig scharfe Patronen auf sogenannte „Pappkameraden“ verfeuern. Das war der letzte Schliff, den wir im Übungsbataillon „Major Kunze“ hatten. Am 27. April

Johann Gräpel im Munsterlager

1915 war Besichtigung durch den kommandierenden General mit einer verbundenen Gefechtsübung. Wie die Kritik ausgefallen war, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls waren wir froh, am anderen Tage der Munster Heide den Rücken zu kehren und wieder in Hannover zu sein. Wir konnten leider unsere lieb gewonnene Bude in der Kaserne nicht wieder beziehen, sondern mussten mit einem Saalquartier vorlieb nehmen. Uns Munsterleute verteilte man wieder auf die Kompanien. Viel Dienst haben wir nicht mehr gemacht. Ich war noch zweimal mit auf Schlosswache. Von hier aus wurden die Wachen am Zeughaus, beim Archiv, den Regierungsgebäuden und der Brückmühle bezogen. Der Wachdienst dauerte wieder vierundzwanzig Stunden, davon immer zwei Stunden Postenstehen und vier Stunden ruhen. Im allgemeinen wurden die Munsterleute von den Vorgesetzten als alte Soldaten angesehen, die für das Feld reif waren. Einem Drill wurden wir nicht mehr ausgesetzt.

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4. Soldatenlieder Wir Soldaten verkehrten, sofern wir Zeit und Geld hatten, im Rheinischen Hof, einem Lokal in der Schillerstraße. Sonntagabends ging es dort hoch her. Eine Hauskapelle spielte dort Vaterländische Weisen. Alle sangesfreudigen Soldaten sangen dann feste mit. Das folgende Lied hatte einen hohen Stellenwert: Des Seemanns Los Stürmisch die Nacht und die See geht hoch, tapfer noch kämpft das Schiff. Warum die Glocke so schaurig klingt, dort zeigt sich ein Riff. Brav ist ein jeder an seinem Stand, ringt mit der See für das Vaterland, Dem Tode nah, dem Tode nah, furchtlos und mutig stehn alle da. Refrain: Laut ruft die Glocke jetzt über das Deck, nichts half das Kämpfen, das Schiff, es ist leck. Macht Euch bereit, macht Euch bereit, jetzt segeln wir in die Ewigkeit. Gott sei mit uns. Wir gehen schlafen am Grunde des Meeres, Gott sei mit uns. Als nun die stürmische Nacht vorbei, ruht ach so tief das Schiff. Dort ziehn Delphine und gierige Hai', rings am hohen Riff. Von allen Menschen, so lebensfroh, keiner dem grausigen Tod entfloh, Dort unten auf dem Meeresgrund, schlummern sie friedlich mit bleichen Mund. Refrain

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Still rauscht das Meer jetzt sein uraltes Lied, mahnend dringt es uns tief ins Gemüt. Seemann gib acht, Seemann gib acht, horch was der Wind und das Meer dir sagt: Schlaft wohl, schlaft wohl. Unter Korallen in friedlicher Ruh, Schläfst dereinst auch Du. Auch das Engellandlied wurde im Rheinischen Hof gesungen: Das Engellandlied Heute wollen wir ein Liedlein singen, trinken wollen wir den kühlen Wein. Und die Gläser sollen dazu klingen, denn es muß, es muß geschieden sein. Refrain: Gib' mir deine Hand, deine weiße Hand, Leb' wohl, mein Schatz, leb' wohl mein Schatz, Leb' wohl, lebe wohl. Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland, Engelland. Unsre Flagge und die wehet auf dem Maste, sie verkündet unsres Reiches Macht. Denn wir wollen es nicht länger leiden, daß der Englischmann darüber lacht. Refrain

Kommt die Kunde, daß ich bin gefallen, daß ich schlafe in der Meeresflut, Weine nicht um mich, mein Schatz, und denke: für das Vaterland da floß sein Blut. Refrain

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Anfang des Ersten Weltkrieges wollte man den Tagesgruß: „Guten Tag“ ändern in „Gott strafe England“, während der Angesprochene dann erwidern sollte: „Er strafe es“. Doch das hat sich nicht einbürgern können, da auch die Kirchen dem ablehnend gegenüberstanden.

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5. Es geht ins Feld Nach einigen Tagen stellte man den ersten Feldtransport zusammen. Ich war noch nicht darunter, aber mein Freund und Kamerad Heinrich Koch aus Doenhausen bei Eystrup. Der Transport ging zu den Karpaten. Lange dauerte es nicht mehr, da kamen auch wir übrigen an die Reihe. Am 08. Mai 1915 wurden wir neu eingekleidet und erhielten feldmäßige Ausrüstung wie Feldzwiebäcke, eiserne Portion5 und anderes mehr. Gewehr und Seitengewehr6 erhielten wir jedoch noch nicht. Der 09. Mai 1915 war ein Sonntag, den haben wir noch einmal tüchtig durchgekostet. Dietrich Wendt aus Duddenhausen und Johann Dickhoff aus Haendorf waren auch zugegen. Am Montagmorgen war noch Appell mit allem, was wir empfangen hatten. Mittags war der denkwürdige

Ausmarsch

vom

Waterlooplatz

zum

Güterbahnhof

Mühringsberg.

Ganz Hannover war auf den Beinen, denn es zogen viele hinaus. Beim Abmarsch stand unser Unteroffizier Urbantczyk (Oberschlesier) am Wege und drückte jedem seiner Korporalschaft tränenden Auges die Hände. Er war schon an der Front gewesen und wusste, was uns bevorstand.

Am späten Vormittag begann unser Transportzug zu rollen. Die große Frage lag offen: „Wohin geht es, nach Westen oder nach Osten?“ Der Schleier lüftete sich schon, als der Zug durch den Hauptbahnhof Richtung Lehrte fuhr. Da war es Gewissheit, es ging Richtung Russland. Berlin durchfuhren wir um Mitternacht, konnten also von der Reichshauptstadt nicht viel sehen. Die meisten von uns lagen in den Abteilen auf den Böden und Bänken im tiefen Schlaf. Eintönig sangen die Räder das Schlummerlied. Im Morgengrauen ging es bei Küstrin über die Oder. Weiter nach Landsberg an der Warthe, dann zum Eisenbahnknotenpunkt Kreuz. Hier wurde der erste Halt gemacht. Wir sind schnell raus aus den Abteilen und haben uns die Füße vertreten. Es war früh am Morgen und recht kühl. Hier bekamen wir die Morgenverpflegung: heißen Kaffee und trocken Brot.

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Notverpflegung

6

Kurze Hieb- und Stichwaffe, die an der Seite zu tragen war. Dient auch als Bajonett (Dolch, der für den Nahkampf auf den Gewehrlauf gesetzt wird).

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Bald darauf rollten wir gen Schneidemühl auf Bromberg und Thorn zu. Hier bekam man die ersten Schützengräben zu Gesicht. Bei Thorn war ein ganzes Waldstück gefällt worden, um freies Schussfeld zu haben. Gegen Abend ging die Fahrt schon durch das ostpreußische Land. In der Dämmerung hielt der Zug bei einem Sägewerk. Raus aus dem Abteil und kurze Bretter geklaut war das Werk eines Augenblicks. Wir legten dieselben nun quer über die Bänke, so dass ein Teil der Mannschaft auf dem Boden, die anderen ein Stockwerk höher auf den Brettern schlafen konnte. Auch diese Nacht nahm ein Ende. Mittwochmorgen waren wir in Allenstein. Der Transport wurde nun auf die Strecke nach Ortelsburg geleitet. Auf diesem Gelände hatte sich die Tragödie der Tannenbergschlacht abgespielt. Ein großer Teil des russischen Heeres war hier vernichtet und gefangen genommen worden. Die Schrecken des Krieges wurden auch sichtbar: abgebrannte Gebäude sowie Soldatengräber säumten die Bahnstrecke. Über Johannisburg ging es zur Grenzstation Dlottowen. Hier war vor dem Krieg die Bahnstrecke zu Ende gewesen. Eisenbahnpioniere hatten dieselbe aber bis zu dem zwölf Kilometer entfernten polnischrussischen Städtchen Kolno verlängert. Gegen Mittag wurde zum Aussteigen geblasen. Russland hatte uns jetzt aufgenommen.

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Streckenkarte Norddeutschland 1914

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6. Ankunft in Russland Nachdem wir das Gepäck aufgebürdet hatten, sind wir in Gruppenkolonne angetreten und in das Städtchen Kolno einmarschiert. Es kam einem dort so anderes vor: holpriges Pflaster, schmierige Juden mit wallenden Bärten und langem Kaftan7 belebten die Straßen. Auch die Bauweise der Häuser ist mit der deutschen nicht zu vergleichen. Kurzum, es ist nicht Deutschland. Auf dem Marktplatz wurde erstmal Halt gemacht. Kleine Judenjungen drängelten

sich

durch

unsere

Reihen, um Gebäck und andere Sachen zu verkaufen. Die Bengels waren Die

schon Stadt

sehr war

Nachschubtruppen sogenannten

aufdringlich. voll

mit

belegt,

der

Etappe8.

Hier

entwickelte sich ein geschäftiges Leben. Nach längerer Rast ging es Hauptstraße in Kolno

wieder hinaus in die weite polnische Landschaft. Die Straße war staubig

und die Sonne brannte hernieder. Es war ein beschwerlicher Marsch. Zwei Stunden hatten wir schon marschiert, da sahen wir rechts und links vor uns zwei Ortschaften. Unsere Gruppe teilte sich nun. Ich war bei dem Trupp, der nach links in das Dorf Korzenist einbog, während die Abteilung von Johann Dieckhoff aus Haendorf und Dietrich Wendt aus Duddenhausen nach rechts zum Infanterie-Regiment 152 marschierte.

Ich wurde mit meinen Kameraden der 1. Kompanie des mobilen Ersatz-Bataillons Füsilierregiment 33 einverleibt. Kompanieführer war ein Leutnant Reinhardt. Wir machten es uns in den geräumten Häusern bequem. Die Feldküche verabfolgte uns ein kräftiges Gulaschessen, das uns nach der beschwerlichen Reise gut mundete. In der Nacht schliefen wir dann tief und fest. Am anderen Morgen bemerkten dann einige Kameraden, dass sie Bekanntschaften mit Wanzen gemacht hatten. Die Kompanie war in der vorherigen Nacht zu einer fünf Kilometer entfernten Stellung marschiert und kam erst im Morgengrauen unter Zurücklassung von Postierungen wieder zurück ins Dorf. Bis Mittag war nun Ruhe. Nach dem Essen wurden wir den Gruppen zugeteilt und erhielten unsere Gewehre.

7

Langärmeliges, vorne offenes, weites Obergewand.

8

Nachschubgebiet hinter der Front

Seite 13

An diesem Tage musste das Bataillon eine neue Stellung beziehen. Ein anderthalbstündiger Marsch stand uns bevor. Es ging durch niedrigen Nadelwald und tiefen Sand, dazu eine heiße Sonne von oben; kein Wunder, dass der Schweiß rann. Dankbar begrüßten wir eine Rast. Nun war es nur noch einen Kilometer bis zur neuen Stellung. Die Truppen, die wir dort ablösten, hatten sich schon häuslich eingerichtet. Es waren schon Blockhäuser erbaut worden, die vom Bataillonsstab und der Schreibstube in Besitz genommen wurden. Von hier bis zum Schützengraben waren es nur noch siebenhundert Meter. Nach Ankunft bezogen wir die sehr primitiven Unterstände. Diese hatten höchsten Platz für fünf Mann, mehr gingen nicht rein. Aufrecht stehen konnte man nicht. In den folgenden Tagen begann der Ausbau des Grabens. Er wurde tiefer gegraben und mit Pfählen abgestützt. Weiterhin wurden Schießscharten angelegt. Im Unterstand dienten junge Birkenreiser als Bettersatz. Ein Laufgraben mit Sappe9 wurde bis zum Waldrand vorangetrieben, etwa einhundertzwanzig Meter von unserer Stellung entfernt. Von dort bis zur Russenstellung waren es vielleicht dreihundert Meter. Auf Sappenposten konnten wir manchmal die Russen bei Schanzarbeiten beobachten. Doch der Feind war auch vorsichtig und steckte den Kopf nicht oft über die Böschung heraus.

9

Laufgraben im Festungs- und Stellungskrieg

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7. Die Feuertaufe Am Abend des ersten Tages erhielten wir die Feuertaufe. Die russische Artillerie machte einen Feuerüberfall mit Granaten und Schrapnell10. Da dieser Zauber nur eine Viertelstunde dauerte, hatten wir kaum Verluste. Das wiederholte sich öfter. Unsere Artillerie war allerdings auch nicht untätig und beschoss gleichfalls die russische Stellung. Wir freuten uns über diese

Vergeltung.

Das

vor

unseren

Stellungen

liegende

Dorf

Nowemiasto

(deutsch: Neustadt) erhielt gleichfalls Treffer und viele Häuser gingen in Flammen auf.

Nachdem Stacheldraht angeliefert worden war, wurde mit dem Bau von Stacheldrahtverhau begonnen. Diese Arbeit war nicht nach unserem Geschmack, da wir oft Verletzungen und zerrissene Uniformen davontrugen. Im übrigen konnten wir uns über Langeweile nicht beklagen. Wer nicht Postenstehen brauchte, wurde mit einer anderen Beschäftigung warm gehalten. Wasser musste aus fünfhundert Metern Entfernung vom Bataillonsstab geholt werden, desgleichen das Essen von der Feldküche. Später hatten wir unter Anleitung und Aufsicht von Pionieren eine Reservestellung gebaut. Diese konnte nur nachts gebaut werden, da die Gegend bei Tage von den Russen eingesehen werden konnte.

Post gab es nur alle paar Tage. Wer sich nur das Geringste zuschulden kommen ließ, musste im rückwärtigen Gelände mit Nachexerzieren rechnen. Drei Tage Arrest wurde damit abgegolten, dass ein Soldat an drei Tagen jeweils für zwei Stunden mit dem Gesicht zum Feind an einen Baum gefesselt wurde. Davon bin ich glücklicherweise verschont geblieben. Ebenfalls im rückwärtigen Gelände unserer Stellung wurden die gefallenen Kameraden zur letzten Ruhe bestattet. Während unseres siebenwöchigen Aufenthaltes wurden die Gräber immer mehr. Sie wurden von Kameraden liebevoll geschmückt und gepflegt.

In den Blockhäusern war auch eine Kantine eingerichtet. In Abständen von einer Woche fuhr ein Soldat vom Bataillonsstab nach Ostpreußen und kaufte Zusatzverpflegung ein. Es wurde nur das gekauft, was noch ohne Lebensmittelmarken zu haben war, wie Margarine, Kunsthonig, Marmelade und Süßigkeiten. Diese Dinge waren für uns auch schon sehr teuer, denn mit unserer Tageslöhnung von dreiundfünfzig Pfennig konnte man nicht sehr viel davon kaufen. Ich hatte sogar einmal das Glück, ein Glas Bier zu erhaschen.

