Mehr als die Summe seiner Symptome. Zur kulturhistorischen ...

würden, folge ich VYGOTSKIJs Analyse zur »Krise der Psychologie in ihrer histo‐ .... um Kurt FISCHER an der Harvard University (Fischer & Yan 2000, Mascolo & .... Jena. Appadurai, A. (2001): Grassroots Globalization and the Research ...
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ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 48 Ingolf Prosetzky Mehr als die Summe seiner Symptome Zur kulturhistorischen Neuropsychologie und Pädagogik des Williams-Beuren-Syndroms

Ingolf Prosetzky

Mehr als die Summe seiner Symptome Zur kulturhistorischen Neuropsychologie und Pädagogik des Williams-Beuren-Syndroms

Berlin 2014

ICHS International Cultural-historical Human Sciences

ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Ingolf Prosetzky Mehr als die Summe seiner Symptome © 2014: Lehmanns Media GmbH • Verlag • Berlin Umschlagbild: "Papa" von Torben Mühlenbruch (7 Jahre) www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-655-1 Druck: docupoint GmbH • Barleben

Vorwort: Über den Nutzen methodologischer Reflexion Wolfgang Jantzen „Die naturwissenschaftliche Decke […] über rückständigste Metaphysik gebreitet, konnte weder Herbart noch Wundt retten, weder mathematische Formeln noch die exakte Apparatur haben vor dem Mißerfolg bewahren können, weil die Frage falsch gestellt war.“ (Vygotskij 1985, 131)

Bis heute ist der Diskurs um die modernen Neurowissenschaften gekennzeich‐ net durch einen exponentiellen Zuwachs an Wissen bei innerhalb des Mainstreams zugleich deutlicher Abneigung gegen verallgemeinernde Theorie‐ bildung. Es mangelt häufig an methodologischer Reflexion und ähnlich der Psychologie gilt jeweils nur das Allerneueste. Theorieentwürfe werden kurz‐ fristig diskutiert, sind aber, liegen sie erst einige Jahre zurück, uninteressant, obgleich gerade ihre Widersprüche und Gemeinsamkeiten sie für eine verein‐ heitlichende Theorie zum höchst interessanten Forschungsgebiet machen würden, folge ich VYGOTSKIJs Analyse zur »Krise der Psychologie in ihrer histo‐ rischen Bedeutung« (Vygotskij 1985). Ausdrücklich insistiert hier VYGOTSKIJ auf die Befassung mit Erklärungswissen vom Standpunkt der Forschung, nicht der Kritik. Wichtiger als theoretische Reflexion ist es offensichtlich für die Zugehö‐ rigkeit zum Mainstream, im wissenschaftlichen Schelf (Appadurai 2001) einer Forschergemeinschaft zu verbleiben, die sich u.a. durch wechselseitige Re‐ view‐ und Zitiersysteme sowie durch Publikationen in relevanten Zeitschriften bestimmt und sich auf diese Weise den jeweils höchsten Stand der Wissen‐ schaft selbst bescheinigt, ohne die massiven ökonomischen, ideologischen und politischen Einflüsse, denen sie ausgesetzt ist, zur Kenntnis zu nehmen (Latour 1994). „Die Beziehungen zwischen der molekularbiologischen, der zytologischen (neuronalen), der physiologischen, der funktionalen und der psychologischen Analyseebene sind alles in allem genau so unklar wie vor dreißig, fünfzig oder fünfundsiebzig Jahren“, so vermerkte MÉTRAUX (1994, 8) vor zwanzig Jahren. Daran hat sich auch in der Folge wenig geändert, wie exemplarisch die Debatte um den sogenannten freien Willen zeigt oder der Versuch, Frontalhirnschäden in unmittelbaren Bezug mit kriminellem Verhalten zu bringen, ohne dem Kon‐ text des Erlebens und der sozialen Entwicklungssituation Rechnung zu tragen, insbesondere auch ohne eine Weiterentwicklung einer Theorie der Emotionen. Sofern veränderte Motivlagen, wie beim Frontalhirnsyndrom, auf emotionale Prozesse rückführbar sind, so Antonio DAMASIO, bzw. der sogenannte freie Wille auf subkortikale, emotionale Bewertungsprozesse (so die Debatte um die

