Kriegstagebuch Frkr. 20.5.-29.10.1917

Dir blühte nie, was du ersehn-test, auch dir war die Götterdämmerung fürs Totenreich gekommen, du spürtest ..... Vorm. ins Depot Max. ½5h Abfahrt in Stellung.
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HERMANN KÖBELE (1897-1945): KRIEGSTAGEBUCH 1917

Kriegstagebuch Frkr. 20.5.-29.10.1917 Roter Blindband des bayer. Militärs - 18X12 cm, mit S.6 beginnend, dann unpag. Geführt vom 20. Mai 1917 bis zum 29. Oktober 1918 80 S.Bleistift, Zeichngn., eng beschr., nicht immer leserlich, eingelegte Zettel u.ä. - Namen i.d.R. in lateinischer Schrift (hier durch Kursive wiedergegeben) Gefr. Herm. Köbele 1F[eld]A[rtillerie]R[egiment] 9(F[eld]Batt[e]r[ie] Adresse meines Vaters: --------------------------------Hans Köbele Hauptlehrer Rottenbuch/Obb bei Schongau 6 20. V. 17. Abfahrt 520h Hauptbahnhof. Morgenrot. Pasing Abschied von Alfons. Mehring - Augsburg - Ulm (1. Verpflegung) Anstetten - Stuttgart (Untertürkheim 2. Verpfl.) - Bietigheim Mühlacker: Ein 2. Transportzug. Sachsen. Stehen einander gegenüber. Intermezzo.Bretten - Bruchsal: hier angek. Um ½10h, übernachten. Der Tag war heiß. Wir standen hemdärmlig am Fenster und winkten allen Leuten zu und schrien Hurra. Es war sicherlich einige Begeisterung dabei, hauptsächlich aber Abschiednehmenwollen von jedem Menschen, auch jedem Kinde, im Gefühl der engen Zusammengehörigkeit: Es war rührend, manche Mutter zu sehen, die, ein Kleines auf dem Arm, trüb und doch wieder ermunternd lächelnd uns Abschied winkte. /2 Man fühlt, das ganze Land, jeder Mensch ist an dem Krieg beteiligt. Nach Untertürkheim, überhaupt das Neckartal lang herauf, sahen wir Gruppen Badender. Eine Gesellschaft kräftiger Buben sprang nackt in der Wiese herum, Mädchen standen am Wasser, eben sich nur mit einem Leintuch umhüllend - alles atmete Leben, Natürlichkeit, Idylle. Die Schwa-ben sind zuvorkommend, freundlich und heiter, man fühlt sich schnell eins mit ihnen. Unser Reiseziel ist unbestimmt. Aber gleichgültig: überall harrt unser schwere Arbeit. Eben brachte ein Unteroffizier den Heeresbericht: „Schwere Artilleriekämpfe an der ganzen Front.“ Das ist düster genug. Tagsüber konnte unsere Bestimmung keinen Schatten in meine Stimmung wer-fen. Die Nacht macht /3 mich ernster. Ich denke wieder zurück. 21. Germersheim. Abfahrt in Bruchsal 512h Nachts 2h Verpfl[egung]. Den Rheinübergang habe ich leider verschlafen. In G. Aufenthalt. Landau. - Zweibrücken, Verpflegung gut. 1h. Fahrt durch die Haardt. Ich schlief wieder längere Zeit. Das lange Fahren macht schläfrig. Die Landschaft hat wenig Neues. Hie und da war der Grund wie mit gelben Flammen gefleckt. (Besenginster.) An den Orten macht sich schon frz. Einfluß geltend. (Aus hist. Gründen.) Die Leute sind nicht mehr so freundlich. Es geht Saarbrücken zu. Saarbrücken. ½3h Aufenthalt. Eben fuhr wieder ein Transport vorüber. Wir begrüßten uns mit kräftigen Hurras. Hier, in der Nähe der Front, wird nur mehr Kriegsarbeit geleistet; rangiert, verladen etc. /4 Ich schrieb schon einmal heim. Völklingen Industrieort. Welcher Unterschied mit Württemberg mit seinen Wein- und Obstkulturen! Die Leute sind noch ernster, schier bedrückt. Die Lohnarbeiterin-nen in ihrer männlichen Kleidung sind nett und sauber beisammen. Sie erinnerten mich an die Frauen von Germinal [gemeint ist Zolas Roman]. Wir hatten einen weiblichen Zugunter-führer, eine schöne und ernst1