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Hohlgeschosse die mit Kugeln gefüllt wurden und dann durch einen speziellen Zünder kurz vor dem Aufschlag explodierten. Dadurch hatten sie nicht nur die normale Splitterwirkung, sondern verschossen auch noch hunderte von Kugeln. Eine Erfindung des Engländers Henry Shrapnel.

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Einmal wurde unsere Gruppe zu einer vierundzwanzigstündigen Dorfwache zu dem Ort Josefowo, ca. drei Kilometer hinter unserer Stellung, abkommandiert. Das Dorf war angefüllt mit Artillerie und Tross11. Auch unser Tross lag hier. Im Waldgelände neben dem Ort befanden sich auch die Stellungen unserer 21-cm Mörser12. Wache brauchte ich nicht zu schieben, sondern musste mit einem Kameraden in der Nacht mehrmals um das Dorf patrouillieren. Teilweise war die Zivilbevölkerung noch in ihren Häusern. Während der Schützengrabenzeit hatten wir auch das Vergnügen, einer Theatervorstellung beizuwohnen. Im rückwärtigen Gelände, etwa siebenhundert Meter vom Graben entfernt, hatten andere Gruppen Erde zu einer Bühne aufgeschichtet. Die Kulissen waren aus Strauchwerk. Eines Morgens war strenges Schießverbot, um die Russen nicht zu reizen. Nachmittags konnte alles, was abkömmlich war, der Aufführung beiwohnen. Die Schauspieler waren Angehörige unseres Bataillons. Dem Können nach, hatten die wohl schon früher auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gestanden. Was die Spieler mit den primitivsten Mitteln zustande brachten, war erstaunlich. Glücklicherweise hat der Feind die Aufführung nicht gestört. Die Verpflegung war nicht gerade üppig. Morgens und abends gab es Brot, dazu vielleicht ein bisschen Marmelade, Schmalzersatz, Margarine oder ein Stück Wurst. Dazu gab es lauwarmen Kaffee. Mittags gab es aus der Feldküche aufgewärmtes Essen, wie z. B. Reis, Graupen und Erbsen. Die Schützengrabenzeit dauerte bis zum 05. Juli 1915. Wir mussten dann die Stellungen räumen, die anschließend von alten Landstürmern besetzt wurden.

11

12

Wagenpark, der die Truppe mit Munition und Verpflegung versorgt Geschütz mit einem kleinen Verhältnis zwischen Rohrlänge und Kaliber

Seite 16

8. Die neue Stellung In der Dunkelheit traten wir den Marsch nach Kolno an. Derselbe war sehr beschwerlich. Es ging zeitweise durch knöcheltiefen Sand und dichtes Buschwerk. Die Luft war sehr schwül. Durch die aufgewirbelten Sandwolken konnte man kaum Luft bekommen. Außerdem kam hinzu, dass wir den Marsch mit vollem Kriegsgepäck nicht mehr gewohnt waren. Viele Kameraden machten schlapp. Ich habe noch mit letzter Kraft durchgehalten, war aber am Ende meiner Kräfte.

In Kolno erhielt unsere Gruppe im Haus eines Juden Quartier. Ein Erlebnis besonderer Art war, dass uns die Frau des Juden Pfannkuchen mit Streuzucker gebacken hatte. Eine Delikatesse, die wir lange entbehrten. Natürlich mussten wir hierfür bezahlen. Eines Tages begegnete ich zufällig auf der Straße Heinrich Möllmann aus Affendorf. Die Freude des Wiedersehens war groß, zumal ich keine Kameraden aus der engeren Heimat in der Kompanie hatte. In der Nacht vom 10. bis 11. Juli 1915 erfolgt der Abmarsch nach Teurustel, einen kleinen Dorf westlich von Kolno. Übernachtet haben wir unter den aus mitgeführten Zeltplanen und Stöcken errichteten Zelten. Am Nachmittag des 11. Juli 1915 konnten wir noch ein kühles Bad in dem Flüsschen Pissa nehmen, was uns wunderbar erfrischte. Während wir noch am Baden waren, gab es Alarm. Nach Abbruch der Zelte stand das Bataillon innerhalb kürzester Zeit wieder abmarschbereit, um eine neue Stellung zu beziehen. In einem nahen Waldgelände hoben wir Gräben für unsere Unterkunft aus. Am folgenden Tag, dem 12. Juli 1915 eröffnete man uns, dass am nächsten Tag das von den Russen besetzte Dorf Kruska gestürmt werden sollte, wovon wir ungefähr sechshundert Meter entfernt waren. Eiserne Schutzschilder wurden verteilt, um die eigenen Verluste zu mindern. Doch waren dieselben in der Beweglichkeit sehr hinderlich und wurden daher kaum eingesetzt. In der Frühe des 13. Juli 1915 begannen dann unsere Artillerie und Minenwerfer, die

vor

dem

Dorf

verlaufenden

russischen

Gräben

sturmreif

zu

schießen.

Nach dem Beschuss trat das Regiment Königsberg 1 zum Sturm an und trieb die Russen aus den Gräben. Da das gesteckte Ziel erreicht wurde, brauchten wir nicht mehr einzugreifen. Leider hatte auch unsere Kompanie durch Schrapnell- und Granatfeuer Verwundete zu beklagen.

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In der folgenden Nacht sollte ein Trupp von acht Mann Handund Gewehrgranaten in die vorderste Kampflinie bringen. Diese war auf einer Anhöhe hinter dem eroberten Dorf Kruska. Es hieß: „Freiwillige vor“. Doch niemand meldete sich. Dann nochmals: „Das Eiserne Kreuz ist zu verdienen!“ Keiner von unserer Gruppe trat vor. Daraufhin sagte unser Gruppenführer, Unteroffizier Zier zu mir: „Mensch Gräpel, melde du dich doch, du hast es doch auch noch nicht.“ Gut, sagte ich, ich gehe. Ein junger achtzehnjähriger Ostpreuße schloss sich mir an. Endlich waren acht Mann aus unserem Zug zusammen. Eisernes Kreuz von Johann Gräpel

Es war ein Himmelfahrtskommando. Wir nahmen die Munition auf und rannten dreihundert Meter über freies Feld,

umsurrt von Geschossen. Der eroberte russische Schützengraben war unser Ziel. Selbiger war an vielen Stellen zusammengeschossen, doch bot er noch einigermaßen Schutz vor den explodierenden Granaten. Der Graben verlief parallel mit der Hauptstraße des Dorfes. Von dem Dorf standen noch vier bis fünf Gebäude. Die übrigen fünfzig bis sechzig Gebäude lagen in Schutt und Asche. Wir krochen und robbten uns über Leichen hinweg, um den kämpfenden Kameraden die begehrte Munition zu bringen. Leider kamen wir nur mit vier Mann an. Über das Schicksal der anderen vier ist nichts bekannt geworden. Die Anhöhe war im Halbkreis von den Russen umschlossen und musste nach zwei Seiten verteidigt werden. Nachdem unser Auftrag erfüllt war, machten wir uns wieder auf den Rückweg. Das feindliche Feuer hatte inzwischen nachgelassen, nur vereinzelt gab es noch Einschläge. Bei stockdunkler Nacht kam ich mit meinem jungen Kameraden in die Nähe unseres Aufbruchortes. Die beiden anderen Kameraden waren von uns abgekommen. Wir fanden eine Lücke im Stacheldrahtverhau und krochen durch. Die hohen Tannen verbreiteten eine solche Finsternis, dass man keine Hand mehr vor Augen sah. Tastend rutschten wir auf den Knien weiter. Auf einmal greife ich rechts auf einen Kopf und links auf Stiefel bzw. Füße. Auf einmal wurde mir klar, dass ich in die Lücke der in zwei Reihen zusammengetragenen zwanzig Toten gekrochen war, die am Tage zuvor gefallen waren und hier begraben werden sollten. Nun aber schnell wieder zurück. Durch diesen Umstand hatten wir beide wieder Orientierung und waren kurz darauf bei unseren schlafenden Kameraden. Es war mittlerweile 02.00 Uhr. Ingesamt fünf Stunden hatte unser „Ausflug“ gedauert.

Seite 18

Der

Russe

hatte

sich

später

weiter

zurückgezogen

und

wir

folgten.

Am 17. Juli 1915 kamen wir wieder mit ihm in Berührung. In dieser Nacht hatte ich mit meinem Gewehr Ladehemmung, das Schloss ging nicht mehr auf. Nur durch den Umstand, dass ein Kamerad links von mir in der Schützenlinie tödlich getroffen wurde, konnte ich mit dessen Gewehr weiterschiessen. An diesem Tage hatte die Kompanie über vierzig Mann Verluste, davon dreizehn Tote. Am folgenden Tag gab der Feind auch diese Stellung auf und zog sich weiter zurück. Wir rückten wieder nach. In den Tagen um den 20. Juli 1915 trafen wir den Russen wieder in einer festen Stellung. An einem kleinen Abhang gruben wir uns ein und warteten auf den Angriffsbefehl. Am Himmel stand der feindliche Fesselballon mit seinem Beobachter, der das Feuer der Geschütze leitete. Es gab hauptsächlich Schrapnellund vereinzelt auch Granatfeuer. Auch unsere Artillerie belegte die feindlichen Gräben mit Granaten und Schrapnell. Es war sehr traurig zu sehen, wie die Bewohner des nahe liegenden Dorfes mit ihren Habseligkeiten aus dem Kampfbereich flüchteten. Auf einmal sahen wir, wie die russische Infanterie weiße Tücher aus dem Graben hisste und das Schießen einstellte, was dann auch von unserer Seite geschah. Bald kamen ganze Trupps mit erhobenen Händen zu uns herübergelaufen und ergaben sich. Die Waffen hatten sie schon vorher weggeworfen. Von allen Seiten strömten immer mehr auf uns zu. Zuletzt waren es ca. achthundert Mann, heilfroh, dass für sie der Kampf zu Ende war. Zwei Gruppen unseres Zuges wurden beordert, die Gefangenen vier Kilometer rückwärts zu bringen, darunter auch ich. Ein langer russischer Unteroffizier fragte mich in gebrochenem Deutsch, ob sie nach Döberitz kämen. Sein Schwager wäre auch schon dort. Ich konnte ihm natürlich die gewünschte Auskunft nicht geben. Nach dem Marsch zur Etappe übernahm dann die Kavallerie die Gefangenen zum Weitertransport. Gegen Abend erreichten wir dann wieder unseren Truppenteil. Der Vormarsch ging am folgenden Tag weiter. Gegen Abend kamen wir auf eine Anhöhe und hoben dort Schützenlöcher aus und zogen die Zeltplane über unserem Kopf zusammen. Wasser zum Waschen, Trinken und Kochen entnahmen wir einem schmutzigen Tümpel. Spät am Abend kam noch Feldpost. Darunter war auch ein Brief für mich aus der Heimat. Ein Jugendfreund teilte mir mit, wie sie sich in der Heimat vergnügten, unter anderem bei Musik und Tanz bei Gastwirt Reineke in Gehlbergen. Kein Wunder, dass man eine Wut bekam. Wir trugen unsere Haut zu Markte und daheim wurde gefeiert.

Seite 19

Nach weiterem Vormarsch kamen wir am 23. Juli 1915 in ein schweres Gefecht mit den Russen. Mittags war Sturm auf die feindlichen Gräben angesetzt. Unsere Artillerie und Minenwerfer entluden ihr Feuer auf die feindlichen Stellungen. Leider hatten letztere nicht viel abbekommen, da die Einschläge viel zu kurz lagen. Bei unserem Vorwärtsstürmen kamen wir nur bis vor den feindlichen Drahtverhau und sahen, dass derselbe nicht zerschossen und somit ein Durchkommen unmöglich war. Hätten wir uns mit der Drahtschere durcharbeiten sollen, wäre jeder einzelne von uns abgeschossen worden. Mit vier Kameraden lag ich nun in einer

flachen Mulde in Deckung. Einer war schwer

verwundet worden und schrie erbärmlich. Helfen konnten wir nicht, sobald nur einer den Kopf oder Arm hob, zischten schon die Kugeln. Artillerie und Minenwerfer konnten uns nicht entlasten, da ihre Geschosse uns gefährdeten. So haben wir dann in der Tageshitze, überlaufen von Ameisen bis zur Dämmerung dort gelegen. Nach Einbruch der Dunkelheit haben wir uns dann unter Mitnahme der Toten und Verwundeten in unsere Ausgangsstellung zurückgezogen.

Als

die

Kompanie

sich

sammelte,

waren

es

noch

ca. fünfundvierzig Mann. Wieder über vierzig Mann Verluste, darunter elf Tote. Verwundet waren auch unser Kompaniechef sowie unser Zugführer. Am anderen Morgen erlebte unser Bataillon noch einen furchtbaren Feuerüberfall, bei dem wieder Verluste zu beklagen waren. Durch das unaufhörliche Krachen wurden wir ganz apathisch und es war einem alles egal. Wir Überlebenden schlugen rückwärts im Wald unser Biwak auf. Teilweise lagen noch unbeerdigte Tote umher und mancher Kamerad lag auch schon unter der Erde.

Am nächsten Morgen bekamen wir Ersatz, um die Lücken in der Kompanie aufzufüllen. Der erlebte dann auch gleich seine Feuertaufe. In Grabennähe baute sich die Artillerie mit drei Geschützen auf, um dann flink anzufeuern. Das konnte nicht gut ausgehen. Der russische Fesselballon stand am Himmel und hatte Einsicht in die Geschützstellung. Es dauerte nicht lange, da kam der russische Gegenschlag und entlud sich über unseren Köpfen. Die Kanoniere gingen sofort in Deckung und ließen ihre Geschütze stehen. Auch wir entfernten

uns

schnellstmöglich,

um

im

rückwärtigen

Wald

Schutz

zu

suchen.

Nach geraumer Zeit wurde es ruhiger. Wir gingen wieder in unsere alte Stellung und begannen damit, den Graben tiefer zu graben, um bessere Deckung zu haben.

Seite 20

Am Abend des 26. Juli 1915 musste ich wieder auf Posten ins Vorgelände. Je zwei Mann standen im Abstand von fünfzig Meter in einem Schützenloch. Der Feind schoss ziellos mit Granaten und Schrapnell, so genanntes Streufeuer. Im Morgengrauen zogen wir uns in unsere Gräben zurück, wo wir Deckung fanden und der Schlaf uns übermannte. Am nächsten Morgen lieferten sich die Artillerien beidseits ein Duell. Die Einschläge der feindlichen Granaten

lagen jedoch zweihundert bis dreihundert Meter hinter unseren

Stellungen. Leider schoss unsere Artillerie auch jetzt wieder zu kurz und gefährdete uns. Ein Einschlag lag auf der Grabenböschung und brachte die Steilwand zum Abrutschen. Durch diesen Umstand wurde ein Kamerad verschüttet. Wir haben ihn aber noch lebend aus den Sandmassen herausgeschaufelt.