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Ergebnisse von Benjamin LIBET), und insofern selbst die Informatik jenseits des Wissensbestandes der künstlichen Intelligenz, den Schlüssel für die Lösung ihrer Probleme der Komplexität in einer Lehre von den Emotionen sucht (Dietrich u. a. 2009), sollte spätestens hier die vorherrschende Missachtung komplexer Theorien als bloße „speculations“ ein Ende haben.1 Natürlich gibt es über die Jahre hinweg interessante theoretische Entwürfe, z.B. EDELMAN (1993) oder DAMASIO (1996, 2003, 2005) oder seitens der Neuro‐ psychoanalyse die Bücher von SCHORE (1994), von SOLMS & TURNBULL (2004) sowie KAPLAN‐SOLMS & SOLMS (2005) und Teiltheorien von hohem Interesse, z.B. die Spiegelneuronen‐Theorie (Rizolatti u. a. 2008), PANKSEPPs Theorie sub‐ kortikaler affektiver Prozesse (1998) oder MERKERs Theorie subkortikaler Bewusstseinsprozesse (2007), aber soweit ich sehe, existiert keine systemati‐ sche methodologische Diskussion um Theoriebildung, wie z.B. in der Physik oder in der Evolutionstheorie (Evo‐Devo; vgl. Oyama u. a. 2001, Jantzen 2013). Folgt man den Ausführungen von Jürgen RENN, Direktor des Max‐PLANCK‐ Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, so liegt einer der historischen Gründe dieser theoretischen Abstinenz in dem Umgang der Inquisition mit Galileo GALILEI. In einem gerade erschienenen Essay in der Süddeutschen Zei‐ tung hält Schrader (2014) mit Bezug auf Arbeiten von Renn fest: „Galilei vertraute der Kraft rationaler Argumente. Die Inquisition interessierte nur, dass er „gegen die von ihr für wahr und gottgegeben erachtete Wahrheit argumen‐ tiert. Das genügt, ihn zu verurteilen. Die Folgen für die Wissenschaft sind noch heute zu spüren. Sie verlagerte sich damals aus den katholischen Ländern in die protes‐ tantischen Staaten Nordeuropas »Außerdem entwickelten die Forscher eine Abnei‐ gung gegen Theorie und Weltanschauung« sagt Renn. Seither lässt die Naturwissen‐ schaft meist Experimente und Daten sprechen.“ (Schrader 2014) 2

In ähnliche Richtung hatte bereits Stephen TOULMIN (1994) in »Kosmopolis« argumentiert. Aufgrund ausführlicher Quellenstudien, insbesondere zu den Studien des jungen DESCARTES zu GALILEI, hebt TOULMIN im Unterschied zur humanistischen Philosophie und Weltanschauung MONTAIGNEs eine formalisti‐ sche Ausrichtung bei DESCARTES hervor. Beide ordnet er ein in die Zeitumstände von Krieg und Frieden, MONTAIGNE in die Zeit des Edikts von Nantes, das 1598 1 Vgl. JANTZEN (2006) zur äußerst anregenden theoretischen und empirischen Behand‐

lung der Willenstheorieproblematik bei VYGOTSKIJ und LEONT'EV. Vgl. WENTZLAFF (2014) zu einer theoretisch und empirisch alternativen Sicht der Schädigung von Frontalhirn‐ prozessen und deren Folgen. 2 Quelle bei RENN nicht identifizierbar