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energische Erscheinung. Ich verstehe die Angriffe gegen diese Kleidungsart nicht. Herrgarten - Téterchen - Siedenhofen 4. Verpfl. Dabei Regen und Gewitter. Ich wurde tüchtig durchnäßt. Es geht nach Luxemburg - Charleville. Nachtfahrt. 22. Sedan. 6h 5. Verpflegung. Wir sind jetzt in Frankreich. Einsame Orte. Um Sedan einige Hausruinen. Die Maas mit mehreren Dampf/5 fähren. Sie kommt von Verdun. Ein Zug vorbei mit franz. Frauen und Kindern. Zurufe, Lachen. Mézières (Charleville) Aufenthalt. Tournes - Starker ferner Kanonendonner hörbar sowie das Rollen des Trommelfeuers. Das Wetter ist wunderschön, meine Laune entsprechend. Lustige Unterhaltung mit Burckhardt und Dietz. Eben aß ich die letzten Eier. Bis Laon ist sowieso nicht mehr weit. Aubigny les Pothéoses [?]- Die Häuser sind mit Schiefer gedeckt und haben fast kein Überdach. Liart-Rumigny. Zu Liart Aufenthalt, Abfahrt 12½h. Auberton - Hirson. Aufenthalt. Ank. ½4h. 6. Verpflegung. Neben uns steht ein Zug mit verbrauchtem Kriegsmaterial: demolierten Geschützen, Rohren etc. Die Verwüstungen durch Volltreffer - bei einer Feldhaubitze durch Rohrkrepie/6 rer - sind grauenhaft. Wiederum ferner Kanonendonner. Fliegerabwehr. Unser Reiseziel ist unge-wisser denn je. Laon oder Marle ist die Frage. In Aubigny ein Zug Infanteristen mit den Stahlhel-men. Diese zum erstenmal in Wirklichkeit gesehen. Jetzt ist die ganze Westfront Sommeschlacht. Abf. 515h. Vervines. Lazarettzug mit Schwerverwundeten. Einladen von Pferdekadavern durch frz. Zivilisten. Ständiger ferner Geschützdonner. Marle ausladen. Marsch nach 23. Montigny. Quartier im Heustadel. Ank. ½10h. Eine Französin rief uns zu: „La guerre fini?“ - „No no!“ Aufstehen ½5h. Nach Marle. Morgenkaffee. Abfahrt 8h Auf der Strecke arbeiten viele Zivil- und Kriegsgefangene. /7

Montcornet (Umweg nach Laon) Aufenthalt. Sehr viele kriegsgefangene Franzosen arbeitend. Sie bettelten um Brot und schwatzten in einem fort. So schenkten wir denn Kommiß und Zwieback so-wie Zigaretten her. Dies rief natürlich ihre lebhafte Freude und Dankbarkeit hervor. Man fühlt, was das Scheußlichste des Krieges ist: Menschen hinmorden zu müssen, die nichts gegeneinander ha-ben, die nur durch Ideen einer Massenpsychose verfallen sind. * Liesse 12h Ausladen. An der Strecke arbeiteten Russen. Sehr viele Transporte. Marsch nach Marchaise, 1h Das Gebäude vom Stab der 1. Art. Außerhalb des Orts. Verteilung der Leute. Dietz u. Burckhardt 2. Battr., ich 9. Battr. Dazu U.O. Mandl - v. d. 4. B. - und 11 Mann der Gruppe Theuersbacher, 2 M[ann] Gr[uppe] Hemth. /8 Darunter sind Berthold, Hohenreiner, Bachnik, Hartmann, Bayerlein. ½5h Marsch ins Waldlager. 1 Stunde. Zuerst heiße, staubige Straße, dann Wald, aber ein scheußlich versumpfter Weg. Ank. ½6h. Waldlager. 11km östlich Laon. Fast nur Buchen. Es ist romantisch, dieses versteckte Zeltlager, dazu kühl und - fliegersicher. Wir schlugen gleich unser Zelt auf und machtens uns so gemütlich als möglich. ½8 h Essen: Kaffee und Wurst. Dann Apell [!], wobei die Post und Zigarren und Tabak verteilt wurden. Marchais ist ein mittelgroßes Dorf mit teilweise sehr schmutzigen Straßen und unschönen, manchmal halbzerfal-lenen Häusern. Das Vorbeifahren von Autos und Fuhrwerken nahm gar kein Ende.Der Kanonendonner liegt ständig wie ein lauerndes Gewitter am /9 Horizont, durch sehr starke Schläge öfter unheimlich verlebendigt. Die Gewohnheit läßt ihn aber schließlich 2