Seite 21

9. Die Verwundung Während des Vormittages, es war der 27. Juli 1915, brannte die Sonne unbarmherzig nieder und die Läuse machten sich am Körper bemerkbar. Da das Geschützfeuer nachließ, zog ich kurzentschlossen mein Hemd über den Kopf und machte Jagd auf Läuse. Bei dieser Beschäftigung erhielt ich plötzlich durch einen Granatsplitter einen Schlag auf den Kopf, der eine tiefe Wunde und eine Verletzung der Schädeldecke verursachte. Ich wusste überhaupt nicht, wie mir geschah und verlor zeitweise das Bewusstsein. Hätte ich den Kopf zwei Zentimeter

höher

gehalten,

wäre

mir

der

Schädel

gespalten.

Der

Splitter

war

ca. fünfundzwanzig Zentimeter lang und sechs Zentimeter breit, dazu die Kanten rasiermesserscharf. Es war wohl nicht von der Hand zu weisen, dass dies deutsche Wertarbeit war. Meine Kameraden und der herbeigerufene Sanitäter haben mich verbunden und durch die mit Wasser gefüllten Laufgräben zum Verbandsplatz gebracht. Als erstes erhielt ich hier die Tetanusspritze und wurde dann neu verbunden, da der erste Verband durchgeblutet war. Gegen Abend erwachte ich aus der Bewusstlosigkeit. Rasende Kopfschmerzen stellen sich ein. In der Dämmerung fuhren dann die Krankenwagen ihre traurige Last zum Hauptverbandsplatz. Ich war nicht marschfähig, aber transportfähig und durfte daher neben dem Kutscher auf dem Bock sitzen. In einem Zelt bei Karbidlicht wurden die Verwundeten verarztet. Zwei Ärzte walteten hier auf dem Hauptverbandsplatz ihres Amtes. Die Schwerverwundeten wurden vorgezogen. Endlich kam ich an die Reihe. Die Kopfwunde wurde gereinigt und erneut verbunden. Das ging nicht ohne Schmerzen ab. Nachdem ich neu verbunden war, suchte ich mir einen verlassenen Unterstand als Nachtquartier aus. An Schlaf war jedoch wegen der quälenden Kopfschmerzen nicht zu denken.

Verwundeten-Abzeichen von Johann Gräpel

Seite 22

Am folgenden Tag fuhren uns Krümperwagen13 zur zwei Stunden entfernten Stadt Kolno. Hier übernachteten wir und wurde am Tag darauf per Bahn über Johannisburg ins Feldlazarett

Arys,

einem

Truppenübungsplatz

in

Ostpreußen/Masuren,

befördert.

Wir wurden in den Baracken untergebracht. An die eintausendfünfhundert Verwundete befanden sich hier und täglich kamen neue hinzu. Das Essen und die Betreuung ließ viel zu wünschen übrig. Man musste schon selbst darauf bedacht sein, dass die Wunden gereinigt und neu verbunden wurden. Am 18. August 1915 war ich

einigermaßen

und eine

geheilt

wurde

an

Genesungskompanie

überwiesen. Hier mussten wir Kasernendienst Mein

Aufenthalt

Kompanie

machen. in

dieser

dauerte

zwei

Wochen.

Besitzzeugnis über das Verwundeten-Abzeichen

13

Lange Kutschwagen, die zur Heuernte eingesetzt wurden

Seite 23

10. Weiter gen Osten Am

02.

September

1915

wurde

ich

zusammen

mit

etwa

fünfzig

Mann

zur

1. Kompanie des II. Ersatz-Bataillons Füsilier-Regiment 33 abkommandiert. Nach einer mehrstündigen Bahnfahrt über Lyck, Korschen und Bartenstein trafen wir in Ponarth, einem Vorort von Königsberg ein. Ein Barackenlager diente uns wieder als Unterkunft. Wir mussten auch schon wieder etwas Dienst machen, um uns beweglich zu halten. Nach der Masurenschlacht im Februar 1915 mussten die Russen die grenznahen besetzten Städte, wie unter anderen Insterburg, Tilsit und Gumbinnen, wieder räumen. Infolge dessen, konnten diese Orte wieder mit deutschen Ersatz-Truppenteilen belegt werden. Daher wurde unsere Kompanie nach Insterburg verladen. Wir kamen dort in einem großen Saal unter. Die Verpflegung war miserabel. Wie gut, dass die Pakete von zu Hause die Kost ergänzten. Ich hoffte immer auf einen Erholungsurlaub, aber daraus wurde nichts. Einen Heiratsurlaub konnte man unter Umständen bekommen, doch das war bei mir nicht drin. Am 15. September 1915 wurden wir, die aus der Landwirtschaft stammenden Soldaten, zu einer Wirtschaftskompanie zusammengestellt. Es wurde gemunkelt, dass wir auf den Gütern in Ostpreußen zur Kartoffelernte eingesetzt würden. Aber es kam anders. Wir wurden wieder feldmarschmäßig ausgerüstet und eines Abends mit der Bahn verfrachtet. Am anderen Morgen befanden wir uns an der Grenzstation Laugszargen in der Nähe von Tilsit. Hier endeten die Normalspurgleise. Eine kleine Feldbahn ging noch siebzig Kilometer weiter ins Landesinnere. Zwei Tage lagen wir hier in einem Dorf an der Grenze zu Litauen. Die Bewohner hatten aus Furcht vor den Russen ihre Häuser geräumt und waren noch nicht zurückgekehrt. Nun wurde unsere Kompanie in Marsch gesetzt, immer der Grenze folgend in nördlicher Richtung. Zwanzig Kilometer war die Tagesleistung. Mehr konnte man von uns auch nicht erwarten, da wir noch nicht wieder felddienstfähig waren und uns erst an die Ausrüstung und den Marsch gewöhnen mussten. Übernachtet wurde in Schulen und Bürgerquartieren. Endstation schien nach sechzig Kilometer das Litauische Städtchen Schwekstnau zu sein. Es hieß, hier sollen wir als Straßenbaukompanie eingesetzt werden. Doch dem war wohl nicht so. Tags darauf machten wir uns wieder auf die Socken, um in drei Tagesmärschen die sechzig Kilometer zurückzumarschieren. Kurz vor dem Städtchen Tauroggen nahmen wir in einer Scheune Nachtquartier. Zum Abendessen rodeten wir uns auf einem Feld Kartoffeln, die wir anschließend kochten.

Seite 24

Zum Glück kam auch noch die Feldpost an, die für mich auch ein Päckchen dabei hatte. In dem Päckchen fand ich unter anderem eine Dose Aziagurken. Hierzu habe ich mehr sehr gefreut, da ich seit langem kein besseres Essen wie Pellkartoffeln und Gurken kannte. Spender dieses Paketes war Familie Ramke aus Steinborn. Am nächsten Tag marschierten wir durch Tauroggen. Diese Stadt war mir aus dem Geschichtsunterricht der Schule bekannt: Napoleon griff 1812 Russland an. Sein Feldzug führte bis nach Moskau. Der linke Flügel der französischen Armee hatte die russischen Ostseeprovinzen zu besetzen. Ihm gehörte auch ein Hilfskorps des besiegten Preußen unter dem General York von Wartenburg an. Am Heiligen Abend 1812 feierten russische Truppen den Geburtstag ihres Zaren in Tilsit, während rings um Tilsit rund 8000 preußische Soldaten des französischen Hilfsheeres lagerten. General York von Wartenburg beschloss in dieser Situation auf eigene Faust und ohne Rücksprache mit seinem König, sich von den Franzosen zu trennen. Er verhandelte am 30. Dezember 1812 in der Mühle des Dorfes Poscherunen bei Tauroggen mit dem russischen General Diebitsch und traf eine Vereinbarung, die das preußische Korps für neutral erklärte und seinen weiteren Einsatz von der Entscheidung des preußischen Königs abhängig machte. Diese Konvention leitete die Befreiung Preußens und damit den Beginn der Befreiung von der napoleonischen Besatzung und den Untergang Napoleons ein.

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Die

Stadt

war

einziger

ein

Trümmerhaufen,

ausgenommen

von

einigen

Häusern

und

den

kahlstehenden

Schornsteinen.

Nach einem Halbtagesmarsch erreichten

wir

den

Ort

Erslewilki. Als Quartier wurde uns

die Schule zugewiesen.

Eine wir

Tauroggen

Woche mit

verbrachten

süßem

Nichtstun.

Es hieß, dass unsere Kompanie ein hier befindliches Wirtschaftskommando ablösen sollte. Dazu kam es aber nicht. Es gab Reibereien und Schlägereien mit den hier befindlichen Soldaten in den Lokalen und Teestuben (Mädchen). Der hier residierende Wirtschaftsführer erwirkte bei seiner vorgesetzten Dienststelle, dass unsere Kompanie wieder in Marsch gesetzt wurde. Es ging der Stadt Rossienie entgegen. Fünf Kilometer vor der Stadt kamen wir in einem Dorf unter. Es war schon empfindlich kalt. Anderntags

marschierten

wir

in

die

Stadt

ein.

Ich

schätze,

die

Stadt

hatte

ca. acht- bis zehntausend Einwohner. Kriegsschäden waren kaum zu sehen. Eine Schule war wieder unser Quartier. Soldaten der Etappentruppen beherrschten die Strassen. Es war freier Samstag. In den Lokalen und Bordellen herrschte ausgelassene Stimmung. Kein Wunder, denn die Löhnung für zehn Tage wurde ausbezahlt, insgesamt fünf Mark und dreißig Pfennig. Abends Da

schlenderte

entdeckten

wir

ich

mit

einen

zwei

Kameraden

Schlachterladen,

durch dessen

die

Straßen

Inhaber

der

Stadt.

Deutscher

war.

Als Zusatzverpflegung haben wir uns dort Leberwurst gekauft, gar nicht mal teuer.

Gut ausgeruht hieß es am anderen Morgen wieder antreten zu einem Marsch über vierzig Kilometer. Das Flüsschen Dubissa wurde überquert und das nach ihm benannte Schlachtfeld. Vor vier Monaten hatten hier noch die Kämpfe getobt. Draht und Astverhaue sowie unaufgeräumtes Kriegsgerät lagen umher. Am Weg liegende Soldatengräber zeugten davon, dass der Sieg auch seinen Tribut forderte. Völlig übermüdet gelangten wir nach achtstündigem Marsch abends zur Ortschaft Grinkischki.

Seite 26

Es war mittlerweile Sonntag, der 24. Oktober 1915. In der Nacht zum Montag hatte es geschneit. Der Marsch zum sieben Kilometer entfernten Dorf Beisagola war daher beschwerlich, aber nicht lang. Als wir dort ankamen, standen wir vor einem Schloss. Ein solches Gebäude hatten wir hier nicht erwartet. Es war das Herrenhaus zu einem Gut von dreiundzwanzigtausend Morgen14. Der Aufenthalt des Besitzers Komar war unbekannt. Wie viele andere war auch er wohl vor uns Deutschen ins russische Landesinnere geflohen. Ein Leutnant als Wirtschaftsoffizier der Deutschen Verwaltung für Litauen residierte hier und wurde unser neuer Vorgesetzter.

14

10 Morgen entsprechen ca. 2,62 ha. 23.000 Morgen entsprechen somit 6.028 ha

Seite 27

11. Gut Antomir Am anderen Tag wurde unsere Kompanie aufgeteilt in Posten von zwei und drei Mann. Ich erhielt mit meinem Kameraden Ernst Wetzki ein Gut und ein großes Dorf zur Aufsicht. Quartier konnten wir dort nehmen, wo es uns am vorteilhaftesten erschien. Wir wählten das Gut Antomir, siebzehn Kilometer von Beisagola entfernt. Pächter des Gutes war ein Herr Stenzel. Am Tage unserer Ankunft war gerade die Beerdigung desselben. Eine große Anzahl Trauergäste nahm daran teil. Der Sarg wurde auf einen mit Tannenbäumen geschmückten Erntewagen

gehoben

und

zur

letzten

Ruhestätte

gefahren. Der Verbliebene hinterließ seine Ehefrau sowie drei Kinder. Zwei Töchter Mitte zwanzig und einen Sohn von neun Jahren. Die älteste Tochter mit Namen Ratschkowski war Ärztin und sprach fließend deutsch,

Ernst Wetzki

da sie zwei Jahre in Berlin Medizin studiert hatte. Der Aufenthaltsort ihres Mannes war unbekannt. Eigentümer dieses Pachtgutes war ein Graf Chrapowitzki, dem auch das vier Kilometer entfernte Gut Terespol zur Größe von achttausend Morgen gehörte. Gut Antomir hatte eine Größe von eintausend Morgen. An lebendem Inventar waren dort sechsundfünfzig Milchkühe und vierundvierzig Pferde mit entsprechendem Nachwuchs sowie einige Schweine vorhanden. Die schriftlichen Arbeiten besorgte ein Gutsschreiber. Ihm oblagen die Milchkontrolle der Kühe, die Ausgabe der Deputate15 und anderes mehr. Er hatte das Gymnasium erst ein paar Jahre hinter sich und sprach gut deutsch. Ein Verwalter oder Hofmeier stand dem ganzen vor. Acht bis zehn Wohnhäuser für Arbeiter umsäumten das Gut, bewohnt mit je zwei Familien. Vier Frauen besorgten das Melken. In der eigenen kleinen Meierei16 wurde die Milch zu Butter verarbeitet. Abnehmer derselben waren unter anderem die deutschen Offizierskasinos. Mein Kamerad und ich erhielten Butter und Milch ohne Bezahlung. Wir waren ja auch an der Quelle, da unser Quartier über der Meierei lag.

15

Sachbezüge von Arbeitern

16

Anderes Wort für Molkerei

Seite 28

Alle drei Tage pilgerten wir in das drei Kilometer entfernte Dorf Dewendonie, welches uns zur Aufsicht übertragen war. Uns war aufgetragen worden, den illegalen Handel mit Getreide zu unterbinden und die Bauern zu veranlassen, dasselbe an die eingerichteten Sammelstellen zu liefern. Weiterhin hatten wir die Bevölkerungszahl festzustellen, unterteilt in Erwachsene und Kinder. Zu diesem Zweck mussten wir jedem Haus und jedem Hof einen Besuch abstatten. Das Dorf hatte ungefähr sechzig bis siebzig Häuser und Höfe. Schwierig war jedoch die Verständigung mit den Dorfbewohnern. Vom Gutsschreiber hatte ich mir die Frage: „Guten Tag, wieviele Personen befinden sich in Ihrer Familie?“ ins litauische übersetzen lassen. Dort heißt es: „Labadene, keck jussu ischiwisso ihra Ipatu?“. Damit war mein Latein dann am Ende. Alles andere erfolgte durch Gesten und Zeigen. Wir zählten insgesamt etwa fünfhundert Einwohner. Bei dieser Gelegenheit bekamen wir auch einen Eindruck von den Wohnverhältnissen der Bevölkerung. Die Fußböden waren meistens aus Lehm, selten aus Brettern. Als Fenster dienten kleine Butzenscheiben, die nicht viel Tageslicht hereinließen. In manchen Wohnzimmern entdeckte ich auch Schweine und Hühner sowie bei Tischlern und Stellmachern17 auch die entsprechenden Werkstätten. Gute Raumluft war selten, meistens immer ein übler Mief. Man war froh, wenn man wieder draußen war. Es war auch sehr viel an Unterwürfigkeit zu spüren. Beim Streifegehen im Dorf empfing man uns oft mit Handkuss, was mir zuwider war. Auf der Dorfstraße versuchten wir einmal, uns mit drei bis vier Bauern zu unterhalten. Ein mit dem Schlitten vorbeikommender Gutsbesitzer erkundigte sich in fließendem Deutsch nach unserem Begehr und betätigte sich daraufhin als Dolmetscher. Er hob seine Hand aus seinem vermummten Pelz, wobei die Bauern kniefällig hinzutraten, um diese zu küssen. Einer Hochzeit wohnten wir auch bei. Ein junges Paar aus Arbeiterkreisen hatte uns eingeladen. Es wurde nur ein kleiner Kreis eingeladen, da der Raum in dem Arbeiterhaus sehr beengt war. Das junge Paar war noch sehr jung und konnte sich eine große Feier wohl nicht

leisten.