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die Hugenottenkriege beendete, und DESCARTES in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648. Wenn dies so wäre, wäre generell nach den Zeitumständen zu fragen, die ein anderes Paradigma begünstigen. Ohne Zweifel sind die von beiden Autoren genannten Prozesse gegeben. Allerdings scheinen mir die initiierenden ebenso wie aufrechterhaltenden Bedingungen dieses Forschungsparadigmas auf einer allgemeineren Ebene zu liegen, als dass sie mit den auslösenden Bedingungen des Galilei‐Prozesses unmittelbar verknüpft werden könnten. In seinem berühmten Londoner Vortrag von 1931 hat Boris HESSEN das Denken NEWTONs in unmittelbaren Zusammenhang zum sich entwickelnden Kapitalismus gestellt (Werskey 2006, Sheehan 2007). In ähnlichem Kontext lässt sich die Entwicklung von NEWTONs Theorie der linearen Zeit als Ausdruck der von ihm postulierten „absoluten Zeit“ begreifen (Padova 2014), die, so SANTOS (2003), ein wesentlicher Bestandteil der „teilnahmslosen Vernunft“ des Nordens ist (vgl. Aguiló 2014). Entsprechend wäre nach Bedingungen der Möglichkeit der Aufrechterhaltung des formalistischen Denkens im wissen‐ schaftlichen Mainstream bis in die Gegenwart zu fragen. Und sicherlich ist hier der Siegeszug des Neoliberalismus der entscheidende Faktor, verbunden mit der postmodernen Mär, dass große Erzählungen nicht mehr möglich seien, oder FUKUYAMAs (1992) vorzeitigem Proklamieren eines Endes der Geschichte. Verfolgt man den Gedanken der historischen Bestimmtheit formaler Wis‐ senschaft, so zeigt es sich, dass die Dominanz des formalistischen Mainstreams nie durchgängig war, unter spezifischen historischen Bedingungen immer wieder gebrochen wurde. Bezüglich der Geschichte von Paradigmenwechseln stimme ich RENN durchaus zu, dass ähnlich wie für die Evolution der Lebens‐ formen, sich „auch für die Entwicklung des Wissens bestimmte Mechanismen identifizieren [las‐ sen], die einen solchen Transformationsprozess verständlicher machen. Dazu ge‐ hört der überraschende Umstand, dass die großen begrifflichen Durchbrüche, wie zum Beispiel die Erkenntnis des für die klassische Physik so zentralen Trägheits‐ prinzips, meist nicht am Anfang, sondern am Ende eines solchen Prozesses stehen – und zwar als Ergebnis der Umstrukturierung eines hochentwickelten Wissenssys‐ tems, und nicht seiner Aufgabe zugunsten eines völlig neuen »Paradigmas«, wie Thomas Kuhn es formulieren würde." (Renn 2008, 42).

In dieser Beziehung sollten auch theoretische Lösungen, auch wenn sie außer‐ halb des Mainstreams ein Schattendasein führen, entsprechende Umstände vorausgesetzt, immer wieder in den Diskurs zurückkehren.

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Ich stimme REHM jedoch nicht zu bezüglich der suggerierten Antwort auf seine im Kontext von GALILEIs wissenschaftlicher Revolution formulierte Frage, wann „es das je wieder gegeben [habe]: ein Werk, das sagt, im Lichte neuerer Erkenntnisse müsst Ihr überdenken, wie ihr die Welt interpretiert?“ (Renn zitiert nach Schrader 2014). Denn hier wäre einiges zu nennen. Von DARWIN bis MARX, von EINSTEIN bis FREUD und nicht zuletzt VYGOTSKIJs kulturhistorische Theorie, ganz abgesehen davon, dass der nach GALILEI in „formalistischer“ Hin‐ sicht beschrittene Weg seinen Gegenpart in dem durch SPINOZA erneut eröffne‐ ten humanistischen Weg findet, der sich insbesondere auch in den beiden spinozanischen Richtungen der Psychologie3 niederschlägt, der kulturhistori‐ schen Theorie ebenso wie der Psychoanalyse. Aber dies ist nicht der einzige Umbruch, der die kulturhistorische Psycho‐ logie denkbar macht. In methodologischer Hinsicht muss deren Entstehung vermittelt über das Denken von MARX ebenso wie durch den wissenschaftli‐ chen Umbruch der Naturwissenschaften durch die Relativitätstheorie Einst‐ eins verstanden werden. Neben dem philosophischen Denken von MARX und SPINOZA ist es die postrelativistische Psychophysiologie von UCHTOMSKIJ, die VYGOTSKIJ mit dem Begriff der »Dominante« aufgreift (Jantzen 2004) oder LEONT'EV (1973) mit dem Begriff der »funktionellen Hirnorgane«, der auch für LURIJAs Neuropsychologie erstrangige Bedeutung besitzt und in vielerlei Hin‐ sicht die moderne Debatte über das Gehirn als soziales Organ vorwegnimmt. Es sind aber auch vielfältige weitere Impulse, so u.a. auch die philosophischen Reflexionen Ernst CASSIRERs, die VYGOTSKIJ nicht nur über die »Philosophie der symbolischen Formen« erreichen, sondern vermutlich nochmals über die star‐ ken Einflüsse von CASSIRERs »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« auf Kurt LEWIN, dessen Bedeutung für das Spätwerk von VYGOTSKIJ m.E. bisher weit un‐ terschätzt wird (vgl. Butsch 2014). Entsprechend hoch ist die methodologische Komplexität der kulturhistori‐ schen und Tätigkeitstheorie. Zudem erschließt sich dieser Theorienverbund erst nach und durch die noch lange nicht abgeschlossene Aufarbeitung der Archive (vgl. Rückriem 2013). In Folge dessen erweist sich die bisherige Re‐ konstruktion oft als überfordert, ganz abgesehen davon, dass auch sie in keiner Weise frei von den Einflüssen des Mainstreams ist.