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ganz nebensächlich erscheinen. Bei den Kanonieren habe ich bisher kein Zeichen von Furcht bemerkt, nur von einer etwas einwärts geschreckten [?] Neugier und einen starken Ernst. Die Stimmung ist im Ganzen sehr gut.—— Ins Bett ½11h 24. Die Nacht schlief ich schlecht. Die Zeltbahn über dem nackten Boden, den Kopf am harten Rucksack, in die Wolldecke gehüllt. Ich machte die entzückende Entdeckung, daß ich von den niedlichen Bestien heimgesucht bin, die man sonst - Läuse heißt. Das Lager im Wald von Montigny ist offenbar verlaust. Ich konnte lang nicht schlafen wegen dieser Quälerei, die nicht so neben-sächlich und gering ist, wie man anzunehmen geneigt ist. ½7 Apell [!]. Danach Kaffee. Wir schlu/10 gen zwei Zelte auf. Es war keine geringe Arbeit und wir schwitzten anständig. Mittag Gerstensuppe, Erbsen und Fleisch. Sehr gut, besonders die Erbsen. Nachmittag Aufrichten der Klappen u. unserer großen Zelte; dazu Bäume fällen usw., Pferde zum Tränken führen. Der Gefreite tritt nicht mehr hervor. Die Kanoniere nennen sich auch zumeist beim Namen. Gegen U[nter]O[ffiziere] fällt jede Ehrenbezeugung weg. Den “Krampf” kennt man auch: Peinliches Ausrichten beim Antreten, strammes Pferdevorführen. Die Wasserstelle ist ca 10’ weit weg. Dies ist etwas unangenehm, aber man darf den Weg nicht scheuen. Batterieführer Oblt. Deiglmeier. Er /11 arbeitet heut selbst mit. Hatte ständig die Reitpeitsche in der Hand. W. Schuster ein anständiger Kerl, der Futtermeister W. Hermann ein Kanonierhasser. Wie Braun ebs. [ebenso]. Schluß ½7. Essen fein mit Marmelade (Letzter[es] gut) ½ Kommiß. Heut wurde wenig geschossen. Hauptsächlich schossen die Franzosen. Die Aufschläge sind von Abschüssen sehr gut zu unterscheiden. Heut hörten wir zweimal ferne Militärmusik. Das wirkte unbeschreiblich. 25. Gestern abds. 10h Fliegerabwehr in nächster Nähe und starker Artilleriekampf. Die Brennzünder knallten laut und grell in 200-500m Entfernung, dazu Leuchtkugeln und Aufblitzen schwerer Geschütze wie Wetterleuchten. Dazu Feuerschein im Süden. Vormittag orientierte ich mich ein we/12 nig in der Gegend. Platz mit Maiglöckchen wie ein Garten. Gestern ließ sich die ganze Nacht ein Käuzchen mit hohler, glucksender Stimme vernehmen. Wie eine schwarze Nachttaube. "Granaten zogen wie Junikäfer durch die Nacht Und griffen eisern durch das Laubdach..." — Der Arbeit ging ich heut so ziemlich aus dem Weg. ½12 hApell, der Ob[er]l[eutnan]t wies auf die Notwendigkeit strenger Disziplin hin. Es wurde verschiedenes gestohlen. Machen läßt sich da wenig. Danach Einzelvorbeimarsch und Ehrenbezeugung. (!) Elender Krampf! Essen! Gerstensuppe, Rindfleisch mit Kartoffelstampf. Vorzüglich. 1 Brot /13 für 2 Tage.