Das

Festmahl

bestand

aus

gekochtem

Streifenspeck

und

Schwarzbrotschnitten. Für meinen Kameraden und mich hatte man Messer und Gabel besorgt. Die anderen Gäste langten mit den bloßen Fingern hin, nicht gerade sehr appetitlich. Zum Tanzen war nicht viel Platz. Nur drei bis vier Paare konnten sich drehen. Anstandshalber war auch für kurze Zeit die Herrschaftsfamilie Stenzel zugegen. Kamerad Wetzki und ich blieben der stickigen Luft halber auch nicht lange.

17

Lange Zeit wurden Pferdefuhrwerke vor allem aus Holz gefertigt. Spezialisiert auf die Holzbearbeitung waren Stellmacher, während die Metallarbeiten, Federn, Radreifen und Ketten vom Schmied ausgeführt wurden.

Seite 29

Wir kamen später noch durch Zufall auf eine Hochzeit, die von der vorher beschriebenen sehr abstach. Man holte uns zu einem fünf Kilometer entfernten Gut, damit wir dort gegen einen Pferdediebstahl einschritten. Dort angekommen, hatte sich die Sache jedoch schon geklärt. Eine Hochzeitsfeier war bereits im vollen Gang. Es war eine Land-Adel-Hochzeit, also in gehobenen Kreisen. Wir wurden in den Festsaal gebeten. An der Längsseite war ein kaltes Büffet aufgebaut und man nötigte uns zuzulangen, was wir auch nicht abschlugen. Vier Musikanten machten richtige deutsche Blasmusik. Die Gastgeber baten uns auch zu tanzen. Wir machten daraufhin Bekanntschaft mit zwei Mädels (Gymnasiastinnen), die wir zum Tanze aufforderten. Die Musik blies einen Walzer. Daraus wurde ein Ehrentanz und alle Gäste klatschten in die Hände. Der Morgen graute, als die Heimfahrt angetreten wurde. Gäste hatten sich angeboten uns mitzunehmen, da ihr Rückweg an Gut Antomir vorbeiführte.

Zum Weihnachtsfest 1915 besorgten mein Kamerad und ich uns einen Tannenbaum. Da wir keinen Behang hatten, schnitten wir Zeitungsschnitzel aus und behängten damit die Zweige. Kerzen

haben

wir

aus

verflüssigtem

Schafstalg

geformt

und

hiervon

sechs bis sieben Stück am Baum angebracht. Von der Kompanie erhielten wir eine große Dose gekochten Schinken, einen halben Liter Rum und ein Paket mit grobem Kanaster18. Von Zuhause erhielt ich auch ein schönes Päckchen. Unsere Quartierwirtin Frau Stenzel bedachte uns mit zwei großen Semmeln und drei Pfund Butter. So konnten wir einen gemütlichen Weihnachtsabend feiern.

Den ersten Feiertag waren der Gutsschreiber, mein Kamerad und ich bei einer wohlhabenden Familie eines Gutsarbeiters zum Abendessen eingeladen. Zwei erwachsene Mädel trugen auf, was Küche und Keller hergab. Auch die Unterhaltung kam nicht zu kurz. Beide waren über unsere Lebensverhältnisse und über das Deutschtum sehr wissbegierig. Die Verständigung erfolgt durch den Gutsschreiber. Es war spät geworden, als wir wieder unser Nachtlager aufsuchten.

18

Tabak

Seite 30

Am folgenden Tag, den 26. Dezember 1915 mussten wir wegen einer ärztlichen Untersuchung ins siebzehn Kilometer entfernte Beisagola fahren. Um 09.00 Uhr sollten wir dort sein. Wir hatten die Zeit verschlafen und es war schon 08.00 Uhr. Nun haben wir in aller Eile die Pferde vor den Schlitten gespannt und sind losgefahren. In der Nacht hatte es geschneit und die hohen Schneeverwehungen erschwerten das Vorwärtskommen. Nun, wir waren auch nicht die einzigen, die zu spät kamen. Infolge unserer langen Anfahrt hatte der Kompaniechef mit uns ein Einsehen, während die in der Nähe stationierten Soldaten

wegen

Unpünktlichkeit

Strafexerzieren

mussten.

Bei

der

anstehenden

Untersuchung wurde mein Kamerad Ernst Wetzki für k.v. (kriegsverwendungsfähig) befunden, während ich als a.v. (arbeitsverwendungsfähig) eingestuft wurde. Kurz

nach

Neujahr

Zwei

Wochen

später

verließ

mich

musste

ich

mein

Kamerad

auch

vom

Gut

mit

Tränen

Antomir

in

den

Abschied

Augen. nehmen.

Ich wurde nach Beisagola, dem Sitz des Wirtschaftsoffiziers, beordert. Hier hatte man für mich Verwendung für Dienstreisen nach Ostpreußen in die Städte Gumbinnen, Tilsit und Insterburg. In der Zwischenzeit musste ich auch als Postordonanz öfter in die Stadt Schaulen fahren. Ein Vergnügen war die Reiserei in den überfüllten Urlaubszügen nicht. Bis zur deutschen Grenze waren es ca. zweihundertdreißig Kilometer, dann musste ich einmal umsteigen und wurde jeweils an der Grenze in Eydkuhnen entlaust. Außerdem fehlten mir die hiesigen Ortskenntnisse.

In der Zwischenzeit war die Familie Stenzel aus dem Gut Antomir beim Wirtschaftsoffizier vorstellig geworden und hatte um meine Anwesenheit auf Gut Antomir gebeten. Diese Bitte wurde genehmigt und ich habe dort noch sechs Wochen eine glückliche Zeit verlebt, da für mein leibliches Wohl immer bestens gesorgt wurde und ich mit den Gutsleuten ein gutes Verhältnis hatte.

Seite 31

12. Gut Pokiertynie I Nach dieser Zeit hatte man anderen Orts wieder neue Aufgaben für mich, denn inzwischen

war

die

Wirtschaftsverwaltung

von

Beisagola ins drei Kilometer entfernte Gut Pokiertynie I verlegt worden. Ich erhielt dort nun die Aufsicht über den Ansicht des Gutes

großen

Beerengarten

Obstund

und

musste

mich um die Parkpflege kümmern. Je nach Arbeitsanfall erhielt ich Frauen und größere Kinder zugeteilt. Das gesamte anfallende Obst von einhundertsechzig tragenden Bäumen sowie die Beeren von einer größeren Anzahl an Sträuchern wurden an die Marmeladenfabrik in Kowno geliefert. Für das im Küchengarten gezogene Gemüse gab ein gelernter Gärtner (Gefreiter Kanter), der einer Fuhrparkkolonne angehörte, die nötige Anweisung. Ende Juni 1916 bekam ich den Auftrag, einen Waggon Leinsamen dem Lager der Deutschen Verwaltung für Litauen in Insterburg zu überbringen. Die

Annahmestelle

war

dort

kaum

bekannt.

Nach vielen Irrungen konnte ich dieselbe endlich ausfindig machen und meine Begleitpapiere abgeben und

die

Empfangsbestätigung

erhalten.

Für die Rückfahrt war mir aufgegeben worden, einen Waggon Schmiedeeisen jeglicher Art sowie zehn Zentner Johann Gräpel vor dem Eingang von Gut Pokiertynie I

Nägel

aller

Größen

einzukaufen

und

zurückzubringen.

Seite 32

Nach Erledigung dieses Auftrages musste ich Ende August 1916 zusammen mit zwei Kameraden einen Viehtransport von zweihundert Rindern und Schafen zum zweihundert Kilometer entfernten Schlachthof nach Libau begleiten. Im Ostseehafen Libau herrschte viel Betrieb, da hier ein Marinestützpunkt war. Die Stadt zur Größe von sechzigtausend Einwohnern hatte durch und durch deutschen Charakter. Alles sprach deutsch; Gebäude, Straßen und Brücken und Parkanlagen machten einen deutschen Eindruck, obwohl die Grenze noch siebzig Kilometer entfernt war. Auch fuhr hier eine elektrische Straßenbahn. Da es für die Reise fünfzehn Mark Zehrgeld gab, brauchten wir mit unseren Ausgaben nicht knickerig zu sein. Auf der Rückreise hatten wir an einer Station einen mehrstündigen Aufenthalt. In einem Soldatenheim entdeckte ich folgenden Wandspruch: „Grüß Gott tritt ein, ein Heim soll’s sein, und nicht bedenke, eine wüste Schenke, benimm Dich genau als ob Deine Frau hier schalte und walte, Du kennst Deine Alte! Eine sanfte Ermahnung!“.

Auf unserem Gut Pokiertynie I waren zwanzig

kriegsgefangene

untergebracht,

die

Arbeiten

Bezirk

im

für

Russen

anfallende beschäftigt

wurden. Einer von ihnen war ein Jude mit Namen Katz. Da er gut deutsch sprach, fungierte er als Dolmetscher. Gefangene Russen in Gut Pokiertynie I

Johann Gräpel bei der Bewachung der gefangenen Russen

Seite 33

Ende September wurde das jüdische Neujahresfest19 gefeiert. Auf Anordnung der Deutschen Verwaltung sollten die Gefangenen jüdischen Glaubens nach Möglichkeit daran teilnehmen. Ich wurde nun beauftragt, mit

unserem Juden Katz ins sechzig Kilometer entfernte

Städtchen Janow zu fahren und ihm die Teilnahme an dem Fest zu ermöglichen. Abends fuhren wir mit dem Zug dorthin. Nach unserer Ankunft in Janow lieferte ich meinen Juden in dem dort befindlichen Gefangenenlager ab und war meiner Pflicht enthoben. Ich hatte nun zwei Tage frei. Am anderen Morgen wurden die jüdischen Gefangenen, etwa fünfzehn bis zwanzig an der Zahl, in drei Gruppen eingeteilt und je einem Posten übergeben. Dieser zog nun mit seinen Mannen in die vorhandenen drei Synagogen der Stadt. Ich schloss mich einem Trupp an und war neugierig, was sich in dem Tempel zutrug. Dort angekommen standen zwei Vorbeter auf einem Podest und rollten unter lautem Gesang die Thorarolle20 auf und ab. Bärtige Juden mit langem Kaftan und dem Käppi auf dem Kopf saßen in den Bänken und neigten während des Litaneigesanges21 im stetigen Rhythmus den Kopf sowie den Oberkörper vornüber und wieder zurück. Die Kinder taten sich dabei besonders hervor. Es war ein Radau, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. In den anderen Synagogen war der gleiche Rummel. Nach zwei Tagen war die Fastenzeit vorbei und es fing ein großes Feiern und Schmausen an. Ich wurde auch dazu eingeladen, lehnte jedoch dankend ab. Spät abends traten wir dann wieder die Rückreise an. Ich war um ein Erlebnis reicher und mein Jude Katz war auch zufrieden.

Da die Arbeit in den Gärten abnahm, übertrug man mir den Verkauf der Eisenwaren, Öl und Schmierstoffe an die Einheimischen. Auch was auf unsere herrenlosen Gütern benötigt wurde, gelangte durch mich zur Ausgabe. Während der Kartoffelernte stand ich eine Woche auf dem Bahnhof, um die von den Bauern abgelieferten Kartoffeln abzunehmen.

19

Das jüdische Neujahrsfest „Rosch ha Schana“ dauert zwei Tage. Es zählt zu den höchsten jüdischen Feiertagen. Der Gottesdienst wird durch umfangreiche Gebete erweitert. Symbol des Festes ist das Schofar, das Widderhorn, das während des Gottesdienstes in der Synagoge mehrmals geblasen wird. In dieser Zeit wird sehr wenig gegessen. Der Neujahrswunsch "Einen guten Rutsch" ist eine Abwandlung des Wortes "Rosch" und hat mit Rutschen nichts zu tun.

20

Große Rolle aus Pergament, auf der die fünf Bücher Mose in hebräischen Buchstaben (ohne Vokale) von Hand aufgeschrieben sind. In Gottesdiensten, vor allem am Sabbat, aber auch an Feiertagen wird aus dieser Thorarolle "gelesen". Im allgemeinen wird der Text dabei nicht gesprochen, sondern gesungen.

21

Litaneien gehören zum Urbestand religiöser Ausdrucksformen. Dabei wird auf die Anrufungen eines Vorbeters (zum Beispiel "Du Trösterin der Betrübten") von allen Anwesenden mit einem gleich bleibenden Antwortruf (zum Beispiel "Bitte für uns") geantwortet.

Seite 34

Bei klarem Mondenschein überflog eines Abends ein Zeppelin-Luftschiff unsere Gegend. Das erlebten wir hier zum ersten Mal. Gut sichtbar zog es in majestätischer Ruhe gen Dünaburg zur einhundert Kilometer entfernten Front, um dort seine Bombenlast abzuwerfen. Unsere Frontkameraden werden darüber wohl Genugtuung empfunden haben. Ein Zwischenspiel ergab sich noch

mit

Georg

dem

Klein,

unserer

Wehrmann der

auch

Wirtschaftskompanie

angehörte und mit dem ich mir ein

Zimmer

teilen

musste.

Georg Klein war verheiratet und hatte zwei Kinder. In Berlin betrieb er einen Seifen- und Unterkunft im Gut Pokiertynie I links Johann Gräpel, rechts Georg Klein

Parfümerie-Laden. Im Umgang war er ein windiger Bursche und

schmuste

gerne.

Die

meisten Vorgesetzten nahmen ihm dies jedoch übel und bedachten ihn daher nicht mit Vertrauensposten.

