Lavinia und der kalte Prinz

gewissen Anspannung tauche ich die goldene Feder in die undurchsichtige Flüssigkeit, drehe die Schraube am. Ende des Füllers mit zwei Fingern mehrmals ...
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Christoph von Zastrow

Lavinia und der kalte Prinz Roman

Edition Auvidarte

Impressum

Edition Auvidarte Streunthalerweg 12 83250 Marquartstein Telefon 08641 699700 Fax 08641 63337 [email protected] www.auvidarte.de Christoph von Zastrow Lavinia und der kalte Prinz Roman eBook-Ausgabe Copyright ©2009 by Edition Auvidarte Alle Rechte vorbehalten Titelbild: John William Godward · Dolce far niente ISBN 978-3-941291-06-5

Inhaltsverzeichnis Impressum Inhaltsverzeichnis Über dieses Buch Über den Autor Kapitel I Kapitel II Kapitel III Kapitel IV Kapitel V Kapitel VI Kapitel VII Kapitel VIII Kapitel IX Kapitel X Kapitel XI Kapitel XII

Über dieses Buch In ihrer Kindheit am Bodensee spielte Lavinia Berganson am Strand immer mit einem geheimnisvollen Jungen, von dem sie glaubte, er würde aus dem Wasser stammen. Jahrzehnte später und nach einer gescheiterten Beziehung fühlt sich Lavinia, inzwischen als Mathematikerin für eine Versicherungsgesellschaft tätig, emotional vom Leben abgeschnitten. Das ändert sich schlagartig, als sie nach einem Segelunfall auf dem Bodensee zu Ihrer Überraschung am Ufer eines Schweizer Gebirgssees erwacht. Dorthin wurde Sie von ihrem Retter, Prinz Niccus von Schwanenvlies, entführt, jenem Mann, in dem Lavinia bald den geheimnisvollen Jungen aus ihrer Kindheit wiedererkennt. Drei Tage in heiß-kalter Leidenschaft verbringt Lavinia auf dem abgelegenen Schloss und den weitläufigen Ländereien des „kalten Prinzen“, ohne dessen Geheimnis zu lüften. Dann schickt Niccus sie in aller Eile fort. Zurück in ihrer Welt, zweifelt Lavinia zunächst an ihrem Verstand, ehe ein herzerweichender Brief von Hand 4

ihres Geliebten dessen Existenz beweist. Erfüllt von neuer Sehnsucht macht sich Lavinia auf, das mysteriöse Gebirgstal an einem Ort zu finden, wo die offiziellen Karten nur einen riesigen Gletscher verzeichnen… Mit »Lavinia und der kalte Prinz« ist Christoph von Zastrow nicht nur die tiefgründigste Nixengeschichte seit »Die kleine Meerjungfrau« gelungen, sondern nebenbei auch der vielleicht ungewöhnlichste Liebesroman des Jahres.

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Über den Autor Christoph von Zastrow (*1968) wuchs in München auf und studierte dort zunächst Theaterwissenschaft und Regie. Anschließend arbeitete er unter anderem als Schauspieler und Regisseur, ehe er sich dem Medium Film zuwendete. Als Dramaturg und Literaturagent war er an einer Vielzahl von Film- und Fernsehproduktionen beteiligt, als Drehbuchautor hat er ein gutes Dutzend verfilmter Drehbücher verfasst. Mit »Der kalte Prinz« erschien im Jahre 2004 sein erster Roman (Moments 2004, Ullstein Taschenbuch 2005, Bertelsmann Club 2006), der nun unter leicht verändertem Titel als eBook vorliegt. Christoph von Zastrow lebt und arbeitet in Marquartstein/ Chiemgau. Homepage des Autors: www.christophvonzastrow.de

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I Ich sitze auf der Couch, deinen Kopf im Schoß, und sehe zu, wie sich dein Brustkorb hebt und wieder senkt. Ich höre dich atmen. Du schläfst. Tief und fest. Ich betrachte dein Gesicht und folge den Lichtschimmern, die über deine Stirn wandern. Ich sehe auf die Uhr. Es ist so weit. Mitternacht. Silvester. Doch der Champagner steht ungeöffnet auf dem Tisch. Und auch die Gläser sind unberührt. Draußen donnern die Böller, und es heulen die Raketen. Doch all das rührt dich nicht, denn du schläfst, schläfst friedlich wie auf einer Sommerwiese. Ich studiere dich. Du bist schön, und ich wittere dieses Gefühl, das ich kaum zu beschreiben vermag. Es ist aufregend, es zwickt mich in der Magengegend. Und trotzdem schmerzt es nicht. Es durchströmt mich, meinen Bauch, mein Herz, den 7