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Vgl. JANTZEN (2013 a), insbesondere mit Bezug auf das zweiseitige Fragment aus VYGOTSKIJs Nachlass »The Lightning Bolts of Spinoza’s Thought« (Zavershneva 2010, 92f)

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In den langen Jahren unserer Rekonstruktion des Instrumentariums der kul‐ turhistorischen und Tätigkeitstheorie und der mit ihr verbundenen wissen‐ schaftlichen Rezeption und Diskussion (Jantzen 2007, 2008, 2012) trat immer deutlicher die Komplexität einer Psychologieauffassung zu Tage, die nicht nur ihre Wurzeln in den genannten wissenschaftlichen Prozessen und Umbrüchen hat, sondern auch in dem großen historischen Umbruch der Oktoberrevolu‐ tion. Ersichtlich eröffnete beides, die Entwicklung post‐relativistischer Wis‐ senschaft und Methodologie ebenso wie eine soziale, revolutionäre Öffnung für eine andere Zukunft, den Blick auf die raumzeitliche Konfiguration der Psy‐ chologie ebenso wie der Neurowissenschaften und der Sozialwissenschaften. Wenn etwas kulturhistorische und Tätigkeitstheorie gegenüber der Mainstream‐Psychologie auszeichnet, so ist es neben ihrer gründlichen metho‐ dologischen Fundierung als Kern einer »synthetischen Humanwissenschaft« (Ananjew 1974) die Behandlung psychischer Prozesse in raumzeitlicher Hin‐ sicht, während für die Mainstream‐Psychologie und Neuropsychologie nach wie vor Colwyn TREVARTHENs Feststellung gilt: „The neglect of the sense of time in contemporary psychology and linguistics is astonishing.” (Trevarthen 1999/2000, 157).

Dass für die russische bzw. sowjetische Linguistik diese Feststellung keine Gültigkeit hat, belegen Alexander LURIJAs Neuropsychologie der Sprache ebenso wie Michail BACHTINs dialogische Sprachwissenschaft oder Jurij LOTMANs Semiotik und Kulturtheorie.4 Meines Erachtens ist dies im bisher entwickelten methodologischen Rahmen zu sehen. Ersichtlich haben sowohl die französische Revolution5 wie die Oktober‐ revolution, einen weltweit neuen Denkrahmen mit einem anderen Blick auf Zukunft und einem anderen Blick auf Theorie eröffnet.6 Zumindest ist, was letzteres betrifft, dies für die zwanziger und beginnenden 30er Jahre unver‐ kennbar, hierhin gehört auch der Einfluss der schon zitierten Londoner Konfe‐ 4 Vgl. JANTZEN (2013 b) und FEUSER & JANTZEN (2014) 5 Vgl. deren Auswirkungen auf das Denken von KANT, insbesondere aber auch auf HEGEL

und MARX 6 Dass große historische Ereignisse auch ihre wissenschaftlichen Schatten werfen, zei‐ gen ebenso die wisenschaftlichen Impulse durch die weltweite Studentenbewegung der späten sechziger Jahre wie der Zusammenbruch des Realsozialismus, aber auch die anttikolonialen Bewegungen in der zweiten Häfte des 20. Jahrhunderts und ihr Nieder‐ schlag im Weltsozialforum, auch wenn die Wissenschaft des Südens nach wie vor im Norden noch mehr oder weniger totgeschwiegen wird.