Seite 35

13. Die Zeit in der Schreibstube Zusammen mit zwei Kameraden erhielten wir im Oktober 1916 den Auftrag, unseren Tagesablauf vom Wecken bis zum Schlafengehen als Niederschrift zu erläutern. Jede Verrichtung sollte ausführlich beschrieben werden. Mir war klar, dass dies eine besondere Bedeutung haben musste. Meine Vermutung bestätigte sich auch. Der auf dem Bezirksbüro beschäftigte Feldwebel musste wegen Erreichung der Altersgrenze von fünfundvierzig Jahren aus dem Heeresdienst entlassen werden. Man brauchte also eine Ersatzkraft, daher der Test. Nach bestem Können fertigte ich meine Niederschrift und gab sie ab. Nach ein paar Tagen wurde mir eröffnet, über meine Reise nach Janow zu berichten und meine Eindrücke schriftlich darzulegen. Dies war wohl ein weiterer Test. Meine beiden Kameraden waren nicht aufgefordert worden, eine weitere Niederschrift anzufertigen. Nach bestem Wissen erledigte ich auch diese Aufgabe. Kurz darauf beorderte man mich auf das Büro. Dort waren außer unserem Chef noch zwei mir unbekannte Offiziere anwesend. Ich sah, dass beide meinen letzten Bericht in den Händen hielten. Nun musste ich den beiden über mein Allgemeinwissen Rede und Antwort stehen. All das musste wohl zu deren Zufriedenheit ausgefallen sein, denn nun eröffnete mir unser Leutnant und Wirtschaftsoffizier Fähser, dass ich ab sofort auf das Büro käme. Meine neue Unterkunft verlegte ich nun in ein Zimmer neben dem Büro, welches ich mir mit dem anderen Schreiber, Kamerad Große, teilen musste. Er war von Beruf Landwirt und stammte aus Thüringen, war Reservist und einige Jahre älter als ich. Hauptsächlich bearbeitete er das Kassen- und Buchungswesen, während mir der Papierkram über die Verladung und Veräußerung von Getreide, Stroh und Vieh an die Magazine und Schlachthöfe an der Front und in den Städten übertragen wurde. Außerdem musste die stattgefundene Verladung von der Wirtschaftsabteilung dem Kreisamt sowie den Empfängern telegraphisch bzw. telefonisch gemeldet werden. Bei den mangelhaften Verbindungen beanspruchte dies oft viel Zeit. Ich habe meine anderen Kameraden oft beneidet, wenn sie ihre abendliche Ruhe genossen haben. Nach sieben Wochen Zusammenarbeit erhielt mein Kamerad Große den Rückruf seines Regiments. Schade, wir haben uns gut verstanden. Ich erhielt nun seinen Posten und wurde von ihm in die Tätigkeit eingeweiht. Er fuhr erst einige Tage in Urlaub und kam dann an die Front. An meinem neuen Arbeitsplatz gab es auch erst viele Probleme, mit denen ich mich abfinden musste. Mein Chef sprang aber oft mit ein, so dass ich über die Runden kam.

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Um die Weihnachtszeit 1916 erhielt auch er von seinem Regiment die Order, wieder zurückzukehren. Leutnant Fähser ging auch erstmal einige Tage auf Urlaub. Er war Pächter der Domäne Neugolmkau, Post Karschau, Bezirk Elbing / Westpreußen. Auf seiner Fahrt zur Front schrieb er mir noch eine Karte mit folgendem Inhalt: „Lieber Johann, hier schneit es wie toll, die Schlitten jagen, heute geht es in den Graben, beste Grüße Gerhard Fähser“. Ob er wohl den Krieg überlebt hat? Im Frühjahr 1917 erhielt ich vierzehn Tage Heimaturlaub. Ich wählte dann die Zeit zwischen den monatlichen Kassenabschlüssen. Die verbleibende dringende Arbeit musste dann von meinem auf dem Büro tätigen Mitarbeiter verrichtet werden. In der Heimat fand man nicht mehr so recht Anschluss, da die Altersgenossen ja auch Kriegsdienst leisteten. Ich fühlte mich daher vereinsamt. Abschiedswehmut empfand ich kaum, als der Urlaub zu Ende ging. Ich war froh, als ich wieder in meinem Wirkungskreis im Osten war. Der neue Wirtschaftsoffizier Leutnant Kröber war Pächter des Rittergutes Waltersdorf bei Neumühle an der Elster, nähe Greiz im Voigtland. Er war vierzig Jahre alt und Junggeselle. Wir waren erstmal skeptisch, wie der sich wohl zu uns stellte. Er musste ja auch erstmal mit uns Fühlung nehmen und sich orientieren. Doch mit der Zeit spielte sich alles gut ein. Um das Schriftliche kümmerte er sich weniger, nahm kaum einen Blick in die Bücher und war froh, wenn

bei den von Zeit zu Zeit stattfindenden Revisionen die Kasse stimmte.

Leutnant Kröber war mehr praktischer Landwirt und hielt die Soldaten, die als Verwalter der herrenlosen Güter unseres Bezirks fungierten, in Schwung. Die

Arbeit

im

Büro

konnte

ich

allein

mittlerweile

nicht

mehr

schaffen.

Ich musste zehn Kassenbücher und das Viehdepotbuch führen. Neben der Routinearbeit mussten noch zusätzlich statistische Erhebungen angefordert, erledigt und gemeldet werden. Weiterhin wurde von uns die Rationierung der Bevölkerung vorgenommen. Es wurden Listen erstellt, was jeder zu säen und später abzuliefern hatte. Mir wurde daher Kamerad Kielmann als Helfer zugeteilt. Er kam aus Berlin und war von Beruf Portier.

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Nach einiger Zeit musste sich mein Helfer

Kielmann

Seine

Stelle

Steineke

von

nahm ein,

mir

trennen.

nun

Kamerad

von

Beruf

Straßenbahnfahrer in Berlin. Doch der bleib nicht lange, aufgrund seiner guten Kochkenntnisse unserer

wurde

er

Koch

Mannschaftsküche.

Nachfolger,

Hans

in

Dessen Düssel,

kaufmännischer Angestellter aus dem Rheinland, kam von einer EtappenFuhrpark-Kolonne und blieb ein viertel Jahr

bis

seine

Einheit

ihn

wieder

anforderte. Im

Frühjahr

1917

Gebietseinteilung.

kam Das

eine

neue

Kreisamt

in

Beisagola zog in die vierzig Kilometer entfernte Stadt Schaulen. Auszug „Gesamt-Ablieferungen aus der Ernte 1917“ vom 01. Juli 1917 bis 30. Juni 1918

Wir wurden

als 5. Wirtschaftsbezirk dem MilitärKreisamt

Kiejdany

eingegliedert.

Am 17. Februar 1917 verlegten wir nun unser Büro nach Schloss Beisagola und nahmen Abschied vom Gut Pokiertynie I. Gut drei Monate später, am 24. Mai 1917, hatte der Regimentsstab des 2. Badischen Dragoner Regiment 21 sich auch das Schloss Beisagola als Standquartier erkoren. Zwei Drittel des Schlosses nebst Wirtschaftsgebäuden nahmen die Dragoner unter Beschlag. Das Kommando gliederte sich in einen Oberst, einen Rittmeister,

drei

Leutnants

sowie

den

Veterinär

und

den

Zahlmeister.

Dreißig

Mannschaftsdienstgrade kamen noch dazu. Heimatgarnision war Bruchsal in Baden. Das Regiment rekrutierte sich meist mit Süddeutschen. Die Schwadronen22 lagen aufgeteilt in den größeren Orten Litauens. Es kam nun Leben in unsere Idylle, ein immer anhaltendes Kommen und Gehen. Des öfteren kam auch die Regimentskapelle und blies flotte und besinnliche Weisen, für Musikfreunde ein Hochgenuss. Den Veterinär und unseren Leutnant Kröber verband bald eine dicke Freundschaft. Beide waren einem guten Tropfen nicht abgeneigt und daher kam der Schlaf oft zu kurz.

22

berittene Truppen mit relativ schwere Bewaffnung

Seite 38

Ende

Mai

Stabsarzt

1917 zur

sämtlicher auf Ich k.v.

kam

ein

Untersuchung Mannschaften

Felddienstfähigkeit. wurde

wieder

für

(kriegsverwendungsfähig)

befunden.

Der

anwesende

Wirtschaftsbeirat,

Rittmeister

von Prittwitz, Rittergutsbesitzer aus Schlesien, protestierte und sagte: „Ja, wer soll denn hier die Kasse führen!“. Dem pflichtete mein Leutnant bei. Daraufhin

Schloss Beisagola

sagte der Stabsarzt: „Meine Herren, sowas Gesundes finden Sie in Deutschland nicht mehr“. Er konnte mich somit nicht zurückstufen. Nach Beendigung der Untersuchung eröffnete unser Leutnant Kröber mir, dass man bei der Kompanie für mich und noch zwei andere Kameraden einen Antrag auf u.k. (unabkömmlich) stellen wollte. Dieser wurde dann auch bewilligt. Nach der Front hatte ich auch kein Verlangen mehr, ich hatte die Nase noch voll.

Kreishauptmann unseres Kreises war ein Rittmeister Dryander, ein Neffe von Ernst Hermann von Dryander23. Ich hörte, wie er mal so beiläufig erwähnte, dass er an des Kaisers Hofjagden teilgenommen habe. Sein Onkel hatte dazu eine Einladungskarte erhalten, sie aus Pietätsgründen jedoch nicht benutzt und selbige ihm geschenkt. Als Fachmann für die Landwirtschaft war der zuvor erwähnte Wirtschaftsbeirat, Rittmeister von Prittwitz, dem Kreishauptmann zur Seite gestellt. Ihm waren auch die fünf Wirtschaftsoffiziere des Kreises unterstellt.

Unteroffizier

Werber

(Gerichtsassessor)

war

Leiter

seiner

Dienststelle.

Ihm unterstanden der Gefreite Naumann, Sachbearbeiter für Lieferung und Versand, Gefreiter Thide, Geld und Finanzwesen, Unteroffizier Jakubeit, Molkereiangelegenheiten und Unteroffizier Stein regelte die Bedürfnisse der im Kreis tätigen Wirtschaftssoldaten mit der Kompanie, wie z. B. Löhnung, Bekleidung und Urlaub. Sitz der Wirtschaftskompanie war in der vierzig Kilometer entfernten Stadt Ponewesch. Den Kompaniechef und den Spieß habe ich nie kennengelernt, da diese für unseren Arbeitsbereich nicht zuständig waren.

23

Ernst Hermann von Dryander wird 1843 als Sohn eines Konsistorialrats und Oberpfarrers in Halle an der Saale geboren. Der evangelische Pfarrer lebte ab 1882 ständig in Berlin und wurde 1898 (letzter) kaiserlicher Oberhof- und Domprediger.

Seite 39

Nach der Eroberung von Estland musste der Wirtschaftsbeirat, Rittmeister von Prittwitz, uns verlassen, um dort den Aufbau der Wirtschaftsverwaltung einzuleiten. Sein Nachfolger, Hauptmann Bartenstein, war nicht so beliebt. Bevor Rittmeister von Prittwitz Abschied nahm, gab er noch einen Bierabend mit Imbiss aus. Eingeladen waren der Kreishauptmann Rittmeister Dryander, die fünf Wirtschaftsoffiziere mit ihren Schreibern, das Personal seiner Wirtschaftsabteilung, sowie ca. achtzehn Verwalter der herrenlosen Güter im Kreis. In seiner Tischrede hob er hervor, dass die Wirtschaftsbezirke gute Aufbauarbeit geleistet hätten. Weiterhin sprach er jedem seine Anerkennung aus. Man sah ihm an, dass er schweren Herzens von uns ging. Jeden Donnerstag mussten die Verwalter der herrenlosen Güter auf dem Büro erscheinen. Es wurde dann mit dem Chef alles besprochen, was Anbau, Saat, Ernte, Viehwirtschaft und Ablieferung der Erzeugnisse betraf. Am Sonnabend jeder Woche waren die Bürgermeister der Ortschaften unseres Bezirks geladen. Ihnen wurden dann die Verfügungen bekannt gegeben, was sie an Abgaben und Lieferungen zu leisten hatten. Durch unerwartetes Erscheinen auf den Gütern verschaffte der Chef sich Klarheit über die Einhaltung seiner Anordnungen. Mittwochs und sonnabends hatte ich Kassenstunden. Die Bauern konnten dann Ihr Geld für die abgelieferten Erzeugnisse in Empfang nehmen. Somit hatte ich viel Kontakt zu der Bevölkerung. Es kamen auch Härtefälle vor, bei denen die Einheimischen die geforderten Leistungen nicht erbringen konnten. Oft kam dann der katholische Pfarrer und betätigte sich als Fürsprecher. Pfarrer Bietis war ein jovialer24 Herr und betrieb mit einer Haushälterin und einem Arbeiter Landwirtschaft. Er lud mich einmal zu einem Abendessen ein. Ich

ließ

mir

das

nicht

zweimal

sagen

und

besuchte

ihn

eines

Abends.

Das aufgetragene Essen war nicht gerade fein, denn es gab reichlich Dickmilch und dazu aßen wir Schwarzbrot. Das war alles. Den Abend verbrachten wir dann in angeregter Unterhaltung. Pfarrer Bietis sprach fließend deutsch und war an allen Ereignissen in Deutschland sehr interessiert. Er war auch von allen Abgaben befreit und konnte über seine Erträge frei verfügen, wohl auch um kirchliche Bedürfnisse zu bestreiten.

24

betont wohlwollend

Seite 40

Leutnant Kröber war nicht nur Wirtschafts-Offizier, sondern auch noch Amtsvorsteher. Die Grenzen des Amtsbezirkes deckten sich mit denen des Wirtschaftsbezirks. Die Arbeit eines Amtsvorstehers bestand vorwiegend im Einzug von Steuern, Reisegenehmigungen, schulischen und gesundheitlichen Belangen und anderer Sachen. In anderen Bezirken waren damit vielfach Beamte betraut, die keinen Frontdienst mehr leisten konnten beziehungsweise ehemalige Verwundete, Referendare etc. Bei uns versah diese Arbeit ein Dr. Erich Singer. Er war achtundzwanzig Jahre alt und bei einer Berliner Firma als Rechtsberater tätig gewesen. Kamerad Singer war alles andere, nur kein Soldat. Ich glaube, er

konnte

kein

Gewehr

auseinandernehmen.

Nun,

er

kam

auch

von

einem

Armierungsbataillon, dem sogenannten „Schipp, Schipp, Hurra“. Außerdem war er Jude und wurde von uns anderen Kameraden als feiner Pinkel bezeichnet. In seinem Arbeitsbereich kannte er sich jedoch besser aus als Leutnant Kröber. Singer studierte in seiner Freizeit eifrig russisch, um die Sprache zu beherrschen. Die Umgangssprache in der Bevölkerung war jedoch polnisch bzw. litauisch. Ich konnte mich auf polnisch ganz gut verständigen, litauisch lag mir nicht. An zwei Tagen in der Woche kam auch Frau Salpeter, Ehefrau des Verwalters vom herrenlosen Gut Syrotischki, zum Dolmetschen. Die Familie stammte aus Kurland und alle Familienmitglieder sprachen fließend deutsch. Meistens wurde Frau Salpeter aber von Dr. Singer beansprucht.

Im Juni 1917 war unser Leutnant Kröber des Junggesellenlebens satt. Er wollte heiraten und nahm sich daher Urlaub zur Kriegstrauung. Zu diesem Anlass habe ich ein schönes Glückwunschschreiben

aufgesetzt

und

ihm

zugesandt.