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/14 [1/2 Seite frei] ________________________________________________________________________ Nachm. ½3h wieder zur Arbeit. Stall eindecken. Baum fällen ist eine Tätigkeit, bei der man sich am meisten "pelzen" kann. Aber einmal erwischte uns der Unteroffizier (Mayerlein) im Zelt und machte einen Saukrach. Um ½6 machte ich Schluß und ging zum Brunnen zum Waschen und Wasser-holen. Der Brunnen ist in weißes, weiches und fettiges Gestein, das ton- und kalkähnlich ist, eingegraben und das Wasser ist /15 immer getrübt. Aber es ist sehr frisch. Eben (½8h) verlangte der V.W. [Vizewachtmeister] Schröder meine gefaßte Mauserpistole, Nr. 28373 ab. Ich glaubte, das sei dienstlich und gab sie ab. Er sagte, ich bekäme von der Batterie eine große Mauser. Bald darauf kam W. Schuster u. fragte, warum ich die Pistole abgegeben habe. Ich könne dann einen Stecken in die Stellung hinausnehmen, meinte er. Gleich darauf ging ich in das Zelt des Oblt., wo Obstlt. V. Schlipper, W. Schröder u. Herr Oblt. am Tisch saßen. Als ich dem W. Sch. sagte, ich müsse die Pistole abliefern, sagte er, daß das die IIE/IF.A.R. nichts mehr anginge u. H. Oblt. versicherte, daß die Batterie die Pistole abliefern werde. Er versprach, daß ich eine große /16 Mauser bekäme. W. Schuster sagte danach noch, daß er nichts sagen könne. Ich werde mir die Sache schriftlich geben lassen. H. Köbele Gefr. — Heut sollen wir in Stellung kommen. Die Feuertätigkeit ist gering. Hauptsächlich bummsen die Franzosen. 26. - Feuerstellung. Abfahrt 12h. Ank. 4h (nachts) Die Nachtfahrt war hochinteressant. Auf einem gewöhnlichen vierspännigen Heuwagen, der noch mit Wellblech beladen war, fuhren wir 9 heraus. Alles Zeug mit. Die Nacht war sternklar, aber dun-kel. Der Mond erstarb schmutzig im Westen und verschwand bald. Zweimal den /17 Weg verfehlt: Scheinwerfer spielten. Fliegerbeschießung. Durch Guys les Seppes.[am Rand Korrektur: Coucy les Eppes]. Verlassener Ort. Biwaks. Geräuschlos fuhren viele Transporte vorbei. Reiter. An der Front Leuchtkugeln, die bis zu uns leuchteten und minutenlang hochblieben. Andere wie Rebhühnerketten. Die Mündungsfeuer wie Wetterleuchten. Geschützdonner immer näher, doch nicht sehr lebhaft. Festieux. Danach Pioniergark[üche] 723 Durch ein vollständig zerschossenes Dorf. [am Rand ergänzt: Bieurre] Kein ganzes Haus, statt Dächer zerspillerte, hängende Sparren, schwarze Mauern, Schuttfelder, hohle, grinsende Fenster. Kadavergeruch. Ich war vollständig kalt. Fehlte nichts. Betrachtete nur den Krieg und war meinem [!] Soldatentum bewußt. Endlich nahe Mündungsfeuer. Unsere Stellung. Ein Pferdekadaver am Weg. Ausladen. Allmählich MorgenNebel. Warten am 1. Geschütz. Ein wenig schla/18 fen. Dann Einteilung. Ich, Finsterwalder - Hartmann 3. Geschütz, ich Richtkanonier. S[ergean]t Scheffold. Ein gutwerter Kerl! Alter Stellungsmensch. S[ergean]t Essigkrug war im Pasinger Seminar. Unser Geschütz kommt erst abends. Munition schleppen. 1 h lang. Schwere Arbeit. Dann Flieger und Schluß. Der Geschützstand mit Wellblech gedeckt. Sehr tiefe Unterstände in Felsen („Pollenlöcher“). Vor der 5

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Stellung zwei 38cm Trichter. Riesenhaft. Vor dem Geschütz der Trichter von dem explodierten Munitionslager (am 20.) Ringsum liegen die Geschosse, die es bei der Gelegenheit herumstreute. Unsere Munition ca. 50m verteilt im Freien. Der Geschützstand und Ausguck vom Unterstand schwer verbrannt. Eben schwere Beschießung eines Wäldchens vor uns durch 15 und 20er.In demselben 5 Flak-batterien. Sie schossen zuerst. Jetzt nur noch selten. Brand eines Munitionslagers. Dadurch Ver-w[un]d[ete]. Nun ununterbrochenes /19 Singen und Heulen, Krachen und Bersten im Wald. Brände. Man trug eine Tragbahre den Waldweg entlang. Bis zum Verbandplatz 1 h . Drei schlugen 200m von uns nahe vor der Stellung ein, alles zitterte. Unsere Batterien - eine Un-menge ringsum - schießen selten. Wir schweigen völlig und bleiben unbehelligt. Da sitzen zwei Kerle und tarocken während des schärfsten Feuers! Man darf nicht hinaus. Herrliches Wetter. Wir tun gar nichts. Schauen zwei Beschießungen zu, unterhalten uns und rau-chen. Wir liegen auf einem Höhenkamm. Man darf nicht drüber schauen. Inf[anterie] sieht uns. Leuchtkugel gestern. Ich 6-8h. Flieger, Maschinengewehre. Morgens gab es wenig Kaffee. Ich werde ein wenig schlafen. Mittag: Kartoffelgemüse mit Fleisch. Gut und reichlich. Auch Bier gibts heroben /20