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renz „Science at the crossroads“. Die Luft ist sozusagen mit dem Denken von Zukunft angefüllt.7 Entsprechend ist dort eine vermehrte Entwicklung von Theorien zu vermerken, die soziale, psychische und biologische Prozesse als raumzeitliche Systeme untersuchen. Und damit sind wir beim Thema und methodologischen Ausgangspunkt von Ingolf PROSETZKYs Arbeit zur Neubewertung des Williams‐Beuren‐Syn‐ droms (WBS). Dieses Syndrom stand in den letzten Jahrzehnten im Fokus der Entwick‐ lungsneuropsychologie, insbesondere in neurolinguistischer Hinsicht. Nach‐ dem in der Entwicklungspsychologie sich an einer bis dahin eher stadienbezo‐ genen Betrachtungsweise, insbesondere auf der Basis der hierzu bahnbre‐ chenden Arbeiten von Jean PIAGET, nunmehr deutliche, empirisch fundierte Kritik entwickelte, erfolgte ein massiver Schwenk der Betrachtungsweise von Generalia der Entwicklung (Stadien) hin zu differenten Modulen bzw. »domains« der Entwicklung, z.B. ein Modul für Sprache, eines für eine »theory of mind« u.a.m. Anstoß hierfür war Jerry FODORs Arbeit »The modularity of mind« von 1983, die für den Aufbau der Sprache, CHOMSKYs Modell einer ange‐ borenen »language aquisition device« folgend, für diese eine modulare, in ab‐ geschlossenen neuropsychischen Einheiten des Gehirns erfolgende Organisa‐ tion im Übergang von organischen zu psychischen Prozessen postulierte. Die‐ sem reinen »nurture«‐Modell setzte Annette KARMILOFF‐SMITH eine Vermittlung mit PIAGETs Theorie entgegen, insofern Module nicht bloß angeboren seien, sondern durch repräsentationale Redeskription während der Entwicklung neu entstünden. Seitdem schwankt die Debatte zwischen einem Modul‐ bzw. Do‐ mainbegriff, der gänzlich eine angeborene Seite hervorhebt (so in der evoluti‐ onären Psychologie) und einem, der eine modulartige Differenzierung wäh‐ rend der Ontogenese annimmt. Die Verbindung mit der unterdessen vertieften Elaborierung von Entwicklungsstadien, insbesondere durch die Arbeitsgruppe um Kurt FISCHER an der Harvard University (Fischer & Yan 2000, Mascolo & Fischer 2013), bleibt in der Regel ebenso unbeachtet, wie der völlig ungeklärte Theoriebruch zu FODORs Annahme, dass die höheren psychischen Funktionen sich entsprechend einem Quineschen Universum verhalten, also in keiner Weise modular organisiert sind. 7 Vgl. LEONT'EV (1977) zur Begeisterung im Prozess der Umgestaltung der Psychologie im Kontext des »Oktobers« sowie den Essay Michail EPSTEINs über »Tempozid« nach Zusammenbruch der UdSSR, dass man sich, bisher als Vorhut der Geschichte wähnend, plötzlich als Nachhut wiederfindet.

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Als Kronzeugen für diese Debatte wurden regelmäßig Williams‐Beuren‐ Syndrom und Down‐Syndrom (DS) bemüht, beides mit geistiger Behinderung verbundene Syndrome, da ihre spiegelbildliche Ausbildung von Symptomen in unterschiedlichen Bereichen geradezu ein Beleg für die modulare Organisation zu sein schien und sich über die Bildung von nach Intelligenzalter (mental age) parallelisierten Gruppen eine hervorragende Gelegenheit zu ergeben schien, modulare und submodulare Organisation der Sprache zu untersuchen. So zeigen sich bei WBS auffallende hohe sprachliche Flüssigkeit und Kom‐ petenz verbunden mit einem weitgehenden Defizit räumlich‐zeichnerischer Kompetenzen (Orientierung an Teilen, ohne das Ganze darstellen zu können), während Kinder mit DS sehr deutliche Sprachrückstände, insbesondere auch in grammatikalischer Hinsicht aufweisen sowie in zeichnerischer Hinsicht eine gute Gesamterfassung des figuralen Aspekts. Die vorrangig sukzessive Organi‐ sation der Sprache bei WBS im Vergleich zur eher simultanen Organisation bei DS legte daher für die Arbeit von Ingolf PROSETZKY die Idee nahe, aufgrund der neuropsychologischen und neurolinguistischen Theorie von Alexander LURIJA, einem der Gründer der Neuropsychologie, von einer Störungsakzentuierung am Raum‐Pol der neuropsychischen Prozesse bei WBS versus einer solchen am Zeit‐Pol bei DS auszugehen. Denn LURIJAs neuropsychologische Theorie hebt in doppelter, in neurowissenschaftlicher wie in linguistischer Hinsicht die Raum‐ Zeit‐Struktur der psychischen Prozesse hervor, die als komplexe funktionelle Systeme zu verstehen sind. Innerhalb der russischen bzw. sowjetischen Wissenschaft hat der System‐ begriff eine besondere Ausprägung erhalten, insofern Systeme in den Lebens‐ wissenschaften als raumzeitliche Systeme mit nützlichem Endeffekt begriffen werden, eine Denkweise, die u.a. auf UCHTOMSKIJs psychophysiologische Theo‐ rie der Dominante als psychophysiologische Organisationsform von Be‐ darfs/Bedürfnisprozessen zurückgeht. Ihre weitere Ausarbeitung als Theorie funktioneller Systeme ist bei VYGOTSKIJ ebenso wie bei BERNSTEIN und psycho‐ physiologisch insbesondere bei ANOCHIN (1978) erfolgt. Funktionelle Systeme sind bedarfs‐ bzw. bedürfnisgesteuerte prozesshafte Raum‐Zeit‐Strukturen, die, rückgekoppelt durch ständige Afferenzsynthese, erfahrungsgestützt exis‐ tieren und sich verändern. Die Afferenzsynthese umfasst körpereigene Pro‐ zesse ebenso wie Gedächtnis wie Umweltsituation. In Form der Ausbildung eines Handlungsakzeptors wird der nützliche Endeffekt der Handlung für das