Alle

Kameraden

haben

unterschrieben. Wie er mir gestand, ist er darüber sichtlich erfreut gewesen und dankte auch im Namen seiner Gattin. In der Folgezeit fuhr Leutnant Kröber dann jeden Monat nach Königsberg, um sich dort mit seiner Frau zu treffen. Für ihn war es eine vierhundert Kilometer lange Anreise, während seine Frau neunhundert Kilometer Anreiseweg hatte. Viele Umstände, um zwei Nächte das junge Eheglück zu genießen.

Am 15. September 1917 wurde ich zum Gefreiten befördert. Nun war ich auf der ersten Stufe der militärischen Rangleiter angekommen. Nun wurde mir im Herbst 1917 Hans Urban zugeteilt, kaufmännischer Angestellter aus Breslau. Er kam von unserer Kompanie. Mit Kamerad Urban, zwei Jahre älter als ich, dauerte die Zusammenarbeit ein dreiviertel Jahr. Dann musste er zum Feldrekruten-Bataillon einrücken. Seite 41

Weihnachten 1917 waren Kamerad Singer und ich zur Familie Salpeter nach Gut Syrotischki eingeladen. Wir sollten dort den ersten Weihnachtstag verleben. Um die zehn Kilometer Entfernung zu überwinden, war uns ein Schlitten geschickt worden. Wir kamen dort gegen Mittag an. Das Festmahl bestand unter anderem aus Gänsebraten. Man nötigte uns, ordentlich zuzulangen, was wir uns nicht zweimal sagen ließen. Das war doch mal eine Abwechslung im Gegensatz zur Militärkost. Außer Singer und mir waren noch zwei Kameraden älteren Jahrgangs eingeladen. Sie kamen aus einer anderen Formation. Dem Benehmen nach, schienen sie aus besseren Kreisen zu stammen. In der Wohndiele stand ein großer geschmückter Tannenbaum. Nachdem die Lichter angezündet wurden, stellten wir uns im Kreise der Familie rund um den Baum und sangen die schönen deutschen Weihnachtslieder.

Auch

Singer,

obwohl

Jude,

machte

keine

Ausnahme.

In der Familie Salpeter waren alle evangelisch. Der Abend wurde mit allerlei Kurzweil verbracht, Pfänderspielen25 und dergleichen. Die Nacht über verblieben wir dort. Am Vormittag des zweiten Weihnachtstages traten wir wieder mit dem Schlitten die Heimreise nach Beisagola an. Eine schöne Erinnerung, die man nie vergisst. Anfang Juli 1918 mussten die felddienstfähigen Kameraden, außer uns u.k. gestellten zum Feldrekruten-Regiment einrücken. Als Ersatz erhielten wir ältere Landsturmmänner26. Da dieselben in ihren Aufgabenbereich erst eingewiesen werden mussten, erforderte dies viel zusätzliche Arbeit. Auch der bei mir beschäftigte Kamerad Hans Urban wurde angefordert. Ein Sohn der vorhin erwähnten Familie Salpeter wurde mir nun als Hilfe zugeteilt. Er hieß auch Hans, war achtzehn Jahre alt und ging aufs Gymnasium. Er war mir eine große Hilfe, da er fünf Sprachen, russisch, polnisch, litauisch, lettisch und deutsch beherrschte. Seine Schwester Selma war Lehrerin und fünfundzwanzig Jahre alt. Außer den vorgenannten Sprachen

war sie auch noch des französischen und englischen mächtig.

Sohn Karl, zweiundzwanzig Jahre alt, und Tochter Helene, siebzehn Jahre alt, vervollständigten die Familie. Karl wurde als Verwalter des Vorwerkes Butschunie des Gutes Beisagola beschäftigt.

25

Als Ausgangsbasis dieses Spiels mussten Verse oder Dialoge frei wiedergegeben, gesprochen oder gesungen, werden. Machte ein Mitspieler einen Fehler, was häufig bzw. fast immer der Fall war, musste ein Pfand gegeben werden.

26

Im Wehrgesetz des Kaiserreichs besteht eine Landsturmpflicht für alle männlichen Bürger vom 17. bis 45. Lebensjahr. Nach dem Wehrdienst erfolgte die Überstellung in die Reserve, danach Landwehr, danach Landsturm. Nach der Verfassung des Kaiserreichs sollte der Landsturm nur dann mobilisiert werden, wenn der Feind im eigenen Land steht.

Seite 42

Von einem jungen Brautpaar auf unserem Gut Beisagola wurde ich nebst meinen Kameraden

Josef

Glotz

gebeten,

Trauzeuge bei ihrer Hochzeit zu sein. Aus

Neugierde

habe

ich

zugesagt.

Die Trauung wurde in der katholischen Kirche nach dem Gottesdienst vollzogen. Uns beiden war je eine Partnerin zugeteilt. Zwei hübsche Mädchen, die sich in Bezug auf Aussehen und Kleidung gut mit den deutschen messen konnten. Außer uns fungierten noch zwei weitere Paare als Trauzeugen. In einem Lokal unweit der Kirche versammelten wir uns mit den übrigen Hochzeitsgästen. Danach ging es im geschlossenen Zug zum Gotteshaus, wo uns ein junger Priester empfing. Geschmückt waren wir Männer mit einer Vordere Reihe v. l. n. r. Leutnant Brassem, Sergeant Eichhorn

Seidenschleife

Hintere Reihe v. l. n. r. Gefreiter Gräpel, Gefreiter Glotz

während

auf

unsere

der

linken

Brust,

Partnerinnen

eine

Schärpe trugen. Von der Traurede habe ich nicht viel verstanden, da sie in litauisch gehalten wurde. Die Ringe wurden genauso wie bei uns gewechselt. Nur wenn das Brautpaar sich die Hand gab, schlang der Pfarrer seine Schärpe um die Handgelenke. Am Schluss der Trauung empfingen wir kniend den Segen und mussten das Kruzifix küssen. Bei mir zögerte der Priester, da er sich nicht sicher war, ob ich katholisch oder protestantisch sei. Ich habe aber brav mitgeküsst. Nach der Trauung versammelten wir uns wieder im Lokal zur üppigen Hochzeitstafel. Den Wein hatten mein Kamerad und ich gestiftet. Nach Beendigung des Festmahls ging es zur Schule, wo die Musik zum Tanze aufspielte. Die Feier dauerte bis tief in die Nacht. Man war wieder um ein Erlebnis reicher.

Seite 43

14. Revolution Die Nachrichten von den Kriegsschauplätzen waren nicht rosig. Die Übermacht der Amerikaner mit ihrem Kriegsgerät machte sich bemerkbar. Das deutsche Heer konnte dem Ansturm

der

Feinde

im

Westen

nicht

standhalten.

In

Deutschland

herrschte

Lebensmittelknappheit, Sabotage und Munitionsstreik. Am 29. Oktober 1918 verweigerten Matrosen der Hochseeflotte in Kiel und Wilhelmshaven den Gehorsam, um ihr Leben bei einem letzten "ehrenvollen" Gefecht gegen britische Verbände nicht aufs Spiel zu setzen. Wie ein Flächenbrand weitete sich der Matrosenaufstand innerhalb weniger Tage über Deutschland aus, bis schließlich am 09. November 1918 der Kaiser abdankte und nach Holland ins Exil ging. In vielen Truppenteilen wurden nun die Offiziere abgesetzt und Soldatenräte gewählt. Die Zügellosigkeit feierte Triumphe. Bei uns in der Verwaltung blieb alles beim alten, während den Offizieren des Regiments-Stabes des 2. Badischen Dragoner Regiment 21 der Befehl verweigert wurde. Am Abend vorher war ich noch mit mehreren Dragonern in der Telefonzentrale und lauschte den neuesten Nachrichten. Dann kam durch, dass die 4. Eskadron des 2. Badischen Dragoner Regiment 21 in Kowno einen Soldatenrat gewählt hatte. Selbige lagen zerstreut in den größeren Orten Litauens. Für alle Anwesenden war dies völlig unverständlich. Diese Ansicht änderte sich am anderen Morgen schlagartig. Einige Dragoner waren zu einem Maschinengewehr-Kursus in Wilna abkommandiert worden und meldeten sich nun zurück. Die Kokarde27 an ihren Mützen waren entfernt worden, stattdessen flatterten an deren Stellen rote Bänder. Von Disziplin war nun keine Spur mehr. Die Dragoner wiegelten nun die Mannschaften beim Stabe auf und so war auch hier die Revolution im vollen Gange. Die Offiziere mussten sich im Regimentsgeschäftszimmer versammeln. Dort wurden ihnen ihre Sünden vorgehalten, die sie gegenüber ihren Untergebenen begangen hatten. Sie wurden alle für abgesetzt erklärt, bis auf einen jungen Leutnant. Selbiger übernahm nun das Regiments-Kommando. Ihm zur Seite stand als Soldatenrat der Telefonist Gefreiter Glinzer. Der Regimentskommandeur, ein Oberstleutnant, hatte Glinzer noch gebeten, man möchte ihm doch seine Ehre als Regimentskommandeur lassen. Doch dem wurde nicht entsprochen.

27

Rundes Abzeichen

Seite 44

Mit der Zeit kamen aber wieder geregelte Verhältnisse. Dazu trug auch der Aufruf von Feldmarschall Hindenburg bei, der besagte, jeder sollte auf seinem Posten bleiben, damit eine geregelte Rückführung aller Truppen gewährleistet sei. Das 2. Badische Dragoner Regiment 21 wurde nun zur Bewachung der Bahnlinien eingesetzt.

Seite 45

15. Der Rückzug Die baltischen Provinzen Litauen, Lettland und Estland sagten sich von Russland los und bildeten eigene Regierungen und Staatsgebilde. Auch bei uns in Litauen taten sich Kreisund Ortskomitees auf, die nach unserem Abzug die Verwaltung übernehmen wollten. Mit der Zeit kehrten auch die Besitzer bzw. deren Bevollmächtigte der von uns verwalteten Güter zurück. Es musste nun die Rückgabe eingeleitet werden. Zu diesem Zweck wurde auf dem Militär-Kreisamt eine Konferenz anberaumt, an der der Kreishauptmann, der Wirtschaftsbeirat, die fünf Wirtschaftsoffiziere mit ihren Schreibern, nunmehr Sekretäre genannt, sowie einige Verwalter und Sachbearbeiter der Wirtschaftsabteilung zugegen waren. Es wurde lang und breit debattiert, nach welchen Richtlinien die Rückgabe der Güter erfolgen sollte. Es wurde sich darauf geeinigt, dass die Wirtschaftsoffiziere mit den ehemaligen Eigentümern nach eigenem Ermessen verhandeln und ein Übereinkommen erzielen sollten. Dazu musste erst nachgeforscht werden, was seitens der Verwaltung auf den Gütern an Vieh und Vorräten vorhanden gewesen war und was in dieser Zeit neu angeschafft wurde. Vieles musste in Bausch und Bogen geschätzt werden, da nur lückenhafte Aufzeichnungen vorhanden waren. Alsdann wurde der Geldwert festgelegt. Gleichfalls wurde mit den Besitzern verhandelt, was sie an Vieh und Ernteerzeugnisse übernehmen wollten. Der Differenzbetrag fiel dann meistens zu ihren Gunsten aus, da sie an den Naturalien nicht interessiert waren und deshalb lieber den Geldbetrag nahmen. In anders gelagerten Fällen hatte die Deutsche Verwaltung auch Forderungen an die Güter, wenn bei der Übernahme Vorräte nicht vorhanden waren oder wenn Maschinen, Gerätschaften etc. durch uns angeschafft wurden. Leider waren diese Besitzer oft nicht zahlungsfähig, so dass die Anschaffungen wieder zurückgenommen wurden und später zur Versteigerung kamen. An den Besitzer des Gutes Terespol, den Grafen Chrapowitzki, musste ich einen Differenzbetrag von rund vierundvierzigtausend Reichsmark zahlen. Er war ein sehr nobler Mann, sprach fließend deutsch und gab mir einen namhaften Betrag für meine Mühe. An

den

Bevollmächtigten

des

Gutes

Beisagola

einen

solchen

von

rund

dreiundvierzigtausend Reichsmark. Bei den übrigen fünf Gütern hatte keine Seite nennenswerte Forderungen.

Seite 46

Kurz vor Weihnachten setzten wir eine große Versteigerung an. Die Bauern unseres Bezirks konnten das von ihnen angekaufte Vieh wieder zurückkaufen, da wir keine Lieferungen für den Heeresbedarf mehr hatten. Mehrere hundert Kauflustige hatten sich hierzu eingefunden. Außer dem Vieh kamen auch die aus Deutschland bezogenen Maschinen, soweit sie von den

Gutsbesitzern

nicht

übernommen

wurden,

zum

Verkauf.

Die Versteigerung erbrachte einen Erlös von rund einhunderttausend Reichsmark. In der Buchführung wurde nach Mark und Pfennig gerechnet, die Aus- und Einzahlungen erfolgten durch Rubel und Kopeken28. Das Kursverhältnis war zwei Rubel gleich eine Mark. Ende 1916 verschwand das russische Geld, stattdessen kam für die eroberten Ostgebiete das von Posen aus in Umlauf gebrachte so genannte Oberostgeld, auch in der Währungseinheit Rubel und Kopeken. Daneben lief auch noch die deutsche Währung, jedoch nur geringfügig. Die Reichsmark war damals noch vollwertiges Zahlungsmittel im Vergleich zum Währungsverfall in den kommenden Jahren. Als Vergleich mag dienen, dass das von uns aufgekaufte Getreide je nach Reinigungsgrad der Zentner mit drei bis sieben Mark bewertet wurde. Rinder und Kühe kosteten im Durchschnitt etwa einhundert bis zweihundert Mark, waren von Natur aber auch nur klein.

28

Russische Währung, ein Rubel entspricht einhundert Kopeken.

Seite 47

Auszug aus einem Übergabeprotokoll

Seite 48

Weihnachten 1918 habe ich mit meinen Kameraden Glotz und Singer im Kreise der Familie Salpeter gefeiert und zwar im Vorwerk Butschunie, welches von dem Sohn Karl verwaltet wurde. Die Familie Salpeter musste schon vor Monaten das Gut Syrotischki räumen, da der Eigentümer, Rechtsanwalt Sorotschin, das Gut in die eigene Verwaltung übernahm. In den Tagen

vor

Neujahr

hatten

wir

dann

auch

wieder

eine

kleine

Hochzeitsfeier.

Unser Kamerad August Eichhorn wollte noch schnell seine Haushälterin Auguste ehelichen. Eichhorn war Wirtschaftsverwalter des Gutes Pokiertynie II. Da beide evangelisch waren, mussten sie sich in der vierzig Kilometer entfernten Stadt Ponewsch trauen lassen. Ob die Ehe nun in Deutschland für gültig erklärt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Bei unserem Abzug war seine Frau auch mit dabei. Beide waren nicht mehr jung, so Mitte dreißig. Zur Hochzeitstafel im kleinen Kreise waren nur unser Chef, Leutnant Kröger, Kamerad Glotz und ich eingeladen. Es wurde ein schmackhaftes Essen aufgetragen. Da beide Neuvermählten von der langen Reise ermüdet waren, zog sich die Feier ohne Musik und Tanz nicht lange hin.