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/22 Die Wasserstelle 3min. entfernt. Ich komme den ganzen Tag nicht zum Waschen. 8-10h Telephonwache. Abends: Büchsenfleisch; Bohnengemüse; Süßer Tee. 9h Munition einschanzen. 10 - ½1h Munition schleppen (in den Sanitätsunterstand). Außerordentlich anstrengend. Der Krieg ist eine harte Arbeit. Das Sittliche am Krieg ist die Arbeit, die Überwindung von Wider-ständen einer Idee willen. 27. Endlich schlafen. Die Klappe ist kurz und sehr eng begrenzt (Parterre). Überhaupt: der Raum in unserm engen Unterstand! Trotzdem schlief ich gut. ½2 kam unser Geschütz. Das Einfahren war schwierig, ebenso das Einrichten um Dunkeln. Wieder zu Bett. ½6h Aufstehen. Ich bereite das Schießen vor. 40 - 500 Schuß. Feuertätigkeit hauptsächlich von deutscher Seite. 12h Essen. Gerstensuppe mit Fleisch. 3/4 Stunde fast keinerlei Kampftätigkeit. Hüben /23 und drüben wird gegessen. Zuvor wusch ich mich. Herrliches Geschäft! Zivilisation ist tatsächlich etwas. 2 - 6 Wache. Gestern stürzte ein deutscher Flieger ab. Heute ein Luftkampf - ergebnislos. Heute ist Pfingstsonntag und ein herrlicher dazu. Der Morgen war besonders schön. Dazu mochte der Kriegslärm wenig passen. Vor einem Jahr hatte ich den ersten Urlaub. Doch war ich damals viel mehr bedrückt, als jetzt. Was wird am nächsten Pfingsten sein? Zwar wünscht jedermann den Frie-den. Wer aber zwingt zum Krieg? Die Macht der Verhältnisse. Wenn die Kette im Anfang ge-schmiedet ist, so muß sie sich vollenden. Riesige Zwiespältigkeiten suchen einen Ausgleich. Die allgemeine Harmonie der Völker ist wirklich ein großes, erstrebenswertes Ziel. Ich habe gegen kei-nen Franzosen etwas. Trotzdem töte ich sie. Vaterland? Der einzige, rettende Begriff! ½7h Feuerbereitschaft. Plötzlich ein ganz eigenartiger Ton: singend hoch und sofort tief. Ehe wir uns versahen,