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funktionelle System antizipiert und durch Reafferentierung einer ständigen Überprüfung bzw. Nachjustierung der Handlung unterzogen.8 Dem entspricht LURIJAs Denkweise über die Organisation der Hirnprozesse als ganzes ebenso wie seiner Grundlegung der Neurolinguistik. Vergleicht man LURIJAs Drei‐Block‐Theorie der Hirnorganisation, so entspricht die erste funk‐ tionelle Einheit der subkortikalen Regionen als „Einheit zur Steuerung von Tonus, Wachheit und der psychischen Zustände“ (Lurija 1992, 40 ff.) im Kon‐ text ihrer Einwirkung auf die höheren Regionen weitgehend Anochins Vo‐ rauslöser‐Integration der Hirnprozesse, welche durch einen auslösenden Reiz im Zusammenhang von Motivations‐ und Gedächtnisprozessen dann zur Her‐ ausbildung des Handlungsakzeptors führt. Der Übergang zu den Gedächtnis‐ prozessen erfolgt über den zweiten funktionellen Block der Hirnorganisation, die neokortikale Einheit der hinteren paarigen Hirnlappen (Parietal‐, Tempo‐ ral‐ und Okzipitallappen), für LURIJA die „Einheit zur Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Information“ (ebd., 64 ff.), während zugleich über den orbitofrontalen Bereich, der dritten, frontalen Einheit, ebenso die motivatio‐ nale Grundlage für die neue Handlung geschaffen wird wie über die Zusam‐ menarbeit mit der zweiten funktionellen Einheit im prämotorischen und präf‐ rontalen Bereich Handlungsmodell und Ausführungsregulation ins Spiel kom‐ men. Entsprechend ist die dritte funktionelle Einheit jene für „Programmie‐ rung, Steuerung und Kontrolle von Tätigkeiten“ (ebd., 76 ff.). Während die erste Einheit demnach als Raum‐Zeit‐Generator in der jeweils fließenden Gegenwart betrachtet werden kann (Vorauslöser‐Integration), bilden zweite und dritte Einheit, gemäß unserer Lektüre, den Raum‐ bzw. Zeit‐ pol des Gehirns. Entsprechend unterschiedlich ist die (vorwiegend linkshemi‐ sphärische) Funktion dieser Einheiten für Sprachrezeption und Sprachproduk‐ tion. Am Raumpol (2. Einheit) erfolgt die paradigmatische inner‐ und zwi‐ schenbegriffliche Organisation der erfahrungsbezogenen Begriffe des Indivi‐ duums in Form grammatischer Organisation. Am Zeitpol erfolgt die syntagma‐ tische Organisation in Form der Herausbildung linear programmierter Satz‐ strukturen. (Luria 1982, 2002) Auf diesem Hintergrund sichtet der Autor den gegenwärtigen Stand der WBS‐Forschung. Da die bisherige Forschung sich auf den Modulaspekt zentrierte, nahezu nicht den Zusammenhang mit geistiger Behinderung beach‐ tete (also den Syndrom‐Charakter des WBS) und insofern die Ganzheitlichkeit des Subjekts in seiner Entwicklung verlor, geht die Arbeit weit über die Sich‐ 8 Vgl. JANTZEN (2007, Bd. 2. Kap. 7, 2011)