Seite 49

16. Die letzen Tage Am Donnerstag, den 02. Januar 1919, erhielten wir in der Frühe plötzlich den Abmarschbefehl und hatten Beisagola zu räumen. Noch am selben Tag sollten wir auf dem Militärkreisamt in Kieydany erscheinen. Nun hieß es schnell packen und sortieren. Alles was an Papier und Akten nicht unbedingt nötig war, wurde verbrannt. Unsere verbliebenen Utensilien verluden

sowie wir

auf

die

Verwaltungsakten

drei

Schlitten,

unter

anderem auch meinen großen eisernen Geldkoffer mit

den

einhunderttausend

Reichsmark

Auktionserlös. Zum Abschied schossen wir noch

eine

Gewehrsalve

in

den

Winterhimmel. Mit etwas Wehmut verließen wir Beisagola, da wir hier gut eindreiviertel Jahr

gewirkt

hatten.

Nun

begann

die

Schlittenfahrt nach Kieydany. Es war schon dunkel, als wir auf Schloss Kieydany, dem Sitz des Kreisamtes ankamen. Hier trafen wir auch die Kameraden aus den anderen Bezirken. Entlausungsschein

Wir wurden zunächst entlaust und konnten dann im Schloss übernachten. Unsere drei Kutscher konnten am Abend mit ihren Schlitten noch den Heimweg antreten. Aufgrund des Übergabeprotokolls habe ich hier noch die dreiundvierzigtausend Reichsmark an den Bevollmächtigten des Gutes Beisagola gezahlt, da der Eigentümer Komar noch nicht wieder zurückgekommen war.

Am anderen Morgen stand ein Transportzug bereit, um uns aufzunehmen. Das gesamte Militärkreisamt sowie unsere Wirtschaftsabteilung kamen mit allem Drum und Dran im Zug unter. Auch andere Formationen stiegen hinzu. Personenwagen schienen Mangelware zu sein, denn wir mussten mit geschlossenen Güterwagen vorlieb nehmen. Gegen die Kälte hatte man uns kleine Öfchen hineingestellt, doch die spendeten wenig Wärme.

Seite 50

Am 04. Januar 1919 begann dann unser Zug zu rollen. Bis zu unserem Demobilmachungsort in Insterburg / Ostpreußen waren es zweihundertfünfzig Kilometer. Bei Eydkuhnen ging es über die Grenze. Nun hatte uns Deutschland wieder. Noch am selben Tage trafen wir in Insterburg ein und kamen in einem Hotel unter. Die ganze Stadt war voll von Militär, welches hier abgerüstet wurde. Ich musste mit meinem Bürokram mit einer Dachkammer vorlieb nehmen. Außer Singer und mir erhielten die anderen Kameraden unseres und der anderen vier Bezirke ihre Entlassungspapiere sowie fünfzehn Mark Marschgeld, fünfzig Mark Entlassungsgeld sowie die noch ausstehende Löhnung. Noch am selben Tag konnten sie in die Heimat reisen. Wir Schreiber und die Sachbearbeiter der Wirtschaftsabteilung mussten noch dableiben, um das noch zu erledigende Schreibpensum aufzuarbeiten. Es galt, die Kassenabrechnung zu erstellen, die Gutsbücher abzuschließen und noch vieles mehr zu erledigen. Da Kamerad Singer seine Arbeit schon eher abgeschlossen hatte, war er mir bei meiner Arbeit noch behilflich, so dass ich baldigst damit fertig wurde. Am Montag, den 06. Januar 1919, hatte ich alles zur Übergabe bereit, um es bei der Abwicklungsstelle (frühere Wirtschaftsabteilung) abzuliefern. Gleichzeitig übergab ich auch die Kasse mit etwa siebenundfünfzigtausend Reichsmark. Ich

hatte

nun

keine

Verantwortung

mehr.

Mein

Gewehr

sowie

die

anderen

Ausrüstungsgegenstände gab ich ab. Uniform und Mantel erhielt ich zum Eigentum. Die restliche Löhnung, fünfzig Mark Entlassungsgeld, fünfzehn Mark Marschgeld sowie der Heimat-Fahrschein wurden mir ausgehändigt. Nun war ich wieder ein freier Zivilist. Am Abend des 06. Januar 1919 setzte ich mich abends in den Zug nach Berlin, desgleichen mein ehemaliger Chef Leutnant Kröger und einige meiner Kameraden. Im Laufe des nächsten Vormittages lief der Zug in den Schlesischen Bahnhof in Berlin ein. Hier trennten sich unsere Wege. Kröber fuhr Richtung Leipzig, während Singer in Berlin verblieb. Ich wartete nun auf eine Fahrgelegenheit nach Hannover, weil mich ein längerer Aufenthalt in Berlin nicht reizte, da hier Spartakus den Aufstand probte. Junge Bengels in Zivil mit umgehängten Gewehr und Lauf nach unten, patrouillierten auf dem Bahngelände und bewachten die Brücken. Das Bahnpersonal nahm von alledem keine Notiz. Der Verkehr rollte einigermaßen. Im Morgengrauen des 08. Januar 1919 stand ich auf dem Bahnhof in Hannover und am Nachmittag des gleichen Tages kletterte ich mit meinem Koffer aus dem Personenwagen der Kleinbahn in Asendorf. Insgesamt vier Jahre auf Tag und Datum hatte mich der erste Weltkrieg festgehalten.

Seite 51

Anhang

Seite 52

A. Weitere Auszeichnungen von Johann Gräpel 1. Die Kriegsdenkmünze 1914/18 des Kyffhäuser-Bundes

Kriegsdenkmünze 1914/18 des Kyffhäuser-Bundes mit Besitzzeugnis

Der Krieg war zu Ende. Millionen von Soldaten hatten für Volk und Vaterland gekämpft. Sie alle wollten eine kleine Anerkennung, einen Dank für den persönlichen Einsatz. Oft wurde die Bitte nach einem "Kriegserinnerungsorden" an die Reichsregierung gestellt, doch in den politischen Wirren der Nachkriegszeit hatte dieses Ansinnen keinen Platz. Da von Seiten der Regierung nichts geschah, mussten die Deutschen LandeskriegerVerbände, die sich im Kyffhäuser-Bund organisiert hatten, eigene Wege gehen.

Am 19. Juni 1921 wurde auf der Vertreter-Versammlung des Kyffhäuser-Bundes mit Genehmigung des zuständigen Reichsministers die Stiftung einer Denkmünze für Kriegsteilnehmer 1914/1918 beschlossen. Die Stiftungsurkunde unterzeichneten der Generalfeldmarschall von Hindenburg und der Vorstand des Kyffhäuser-Bundes.

Seite 53

Der Preis der Denkmünze einschließlich Band und Besitzzeugnis sollte zehn Mark betragen. Die Bezahlung musste mit der Antragstellung erfolgen. Die Nachfrage nach der Denkmünze durch die Landesverbände war so groß, dass der Kyffhäuser-Bund mit der Beschaffung und Lieferung

nicht

nachkam.

Sehr

schnell

steigende

Herstellungskosten

führten

im

Dezember 1922 dazu, dass der Kyffhäuser-Bund die Verleihung der Denkmünze vorläufig einstellte. Die Denkmünze für Kriegsteilnehmer wurde bis Anfang 1934 verliehen und dann eingestellt.

Seite 54

2. Ehrenkreuz für Frontkämpfer

Ehrenkreuz für Frontkämpfer mit Besitzzeugnis

Mit Verordnung vom 13. Juli 1934 stiftete der Reichspräsident Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg zur Erinnerung an die unvergänglichen Leistungen des deutschen Volkes

im Weltkrieg 1914 - 1918 ein Ehrenkreuz für alle Kriegsteilnehmer und

Kriegshinterbliebenen. Das Ehrenkreuz wurde in drei Formen gestiftet:



für Frontkämpfer



für andere Kriegsteilnehmer und



für Witwen und Eltern gefallener, verschollener oder an den Folgen von Verwundung oder in der Kriegsgefangenschaft gestorbener Kriegsteilnehmer.

Kriegsteilnehmer in diesem Sinne waren alle Reichsdeutschen, die in dem Zeitraum vom 01. August 1914 bis zum 31. Dezember 1918 auf deutscher Seite oder auf der Seite der Verbündeten Kriegsdienst geleistet hatten. Als Frontkämpfer hingegen galt jeder Reichsdeutsche, der innerhalb des vorgenannten Zeitraums bei der kämpfenden Truppe an einem Gefecht, einem Stellungskampf, einer Schlacht oder an einer Belagerung teilgenommen hatte. Hierfür waren die Einträge in die Kriegsstammrolle oder die Kriegsrangliste ausschlaggebend.

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Reichsdeutsche in diesem Sinne waren auch die Kriegsteilnehmer, die aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages ihre Reichsangehörigkeit verloren hatten. Hitler und die Nationalsozialisten versuchten zunächst zu verhindern, dass das Ehrenkreuz auch an Juden ausgehändigt wurde. Hindenburg setzte sich jedoch durch und ließ keine Ausnahmen zu. Als

Witwen

wurden

die

Frauen

anerkannt,

deren

Ehen

vor

dem

31. Dezember 1918 geschlossen wurden, auch wenn sie bereits wiederverheiratet waren. Zu den Eltern zählten auch Stief- und Adoptiveltern. Alle durch unmittelbare oder mittelbare Einwirkung von Kampfmitteln entstandenen äußeren und inneren Verletzungen galten im Sinne der Verordnung als Verwundung. Von den Eltern war zunächst der Vater trageberechtigt. Im Falle seines Todes durfte das Ehrenkreuz von der Mutter getragen werden. Die Form des Ehrenkreuzes ist an die Rückseite der Kriegsdenkmünze 1870/71 angelehnt. Das am 06. Juli 1934 vorgelegte Muster stammte von dem Ordens-Juwelier Eugene Godet in Berlin. Das Ehrenkreuz für Frontkämpfer trägt einen Lorbeerkranz und zwei Schwerter. Das Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer trägt stattdessen einen Eichenlaubkranz und verfügt über keine Schwerter. Beide Kreuze sind bronzefarben und werden an einem schwarzen, zweimal weißen und in der Mitte rot durchzogenen Band getragen. Das Ehrenkreuz für Hinterbliebene gleicht dem für Kriegsteilnehmer, ist jedoch schwarz. Es wird an einem weißen, zweimal schwarz und in der Mitte rot durchzogenem Band getragen. Auch konnte es als Miniatur oder als Knopflochschleife getragen werden. Die allgemeinen Verleihungen waren bis zum September 1943 abgeschlossen. Das Ehrenkreuz wurde in seinen Formen millionenfach verliehen. Schätzungen gehen von bis zu zehn Millionen produzierten Stücken aus, darunter auch Zweitstücke, Museums- und Ausstellungsstücke. Dr. Heinrich Doehle29 gibt 1944 für das Frontkämpferehrenkreuz über sechs Millionen Verleihungen an (bis zum 15. November 1936). Für das Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer kommt Herr Dr. Doehle auf eine Zahl von über eine Million und für das Ehrenkreuz für Hinterbliebene auf eine Zahl von über siebenhunderttausend Verleihungen. Aufgrund der hohen Stückzahl war eine Vielzahl von Firmen mit der Herstellung beauftragt, so dass es in Material und Abmessung zu Abweichungen kam.

29

Unterstaatssekretär Dr. Heinrich Doehle war der Leiter der Ordenskanzlei des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler.

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B. Weitere Unterlagen 1. Militärpass

Seite 57

2. Soldbuch

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C. Die Geschichte Litauens 1. Die Anfänge Der Fürst Mindaugas, der sich taufen und im Jahr 1253 zum König krönen ließ, galt als Gründer des litauischen Staates. Gediminas (1316-1341) verlegte 1323 die Hauptstadt von Trakai nach Wilna (heutiges Vilnius), deswegen wurde Gediminas

als

Gruender

der

Stadt

Vilnius

bezeichnet.

1385 kam es zum Vertrag von Kreva, in dem sich Großfürst Jogaila (Enkel von Gediminas) verpflichtete, sein Land der

Wappen von Litauen

Krone Polens auf ewig anzugliedern und sein Volk taufen zu lassen. Vytautas (1392-1420) ist der einzige litauische

Herrscher, der den Beinamen "der Große" erhielt. In seiner Regierungszeit erreichte das Großfürstentum seine größte Ausdehnung von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Vytautas größte militärische Leistung war der Sieg über den Deutschen Orden in der Schlacht bei Tannenberg im Jahre 1410. Damit war der jahrhundertelange Kampf der Litauer gegen die Truppen der Deutschen Ritterorden aus Preußen und Livland30 zu Ende. Die Grenzen nach Norden und Süden wurden nun endgültig befestigt. Die Grenze mit Ostpreußen hatte bis 1918 unverändert Bestand. In den sich an den Tod Vytautas und Jogailas (1434) anschließenden Nachfolgekämpfen konnte der polnische Adel seinen Einfluss nach und nach vergrößern, so dass Litauen ab dem 16. Jahrhundert praktisch zu einem Teil Polens wurde. Festgeschrieben wurde die polnische Vorherrschaft in der Lubliner Union von 1569, die das polnisch-litauische Staatswesen real integrierte. In den folgenden gut zweihundert Jahren verlor Litauen kontinuierlich an Bedeutung und wurde eine der Provinzen Polens, alle relevanten Entscheidungen fielen in Krakau und Warschau. Es war aber eines der Zentren jüdischer Kultur in Osteuropa mit eigenen Schulen, einer großen Bibliothek und zahlreichen Bibelschulen.

30

Livland war die regionale Bezeichnung eines Territoriums, das Teile des heutigen Lettland und einen erheblichen Teil des Südens des heutigen Estland umfasst.

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Im den Jahren 1772, 1793 und 1795 wurde die litauisch-polnische Nation drei Mal von Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt. Mit der dritten und endgültigen Teilung Polens 1795 hörte Litauen zunächst auf zu existieren und das Gebiet wurde in mehrere russische Verwaltungseinheiten aufgeteilt. Eine gesamtlitauische Verwaltungseinheit existierte nicht. Litauen stand nun einhundertzwanzig Jahre lang unter der Herrschaft des russischen Zarenreiches. Im 19. Jahrhundert verstärkten sich - wie überall in Europa - auch in Litauen die nationalen Bewegungen und es erschienen erstmals Bücher auf litauisch. Als Vater litauischer Literatur gilt Kristijonas Donelaitis (1713-1780), der in den Jahren 1765-1775 sein Epos "Jahreszeiten" (litauisch: Metai) schuf. Er lebte und wirkte in Kleinlitauen (Mažoji Lietuva, nördliches Ostpreußen), wo die litauische Bevölkerungsmehrheit in gewissem Rahmen ihre Kultur und Sprache pflegen konnte. 2. Der Erste Weltkrieg

Im Jahr 1915 nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs besetzten kaiserlich-deutsche Truppen Litauen. Da die zurückweichenden Russen ihre gesamte Verwaltung abgezogen hatten, waren die Deutschen gezwungen, eigene Behörden sowie ein Gerichts-, Schul-, Gesundheits- und Verkehrswesen aufzubauen. Gleichzeitig wurde Litauen aus der Wirtschaft des Zarenreiches ausgelöst und auf die Bedürfnisse der deutschen Kriegswirtschaft ausgerichtet. Damit war eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung eines selbständigen litauischen Staates geschaffen. Von Beginn an war das Land Objekt der unterschiedlichen deutschen politischen Zielsetzungen. Die Bevölkerung litt unter der Besatzungsmacht, die die Ressourcen des Landes ausplünderte, Männer in Arbeitsbataillone zwang und obligatorisch bereits in der Grundschule den Deutschunterricht einführte. Am 15. März 1915 wurde die Litauische Militärverwaltung

gegründet,

die

in

die

Struktur

der

Verwaltung

Oberost

(von Deutschland besetztes Territorium im Osten) einging.