Rücken und meine Glieder. Es verbreitet Sicherheit. Ich liebe dich. Ich bette deinen Kopf auf ein Kissen, erhebe mich und gehe auf den Balkon. Kalt weht mir der Winterwind ins Gesicht. Ich lege mir die Jacke um die Schultern. Raketen steigen und explodieren Farben sprühend so weit das Auge reicht. Ich genieße die Aussicht. Trotzdem schließe ich die Augen und versuche, mich zu erinnern. Kaum zehn Schritte entfernt von dir, vermisse ich dich schon. Wo bist du? Was träumst du? Von deinem anderen Leben? Du hast es vergessen. Für mich. Doch du bist du. Ich bin mir ganz sicher. Du lebst und du schläfst. Du bist ein Mensch. Später schließe ich die Balkontür, ziehe die Vorhänge zu und dimme das Licht. Als ich erwäge, dich Schlafenden ins Bett zu tragen, muss ich beinahe über mich lachen. Ich hülle dich in eine Decke und setze mich an meinen Schreibtisch. Mein Finger verharrt über dem Startknopf meines Apple MacBooks, während sich meine Augen auf den alten Pelikan-Füller mit der Goldfeder heften, den ich von meinem Vater zu meinem fünfzehnten Geburtstag bekommen habe und der seit Jahren als Dekoration in meinem Regal verstaubt. Als ich das altertümliche Schreibwerkzeug im Bad unter den laufenden Wasserhahn halte, damit sich die ein8

getrockneten Tintenreste lösen, sehe ich in den antiken Spiegel über dem Waschbecken. Das bin ich. Lavinia Berganson aus Frankfurt. Eins sechsundsiebzig. Schlank. Lange dunkle Haare. Locken. Natürliche Locken. Merkwürdig. Was habe ich früher nur immer gesehen in diesem Spiegel? Es ist dasselbe Gesicht, für das ich vor wenigen Jahren noch mühelos eine gute Seite Änderungswünsche auflisten konnte. Wangen höher, Kiefer schmaler, Nase steiler und ebenfalls schmaler, Lippen voller, Augen größer – um nur einige Beispiele zu nennen. Und heute? Sehe ich es einfach nicht mehr. Ich sehe es nicht. Alles sitzt richtig. Und trotzdem ist es dasselbe Gesicht. Ich habe mir etwas vorgemacht. Ich sehe perfekt aus. Jedenfalls für mich. Nur um meine Augen haben sich jüngst ein paar Fältchen gebildet. Doch auch wenn es in Zukunft sicherlich nicht weniger werden, macht es mir eigentlich nichts aus. Sie verleihen mehr Ausdruck. Außerdem habe ich abgenommen. Die Aufregung. Mein Gesicht ist nun schmaler, irgendwie markanter. Das gefällt mir, denn ich empfand meine Züge vorher immer als zu rund, als zu weich. Schneewittchen nannten mich die Kunden meines Vaters früher. Auch wegen meiner Wangen. Ich hasste das. Ich wollte ich sein und niemand sonst. 9

Ich habe es geschafft. Ich bin ich. Eine Frau in den besten Jahren, gewissermaßen. Obwohl ich das Gefühl habe, meine besten Jahre kommen erst noch. Die Tinte löst sich allmählich. Während ich der dunkelgrünen Spur folge, die sich im weißen Becken zum Abfluss schlängelt, sinne ich meiner Entscheidung nach. Erinnerungen, Gedanken, Gefühle sind so flüchtig, dass ich sie lieber Papier anvertraue als den unzugänglichen Magnetscheiben meines Computers. Es sind nun mal keine Datenformate, und in der Handschrift bleiben sie mit mir verbunden. Zurück am Schreibtisch finde ich in der Schublade einen Block feines englisches Briefpapier. Dazu ein altes Tintenfass. Ich befürchte, es sei eingetrocknet, doch der Schraubverschluss lässt sich spielend öffnen. Mit einer gewissen Anspannung tauche ich die goldene Feder in die undurchsichtige Flüssigkeit, drehe die Schraube am Ende des Füllers mit zwei Fingern mehrmals um sich selbst und beobachte, wie die dunkelgrüne Tinte aufgesogen wird. Ich nehme mir einen frischen Bogen Papier, richte mich auf und ordne meine Gedanken. Die vergangenen Erlebnisse kommen mir selbst schon vor wie ein weit entfernter Traum. Deshalb will ich dir einen Brief schreiben, dir, meinem Prinzen. Denn du sollst wissen, woher du stammst. Wie du zu mir kamst, in 10

meine Wohnung, wo ich dich anschaue, dich berühre. Wo wir uns lieben. Wir haben es geschafft, du bist bei mir. Der Bericht eines Wunders also? Möglich. Wahrscheinlich. Ja. Aber darum geht es nicht. Jeden Tag geschehen Dinge, die wir für wahr halten und die wir doch nicht erklären können. Das Wunder des Lebendigen, die Schwerkraft, eine zufällige Begegnung, Liebe. Ginge es wirklich um Wunder, so blieben allein die Ausnahmen erzählenswert: Wenn wir ausnahmsweise erkennen, warum etwas unbedingt so sein muss und keinesfalls anders sein kann. Wie eines der unerklärlichen Phänomene kommt mir die menschliche Psyche vor, unsere Fähigkeit, Bewusstsein zu entwickeln, Gefühle zu empfinden und Träume zu erleben. Natürlich, ich weiß, man spricht heute gern von Hirnrinde, Neuronen und Transmittern, man zeichnet elektrische Impulse auf und unterhält Schlaflabore, man reduziert Gefühle auf die Wirkung von Hormonen und Nervenverbindungen, obwohl mit diesen Begriffen wenig mehr als nur der Umstand beschrieben wird, dass irgendetwas passiert, nicht aber, welche Wirkung es hat. Es gleicht dem Versuch, sich der Vollkommenheit von Leonardos »Letztem Abendmahl« mit einem Analyseröhrchen zu nähern. Das bringt vielleicht die 11