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tung und kritische Diskussion der bisherigen Forschung hinaus, die als solche in ihren vielfältigen Aspekten rekonstruiert und dargestellt wird. Sie bestätigt die Ausgangsthese einer Störung am Raum‐Pol resp. in linguistischer Hinsicht am paradigmatischen Pol der neuropsychischen Regulationsprozesse. Um aber die Fragen nach dem Syndromcharakter und dem Prozess der subjektiven Entwicklung zu klären, bedarf es darüber hinausgehender methodologischer Diskussion. Angelehnt an VYGOTSKIJs »Krise der Psychologie in ihrer histori‐ schen Bedeutung«, wird eine Sozialbiologie kritisiert, die biologistischer ist als es die Biologie erlaubt. Entsprechend widmet sich der zweite Hauptteil methodologischen Grund‐ fragen im Sinne von VYGOTSKIJs Verständnis von Methodologie als allgemeiner Philosophie des Faches (psychologischer Materialismus). Es sind dies die Ge‐ nerierung von Raum‐Zeitstrukturen als Grundlage des Lebens, die Raum‐Zeit‐ Modelle psychischer und neurolinguistischer Prozesse (insbesondere die Dia‐ lektik von syntagmatischer und paradigmatischer Sprachorganisation), die Frage nach elementaren Einheiten der Generierung von Raum‐Zeit‐Systemen und nicht zuletzt die Frage, was ein Syndrom im Verhältnis zu seinen Sympto‐ men ist. Dies wird auf dem Hintergrund der Theorie funktioneller Systeme entwickelt und vor diesem Hintergrund VYGOTSKIJs Differenzierung zwischen geistiger Behinderung (als Kern der Retardation) und geistiger Unterentwick‐ lung gefolgt, letztere abhängig von der sozialen Isolation in einer durch den Kern der Retardation mitbestimmten kulturellen Situation. Es folgt eine Rekonstruktion des Syndroms als Ganzem im End State in der Dialektik von Raum‐Pol und Zeit‐Pol des WBS und schließlich der Entwurf einer Syndromgenese des WBS ausgehend vom Start State auf dem Hinter‐ grund einer dem heutigen Forschungs‐ und Theoriestand angemessenen Be‐ rücksichtigung des Stadien‐Problems der Entwicklung, als Dialektik von Ope‐ ration und Repräsentation, für die vorgeburtliche Entwicklung bis hin zum Niveau der Intersubjektivität im Alter von fünf bis neun Jahren. Die Realisie‐ rung des Übergangs in die Pubertät muss weiterer Forschung vorbehalten bleiben. Im Resultat zeigt sich, dass vor allem auch das Aufgreifen der emotionalen Seiten der Herausbildung der psychischen Prozesse neben all den anderen aufgegriffenen Aspekten ein völlig neues Licht auf die Situation von Kindern mit WBS Syndrom wirft. Ihre Übersensibilität für soziale Prozesse, ihre geringe Scheu vor einem Umgang mit Fremden erweisen sich ebenso wie die elabo‐ rierte und manchmal altklug erscheinende Sprache als (über) funktionale