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/24 hatte das Geschoß eingeschlagen, 5 - 10m vorm Geschütz. Steine kamen dahergeregnet. Die Erschütterung war stark. Kaum hatten wir uns auf die Treppe zurückgezogen, kam das zweite, 50m hinten. Nun verschwanden wir natürlich ganz und setzten uns zum Essen (Wurst, 1 Ei, süßer Kaf-fee). Mehreremale setzte es noch Stöße. Als ich meine Gasmaske holte und eine Mündungskappe vormachte, konnte ich den panischen Schrecken erleben, den in mir die Einbildung eines nahen Einschlags hervorrief. Dies war unsere Feuertaufe. Hartmann hatte Wache und fiel beim 3. Schuß sogar vom Postament herab. So sehr ernst die Sache ist, so ist doch irgend etwas dabei, das zum Lachen reizt. Aber "Geschoßtragen" dies ist immer unsere schwerste Arbeit, aber so notwendig, wie das zum Mund Führen der Speise mit der Gabel. Starke Gefechtstätigkeit bei der Infanterie vorn. ½12h Alarm. Bereitstellung von 60 Schuß. So 10 Schuß gleich hinaus, die übrigen von Stunde zu Stunde bis 4 h. 28. ½6h auf. Sofort Geschoßtragen /25 zum Geschütz. Vorm. Schießen bis ½12h, nachm. um ½1h 50 Schuß im Schnellfeuer hinaus. Dann Flieger. Deckung. 2 - 4h Wache. Sehr heiß. Franzosen beschossen den Berg uns gegenüber, die 2. Batterie [?] und das Flak-Wäldchen. Vorgest[ern] vorm. soll von der 6. und 7. Batterie von den neuen einer schwer verwundet worden sein. Jarkau, Ehrenfried, W. Bäumler. Die taten mir wahrlich leid. Mittag: Kartoffel m. Fisch vermengt, Schweinefleisch. 4h Feuern. Dann Flieger. Abds. Streichwurst (große Portion), Kaffee. Das Wetter will sich noch immer nicht ändern. Das wäre unangenehm. Eben starke Fliegertätigkeit.Die Franzosen beschießen die unseren. ½11h Alarm, Leuchtkugel. Augenblicklich fingen alle Batterien im Tal zu feuern an, zugleich war von vorn starker Gefechtslärm hörbar. Wir schossen wenig. ¾12h zu Bett. 1 - 2 Wache. Sehr kühl. Durch unsere Stellung gehen immer Infanteristen von vorn zurück, wie auch /26 vor. 29. ¾6h auf. Wir mußten wieder einen weitschweifigen Tadel von U.O. Meierlein einstecken. Er verkennt ganz unser Wollen. Die U.O. bei der 9. Batt. sind überhaupt durchweg schlecht zu den Leuten. U.O. Fürgut. Mein Gesch[ütz]f[ührer], Gef[reiter] Sparr, ist ein guter Kerl und versteht was. Mitt. Gerstensuppe, Fleisch mit gelben Rüben. 1h Schlaf. 2 - 6 Arbeit, d.h. so ziemlich drücken davor. Gefechtstätigkeit gering, das Wetter trüb, 5 - 6 starke Fliegertätigkeit. Unsere Artillerie wird lebhaft. Der Feind schweigt. Er hat wahrscheinlich weniger Artillerie drüben, wie wir. Wenigstens schießt in diese Gegend immer dieselbe Batterie. — (An Frl. Braun) Die Gedankenwelt ist eintönig wie unsere Stellung, weist allerdings auch Tiefen auf, geistige Granattrichter, wenn man so sagen darf. Man denkt /27 von der Arbeit zum Essen und von da zum Schlafen. Dazwischen liegen einige Abwege, kurze Ausflüge, die einen aber von der geraden, rechtwinkligen realistischen Denkweise nicht abbringen. Der Grund dazu ist wohl in der körperlichen Inanspruchnahme zu suchen. Mir verursacht z.B. eine fixe musikalische Idee während schwerer Anstrengung wirklichen Schmerz. Das hat sicherlich einen psychologischen Grund, der mein jetziges Innenleben sehr merklich charakterisiert. Die Gedanken an den Tod sind nicht sehr vordringlich. — ½8 der Feind feuert nach unserm linken Abschnitt. Die Geschosse kommen mit liebenswürdig heimtückischem Röhren heran, diabolisch grinsend.

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Interessanter Granattrichter: Böschung im Abgangswinkel des Geschosses.

Trichter unserer Stellung ca 10m Durchm[esser] 3,5m tief. /28 Unser Brunnen ist durch ein feindliches Geschoß zerschossen worden. Welche Ironie!

Der zweite Schuß am Sonntag abends, 40m hinter uns:

Höhle im Kalkboden. Das Geschoß brach durch und entfaltete drunten seine Wirkung. 30. ¾5 Alarm. Jedoch nur Übung. Heut schlafen wir einmal richtig. Auch den halben Vormittag und den Nachmittag. Morgens sehr lebhafte Fliegertätigkeit. Beiderseits scharfer Abwehrdienst. Die Kameraden, die schon länger hier sind, sind vielfach recht rücksichtlos. Das Geringste wenn vorkommt, wird gleich ein Langes und Breites geschimpft und großgetan. Dabei haben sie natür-lich den U.O. auf ihrer Seite. Mögen sie zum Teil recht ha/29 ben, ihre Art und Weise ist sicher nicht recht. An mir solls nicht liegen, daß die Kameradschaft leidet. Ja, der ideale und der wirkliche Krieg! Man kann die Nichtigkeit des Lebens erkennen, ohne Narr zu sein. Zwei Typen: Zarathustra und Till Eulenspiegel. Gegensatz: Arbeit und Narrheit (Kunst) Verhältnis von der Kunst zur Narrheit. 9