Am 30. Mai 1917 erteilte der Oberbefehlshaber Ost die Erlaubnis, einen Vertrauensrat im Land zu bilden. Die Befugnisse dieses Vertrauensrates waren jedoch nie klar umrissen. Er

war

als

Hilfsorgan

für

die

deutsche

Militärverwaltung

gedacht.

Vom 18. bis zum 22. September 1917 fand mit der Zustimmung der deutschen Militärverwaltung die Vilniusser Konferenz statt, deren Teilnehmer Beschlüsse über die

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Zukunft Litauens fassten und den Litauischen Rat wählten, in dem die Militärs allerdings nicht mehr als einen Erfüllungsgehilfen der eigenen Pläne und ein williges Instrument sahen. 3. Die Unabhängigkeitserklärung - Die erste Republik

Am 11. Dezember 1917 wurde die Wiederherstellung eines unabhängigen litauischen Staates mit der Hauptstadt Vilnius verkündet und am 16. Februar 1918 erfolgte die eigentliche Unabhängigkeitserklärung, wobei die endgültigen Grenzen erst mit dem Friedensvertrag mit Russland 1920 festgelegt wurden. Die junge Republik konnte sich jedoch nicht gegen die Ansprüche Polens auf die Gebiete rund um Wilna wehren, die von Truppen des polnischen Generals Pilsudski am 09. Oktober 1920 besetzt worden waren. Die polnische Annexion wurde vom Völkerbund de facto anerkannt. So wurde Kaunas zur vorübergehenden Hauptstadt Litauens. Ihrerseits annektierten die Litauer 1923 das Memelgebiet31, dass seit dem Ende des Ersten Weltkriegs vom Völkerbund verwaltet worden war. 1924 wurde diese Annexion von den vorherigen Schutzmächten anerkannt. Am 12. Juli 1920 endete der Kriegszustand mit dem litauisch-sowjetrussischen Friedensvertrag, in dem Sowjetrussland für alle Zeiten auf seine Souveränitätsrechte über das litauische Volk und sein Land verzichtete, Litauens Unabhängigkeit anerkannte und seinen Anspruch auf Vilnius bekräftigte. Die Zeit der ersten Republik bedeutete einen großen Aufschwung in der litauischen Kultur und Bildung. Zentrum war Kaunas, während die eigentliche Hauptstadt Vilinius unter polnischer Herrschaft zu einer Provinzstadt herab sank. Trotz vieler Probleme war Litauen bis zum Zweiten Weltkrieg ein aufstrebendes Agrarland, das Fleisch, Schinken, Butter, Getreide, Flachs und Geflügel nach Westeuropa exportierte. Mit der Agrarreform vom März 1922 war die Grundlage für die Entstehung mittlerer landwirtschaftlicher Betriebe geschaffen worden, die sich allmählich von Getreideanbau auf Viehwirtschaft umstellten. Die Industrieproduktion blieb unbedeutend. Der 1922 eingeführte Litas zählte zu den stabilsten Währungen der Zwischenkriegszeit.

31

nördlichster Teil Ostpreußens, rund um die Stadt Memel, heute Klaipėda

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In Litauen übernahm Antanas Smetona 1927 die Macht und löste das Parlament auf. Mehrmals kam es zu gewaltsamen Revolten gegen seine Herrschaft. Als Bauernunruhen im Sommer 1935 das Land erschütterten, verbot die Regierung die anderen Parteien. Seit 1936 waren die Minderheiten im Parlament nicht mehr vertreten, die Vereins- und Pressefreiheit wurde zunehmend beschnitten. Die Verfassung von 1938 schrieb die Macht des Präsidenten weiter fest und sicherte dem Staat eine Vormachtstellung in der Wirtschaft. Damit war Litauen ein autoritärer Einparteienstaat geworden. Im Vergleich zu anderen Regimen dieser Jahre war das litauische Präsidialregime verhältnismäßig mild. Im Vorzeichen des Zweiten Weltkrieges musste sich Litauen am 22. März 1939 dem deutschen Druck beugen und nach einem Ultimatum das Memelgebiet wieder an Deutschland zurückgeben. Am 23. August 1939 hatten Hitler und Stalin sich in ihrem Nichtangriffspakt Zusatzprotokoll

über

die

wurden

vierte

Estland

Teilung und

Polens

Lettland

geeinigt.

der

In

sowjetischen

seinem

geheimen

Interessensphäre

zugeschlagen. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Litauen erklärte zusammen mit Estland und Lettland seine strikte Neutralität. Am 28. September 1939 erhielt Stalin im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag auch noch Litauen. 4. Der Zweite Weltkrieg

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begann die Sowjetunion in Übereinstimmung mit den Abmachungen des Hitler-Stalin-Paktes, in denen das Baltikum als sowjetisches Interessengebiet festgelegt worden war, ihren Druck auf Litauen zu verstärken. Am 15. Juni 1940 besetzte die Rote Armee32 unter einem Vorwand ganz Litauen. Das von Polen besetzte Gebiet rund um Wilna hatte sie bereits 1939 besetzt. Gezielt wurden der Sowjetunion gewogene Politiker in den höchsten Staatsämtern der Republik Litauen lanciert (Präsident

Antanas

Smetona

war

im

Juni

1940

zurückgetreten),

die

Litauen

am 18. Juli 1940 zur Sozialistischen Republik erklärten und um Aufnahme in die Sowjetunion ersuchten. Dem wurde am 03. August 1940 "stattgegeben". Diese Annektierung Litauens wurde von den meisten westlichen Staaten nie anerkannt.

32

Bezeichnung für die Streitkräfte sozialistischer Republiken.

Seite 62

Die kommenden zwölf Monate bis zum Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 brachten einen Vorgeschmack auf die kommunistische Nachkriegszeit: Ersatz der Polizei durch Arbeitermiliz, Verbot aller bürgerlichen Parteien und Organisationen, Eingliederung der litauischen Armee als 29. Territorialkorps in die 3. Rote Armee, Enteignung und Verstaatlichung von Industrie, Handel und Banken, Abwertung und Ersatz des Litas durch den Rubel, Beschlagnahme von Privathäusern, Abschaffung der traditionellen Feiertage, Verstaatlichung aller Privatschulen, Gründung von Atheistischen Brigaden zum Kampf gegen die Gläubigen, Entfernung von Priestern aus dem Schul- und Armeedienst, Import von Funktionären aus der Sowjetunion Auch wurden insbesondere Intellektuelle und "bürgerliche Elemente" interniert und nach Sibirien geschickt; viele von ihnen kehrten nicht zurück. Als Folge dieser Maßnahmen ging der Lebensstandard schlagartig zurück, Lebensmittel wurden knapp. 5. Die deutsche Besetzung

Mit dem deutschen Blitzkrieg im Osten wurde Litauen am 22. Juni 1941 innerhalb einer Woche vollständig durch die Deutschen besetzt. Kaum ein Litauer empfand an diesem Tag Angst. Die Deutschen wurden mit Blumen und Freudentränen von Litauern begrüßt. Am 23. Juni

1941 wurde eine provisorische Regierung gebildet. Sechzehn- bis

zwanzigtausend Mann griffen spontan zu den Waffen und kämpften gegen die Russen.

Nun rückte die jüdische Bevölkerung ins Visier der Machthaber. Bereits zu Beginn der deutschen Offensive waren bei Pogromen33 mehrere Hunderte, vielleicht auch Tausende Juden getötet worden. Die Deutschen gingen organisierter vor und richteten in den großen Städten Kaunas, Vilnius und Šiauliai Ghettos ein. Die nicht arbeitsfähigen Juden wurden bis zum Herbst 1941 zu Tausenden erschossen. Ende 1941 begann die Verschickung der ersten Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich. Bis Anfang 1944 sollte die Zahl auf siebzigtausend steigen. Unzählige Litauer kamen in Konzentrationslager, viele wurden erschossen.

Litauen unterstand während der deutschen Besetzung der neu eingerichteten Zivilverwaltung des

Reichskommissariats

Ostland

mit

dem

Sitz

in

Riga.

Das Land bildete den Generalbezirk Litauen mit dem Sitz in Kauen, so die damals deutsche Bezeichnung für Kaunas. 33

gewaltsame Massenausschreitung gegen Mitglieder religiöser, nationaler oder ethnischer Minderheiten, verbunden mit Plünderung und Mord.

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6. Die sowjetische Besetzung

Im Herbst des Jahres 1944 konnte die Rote Armee Litauen zurückerobern. Erneut wurde eine

kommunistische

Regierung

eingesetzt

und

Litauen

wurde

wieder

Teil

der

Sowjetrepublik. Und erneut gab es Massenverhaftungen und Deportationen. Viele Litauer flohen mit den Deutschen nach Westen und emigrierten später nach Nordamerika, wo sich Chicago zu einem Zentrum litauischer Emigration entwickeln sollte. Tausende gingen jedoch in den Widerstand und kämpften bis etwa 1953 als Partisanen aus den Wäldern gegen die sowjetische Herrschaft. Insgesamt kosteten der Zweite Weltkrieg und der anschließende Partisanenkampf knapp zweihunderttausend litauischen Juden und über dreißigtausend weiteren Litauern das Leben.

Die sowjetische Zeit brachte einen starken Zuzug von Menschen aus der restlichen Sowjetunion, insbesondere in die praktisch verwaiste Hafenstadt Klaipėda und in die Hauptstadt Vilnius. Es folgte eine starke Industrialisierung Litauens, das noch bis zum Zweiten Weltkrieg vorwiegend bäuerlich geprägt gewesen war. Ziel der sowjetischen Herrscher war es, möglichst viele Russen anzusiedeln. Trotz der unbedingten Vorherrschaft Moskaus konnte Litauen einige Unabhängigkeiten bewahren; so blieb das Litauische in Schulen, Universitäten und Fernsehen präsent.

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7. Die Unabhängigkeit seit 1991

Mit Michail

der

beginnenden

Gorbatschow

zeigten

Lockerung die

Litauer

der als

sowjetischen erste

Besatzung

Sowjetrepublik

den

unter Mut

zu

Veränderungen. Bereits 1987 gründete sich die Unabhängigkeitsbewegung "Sajudis". Im Dezember 1989 erklärte die Litauische Kommunistische Partei ihre Trennung von der KPdSU34. Im Februar 1990 fanden erstmals freie Wahlen statt, die die "Sajudis" klar für sich entscheiden konnte. Am 11. März 1990 erklärte der neu gewählte Oberste Sowjet35 Litauen für unabhängig und setzte die Vorkriegsverfassung wieder in Kraft. Damit war der Anfang vom Ende der Sowjetunion eingeläutet worden. Am 13. Januar 1991 versuchten moskautreue Kräfte sich mit Unterstützung sowjetischer Militärs an die Macht zu putschen. Dabei starben insgesamt sechzehn unbewaffnete Zivilisten, die Parlament und Fernsehturm verteidigten. Der Putsch misslang. Nachdem im August 1991 auch in Moskau der Putschversuch kommunistischer Hardliner fehlgeschlagen war, proklamierte Litauen am 22. August 1991 die volle Unabhängigkeit, die am 06. September 1991 von der Sowjetunion und innerhalb kürzester Zeit von über neunzig weiteren Staaten anerkannt wurde. Nach anfänglicher Wirtschaftskrise und politischer Instabilität gewann die Reformpolitik zunehmend an Dynamik, insbesondere nach der Überwindung der sog. Russlandkrise von 1998. Im Jahr darauf wurden Litauen und Lettland im "Nachrückverfahren" noch in die Reihe der EU-Beitrittskandidaten aufgenommen. Im Jahr 2003 sorgte eine Affäre um den litauischen Präsidenten Paksas für Wirbel, in der ihm Verwicklungen mit der organisierten Kriminalität vorgeworfen wurden. Am 19. Februar 2004 stimmte das litauische Parlament schließlich für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens. Am 06. April 2004 wurde Staatspräsident Paksas entmachtet. Kurz zuvor, am 29. März 2004, wurde Litauen Mitglied der NATO. Am 01. Mai 2004 folgte der EU-Beitritt

34

Kommunistische Partei der Sowjetunion

35

Bezeichnung des Parlaments in den einzelnen Sowjetrepubliken

Seite 65

D. Daten über Litauen Territorium: 65.300 km2 (entspricht ca. dem eineinhalbfachen der Schweiz) Anzahl der Bevölkerung: 3,50 Millionen 82 % Litauer, 8 % Russen, 7 % Polen, 3 % andere Nationalitäten Hauptstadt Vilnius (deutsch: Wilna) - 584.000 Einwohner Klima: Kältester Monat: Januar mit durchschnittlich -5,1° C Wärmster Monat: Juli mit durchschnittlich +17,0° C Jahresdurchschnittstemperatur: +6,2° C Jährliche Regenmenge: 661 mm Name in Landessprache: Lietuvos Respublika Staatssprache: Litauisch Währung: 1 Litas (LTL) = 100 Centas Wechselkurs: 1 EUR = 3,4528 Litas; 1 Litas = 0,2896 EUR Hauptreligion: Römische Katholiken Grenzländer: Lettland, Belarus (Weißrussland), Polen, Russische Föderation (Kaliningrad)

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In Litauen befinden sich: 758 Flüsse, die länger als 10 Kilometer sind und 2.830 Seen mit einer Fläche von jeweils über 0,5 ha Der größte Fluss: Nemunas (deutsch: Memel) mit einer Länge von 937 km, davon 475 km auf dem Territorium Litauens Der größe See: Druksiai-See 4.480 ha Das höchste Gelände: Hügel Juozapine 293,6 m Die größten Städte: Vilnius - 577.000 Einwohner Kaunas - 415.000 Einwohner Klaipėda - 206.000 Einwohner Nationalfeiertag: 16. Februar (Wiederherstellung des Staates 1918) Nationalflagge:

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E. Landkarten 1. Europakarte 2004

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2. Litauen 1935

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3. Ostpreußen 1914

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4. Das heutige Litauen

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Erkennungsmarke von Johann Gräpel

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