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Kompensationen der an anderer Stelle (Raum‐Pol, dorsale „Wo‐Bahn“) beste‐ henden Probleme der Weltaneignung. Die abschließenden Schlussfolgerungen liefern nicht nur Hinweise auf wei‐ tere Fragestellungen, sondern vor allem auf eine gänzlich neue, nunmehr sub‐ jektorientierte Sichtweise des Syndroms, die es geradezu verlangt, in die Un‐ terstützung von Familien einzufließen und diese für die künftige Arbeit als Mitforscher für eine bessere Zukunft der betroffenen Kinder zu gewinnen, eine Arbeit, die der Autor durch Zusammenarbeit mit dem Elternverband bereits begonnen hat. Paradigmatischer Wandel als Ergebnis der Umstrukturierung eines hoch‐ entwickelten Wissenssystems verlangt soziale Orte, von denen aus er gegen den Mainstream organisiert werden kann. Erstmals hatte SÉGUIN im Kontext der St. Simonistischen Bewegung im Frankreich der 1840er Jahre geistige Be‐ hinderung („Idiotie“) als Resultat sozialer Isolation aufgrund des physischen Defekts dechiffriert. Ein zweites Mal geschah dies – im Kontext der frühen Sowjetunion – durch VYGOTSKIJs Differenzierung zwischen einerseits geistiger Behinderung, verknüpft mit dem Kern der Retardation, und andererseits kul‐ tureller Unterentwicklung, gesetzt durch soziale Isolation. Und ein drittes Mal gelang dies uns selbst im Kontext der Studentenbewegung und anderer sozia‐ ler Bewegungen gegen Ende der 60‐er Anfang der 70‐er Jahre des vergangenen Jahrhunderts durch die erneute Thematisierung von Isolation als Kern der Retardation, ohne zunächst von den beiden anderen Bewegungen zu wissen (Jantzen 2013 c). Und es gelang diese erneute Aufdeckung des Grundparadigmas von Behin‐ derung als sozialer Konstruktion – heute scheinbar Allgemeingut, folgt man der Rede von Inklusion und Teilhabe – durch langjährige institutionelle Veran‐ kerung an der Universität Bremen in der Entwicklung von Behindertenpäda‐ gogik als synthetischer Humanwissenschaft, wenn auch nicht im Mainstream, so doch sehr deutlich sichtbar im wissenschaftlichen Raum – am deutlichsten dokumentiert in dem zehn Bände umfassenden Enzyklopädischen Handbuch »Behinderung, Bildung, Partizipation«. Paradigmatischer Wandel verlangt demnach immer einen Ort, an dem er sich realisieren kann. Dieser Ort exis‐ tierte über lange Jahre im Studiengang Behindertenpädagogik an der Universi‐ tät Bremen. Und er verlangt vielfältige soziale Akteure. Insofern schließt sich hier der Kreis zu Ingolf PROSETZKYs Dissertation, die in hervorragender Weise dieses neue Paradigma realisiert.

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Literaturverzeichnis Aguiló Bonet, A. J. (2013): Die Würde des Mülls – Globalisierung und Emanzipation in der sozial‐ und politischen Theorie von Boaventura de Sousa Santos. Berlin Ananjew, B.G. (1974): Der Mensch als Gegenstand der Erkenntnis. Berlin Anochin, P.K. (1978): Beiträge zur allgemeinen Theorie des funktionellen Systems. Jena Appadurai, A. (2001): Grassroots Globalization and the Research Imagination. In: Glob‐ alization. Durham, 1‐21. Bernstein, N.A. (1988): Bewegungsphysiologie. Leipzig 2.Aufl. Butsch, A. (2014): Kurt Lewins Feldtheorie aus kulturhistorischer Sicht. Diplomarbeit Behindertenpädagogik, FB 12, Universität Bremen 2012, Berlin, Veröff. i.V. Cassirer, E.: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Darmstadt 1980 (Unveränd. Nach‐ druck der 1. Aufl. 1910) Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Darmstadt 1994 (Unveränd. Nachdruck der 2. Aufl. 1953) Damasio, A.R. (1996): Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München Damasio, A.R. (2003): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. Berlin Damasio, A.R. (2005): Der Spinoza‐Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Berlin Dietrich, D. u. a. (2009): Simulating the Mind. A Technical Neuropsychoanalytical Ap‐ proach. Berlin Edelman, G. (1993): Unser Gehirn ein dynamisches System. München Edelman, G.M & Tononi, G. (2004): Gehirn und Geist. München Epstein, M.N. (1999): Tempozid. Prolog zu einer Auferstehung der Zeit. In: Lettre Inter‐ national 47, 4, 65‐72. Feuser, G. & Jantzen,W. (2014): Bindung und Dialog. In: Feuser, G. u. a. (Hrsg.): Emotio‐ nen und Persönlichkeit. Bd.10 des Enzyklopädischen Handbuchs der Behinderten‐ pädagogik „Behinderung, Bildung, Partizipation“ (Hrsg.: Jantzen, W. u. a. ). Stuttgart, i.Dr. Fischer, K. & Yan, Z. (2002): The Development of Dynamic Skill Theory. In: Lickliter, R. & Lewkowicz, D. (Ed.): Conceptions of Development. Hove/UK, 279‐313 Fodor, J.A. (1983): The Modularity of Mind. Cambridge