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 "Der Sommer, der herrliche Gesell"... ich ohne ihn nur Hinter uns das Getreidefeld und eine lange ganz gelbe Wiese, dazu die Granatlöcher.  ½6h Überlagerungsfeuer. Essen: Tee, Fleisch und Wurst.  Die fdl. Geschosse singen ungefähr 2 Oktaven frenetisch herunter und maulen dabei wie trotzige Kinder. Der Aufschlag eisern, unerbittlich, erschütternd, schwer. Die 15er geben einen Trichter von /30 ca. 2 ½m Durchmesser, 1,50 an Tiefe, bei homogenem Boden ist er mathematisch genau. Man hört zuerst den Abschuß, dann sofort das Geschoß. Die Aufschlagwolken haben verschiedene Formen; ballen-, fächerod. spitzenartig, auch pilzförmig.

Das Feuer nur in einigen Fällen sichtbar. Der Rauch ist schwarz (bei uns vielfach weiß). Die frz. Fliegerschrapnelle (weiß) haben eine deutliche Wirkungsrichtung. Sie sehen aus wie Kaulquappen.

/31 Der Schwanz bildet sich ziemlich langsam und hat hinten ein Ringlein. Es sieht aus, wie wenn man Ringe

macht. Unsere - schwarz - schauen wie Grasbüschel aus: 31. Da ist wieder die Geschichte mit den Vorgesetzten. Über sie darf nichts kommen. Hartmann sagt, so sei man ihm unsympathisch und sogleich wird das zu einem Verbrechen gestempelt. Meine unvorsichtige Äußerung ("Dienstgrad") hat mir auch schon etwas eingetragen. Aber ich merke allmählich, wie hier das Segel steht. Sämtliche Wände und Granatlöcher haben Ohren. Sowas ist traurig genug. Die Wahrheit gefällt halt niemandem und drum immer vorsichtig und "Maulhalten".

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Mit dem besten Willen kommt man heraus und erlebt dann gleich allerhand, das einem alles versauert. Schrotzenstaller (6.B.) soll das E.K. bekommen, weil er am 26. einen U.O. aus dem Feuer trug (der dann starb). Also nach /32

/33 [Der fortlaufende Text wird durch einige Zeilen unterbrochen.] Heute vorm. kam Flak 1 an die Reihe und B[atterie] 4, abds. wieder B 4. Ganz rechts liegt die 2. Div[ision]. Die war heut auch erst dran. Heut gabs noch Wein, 1¾ Feldbecher.

 einigen Tagen Feld! Das erinnert mich an das Verhältnis zwischen Kepler und Tycho Brahe.Abend Feuerüberfall auf die 8. B. (B.4). Ein Brand. 2 Tote, 2 Schwerverwundete. 1. Juni. Morgens Brand eines Inf[anterie]Unterstandes rechts von uns. Die Explosionen der Patronen wie Maschinengewehrfeuer anzuhören. Gestern hatte die 6. Batt. (B 5) einen Rohrkrepierer (1 Toter, mehrere Verwundete). Abds. 7h Beschießung von B 4 und B 3 sowie einer Stellung am rückwärtigen Wäldchen links vom Dorf 2.Tadelloses Abendessen heute: Süßer Kaffee, Streichwurst und Schweinernes. Dazu eine Dessert-zigarre Herz, /34 was wünscht du mehr?Heute Nacht soll ein Angriff stattfinden. Unsere Artillerie feuert lebhaft. Heut konnten wir tagsüber wieder schlafen. 2. Nachts von ½4-5 allein geschossen, alle 5 min. ein Schuß. Gedanken dabei. Ballade. Morgens Beschießung von B.4 u. B.6. Mittag das Gehölz u. 2. I[nfanterie-]D[ivision]. Es sind immer 2 frz. Batt[erien]. Vom Gehölz auch Blindgänger (weicher Boden). Tagsüber Wirkungsschießen auf die frz. Gräben. Nachts (früh ½6) Angriff der 2. F.D. auf den Winterberg [?]. 11