Wahrheit über die Zusammensetzung der Farben ans Licht – verfehlt jedoch mit Sicherheit das Wesentliche. Denn wer vermag zu beschreiben, was Gefühle, was Liebe in dir, in mir bewirken? Ganz gleich, welche biologischen Zahnräder der kalte Wissenschaftler in ihrem Gefolge auch entdecken mag, für die Liebenden haben sie keine Bedeutung. Wenn es um Liebe geht, zählen nicht Wunder und auch nicht Wissenschaft, sondern allein das gefühlte Leben. Ich erzähle die Geschichte unserer Liebe. So wie ich sie fühlte. Und wie ich sie noch immer fühle. Allein davon kann ich berichten. Ich will keine Wunder preisen. Und auch erklären kann ich nichts. Oh ja, ich würde es, wenn ich könnte. Doch das kann ich nicht. Niemand kann das. Trotz allem frage ich mich manchmal, warum ausgerechnet mir etwas derartig Außergewöhnliches widerfahren ist. Vielleicht, weil ich ein Sonntagskind bin. So wie dieser Junge in dem Märchen um die sagenhafte Handelsstadt Vineta. Mir ist wenig von der Geschichte in Erinnerung geblieben, nur, dass sich am Weihnachtsabend ein Sonntagskind bei dichtem Nebel am Ostseestrand verirrt hatte und unversehens in eine Stadt auf dem Meeresgrund geraten war. Dort lebten einst Kaufmänner, die bauten ihre Häuser aus purem Gold, und Frauen, die die Hintern ihrer Kinder mit frisch 12

gebackenen Semmeln abwischten. Denn die Menschen dieser Stadt waren reich, unermesslich reich. Weil sie aber ob ihres Reichtums allzu hochmütig geworden waren, schickte der Himmel ihnen eine Warnung, und nachdem diese wirkungslos verhallt war, lag ein fürchterlicher Fluch über der Stadt. So wurde die ganze Stadt samt ihrer Bewohner von den Fluten der Ostsee verschlungen und sank auf den Meeresgrund hinab. Nur alle einhundert Jahre, am Weihnachtsabend, konnte ein Sonntagskind die Stadt besuchen und ihre zum Schweigen verdammten Bewohner erlösen. Ich war etwa acht Jahre alt, als ich diese Geschichte hörte. Ich erinnere mich gut, denn es war das letzte Mal, dass mir meine Mutter etwas vorgelesen hatte. Ein halbes Jahr später starb sie. Aufgebahrt lag sie in einer kleinen Kapelle, und ich weiß noch, wie ich mit dem Wachs einer Kerze spielte und mir dabei den Finger verbrannte.

· Wenige Wochen nach dem Tod meiner Mutter kam ich an den Bodensee. Dort begegnete ich dir. Fast kann ich jenes Glück noch fühlen, als du plötzlich vor mir standst und zu verschenken hattest, was ich mir am allersehnlichsten wünschte: die Gesellschaft eines Spielkameraden. 13

Ich war gerade neun Jahre alt geworden und wohnte bei Fräulein Elise Pampelpuch, einer ehemaligen Internatslehrerin, die meiner damaligen Empfindung nach mindestens zehnmal so alt gewesen sein musste wie ich. Aufgrund eines Bandscheibenvorfalls hatte sie eines Tages nicht mehr im Klassenraum vor den Internatsschülern stehen können und war in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Doch was nach außen hin wie ein schwerer Schicksalsschlag aussah, erwies sich für das Fräulein als ein Glücksfall. Sie erblühte nahezu. Sie selbst zählte sich mit ihren fünfzig Lenzen nämlich zur späten Jugend, was zur Folge hatte, dass sie ihre ergrauten Haare über Monate hinweg in fast unmerklichen Stufen abtönte, den Saum ihrer Röcke stufenweise verkürzte, vor dem Spiegel mit Schminke experimentierte und erst einmal, dann zweimal in der Woche abends ausging. Und weil sie weder verheiratet war noch engere Verwandte besaß, blieb sie dem Internat sogar erhalten. Fräulein Pampelpuch hatte eine neue Aufgabe angenommen und kümmerte sich um Fälle wie mich: Kinder, die entweder krank oder verwaist oder beides waren. Selbstmitleid? Nein. Nicht um tausend Sonnen möchte ich missen, was ich infolge meiner Lebensumstände erleben durfte. Auch Fräulein Pampelpuch, obwohl ich sie damals für einen Drachen hielt, möchte ich keines14