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3. Auf unserer Seite wollte man durch Leuchtkugeln das feind. Feuer herauslocken. Es gelang nicht. Als sich morgens unser Feuer stark steigerte, begann auch der Feind mit seinen bekannten Kalibern herüberzuspielen und zwar auf unsere Stellung, die 6. Batt., die 2. F.D. usw. Er traf nichts in der Dämmerung, 30m vorn 3. Gesch., auch sonst noch in der Nähe Aufschläge. Später noch das 3. Reg. Rechts von uns, wie ebenfalls und zwar in der Nähe des rechten Zuges. Bei uns ein Leichtverwundeter [Anm.: Kan[onier] Riß (Reg.gesch, IV 185). Die Fußer [= Infanterie] antworten kräftig. /35 Morg[ens] lebh[afte] Fliegertätigkeit. Gestern gabs 4 Zigarren und 4 Zigaretten. Abds. Keks. Die mundeten im Bett! (d.h. in der Falle!) Gestern abds. 12h brannte ein Munitionsdepot rechts von uns. Es war unheimlich anzusehen. Immer wieder flackerte es hoch auf und streute brennendes Zeug umher. Dazu die Granat-einschläge rings darum. Heut ists wieder Sonntag. Solch ein Tag müßte voll Frieden sein, voll innerlicher Sonne. Wo wäre aber diese Oase zu finden inmitten der Wüstenei des ständigen Kriegslärms? Sollte nicht schon das Wort “Krieg” uns Jungen einen Schuß ins Blut geben, uns straffen, zum Herrischen aufbegeistern? Ja, ein junger Krieg! Dieser Krieg ist alt, unendlich raffiniert und grau-sam. Körner konnte noch seine Wunden im Freiheitsrausch begeisterter Stimmung empfangen, er liebte diesen Krieg wie seine Brüder. Damals wars ein Kämpfen um einen Weltfrühling, in dessen belebendem Föhn alle neuen Menschheitsideen mitstürmten. Nur dieser Krieg kannte /36 noch die Bewegung, das Herumvagabundieren und Marschieren und Reiten, Quartieren und Biwa-kieren eines in gewissem Sinn romantischen Krieges. Dazu kam die Buntheit und Vielgestaltigkeit der Truppen, also der Reiz des Fremden und Neuen! Im Ganzen genommen ist das Meiste hievon in diesem Krieg, der eine ganz andere, furchtbare Art entfaltet, nicht mehr anzutreffen. In gewissen Phasen und Abschnitten vielleicht, ja. Sonst nicht mehr. Der moderne Krieg stellt eine Höchst-leistung der Kräftekonzentration und der durchgreifendsten Organisation aller Hilfsmittel dar seit Menschheitsbeginn. In allem seinem Treiben ist er auf die einfachste Formel, die sich schließlich in ihrer Konsequenz als hochkompliziert darstellt, zurückgeführt. Diese Kriegsführung kennt nichts als den Zweck. Worum wir nun noch innerlich kämpfen, das ist die Idee dieses Krieges, seine Funktion in der Ge-schichte und seine Wirkungen auf die kommenden Jahrhunderte. Äußerlich kämpfen wir um die vitalsten Interessen. /37 Grundsätze: Einfachheit, Korrektheit, Arbeitsamkeit. (Das “Heit” und “Keit” des Epimetheus, das Gewissen!) Daß nicht so sehr der artikelgläubige “kleine” Mensch berühren kann wie der freie Große? Beiden ist das Gemeinsame, die Wurzel ihrer Wirkungskraft: die Einfachheit. Äußerer Glanz und Prunk, schwere künstliche Barockheit des Auftretens bilden den Rahmen, der natürlich um einen fähigen, starken Mittelpunkt sich kristallisierte. Wenn das nicht Selbstzweck ist, dann ist sein erzeugender Grund auch die Einfachheit. (Denn man muß auch konsequente Nebenzwecke zum Ganzen wollen.) In manch kleiner Hütte werden königliche Gedanken gedacht, in manchem Palast fristet blasierte Hohlheit ein faulendes Dasein. Es kommt darauf nicht an. -Einfachheit, Geradheit. Das Aktive und Passive der Geradheit [:] Korrektheit. Arbeit die unmittelbare Fleischwerdung aller inneren Werte. Das zu erstreben, kalte Sehnsucht.

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/38 Das heiße Sehnen gilt immer den Sternen Schönheit und Geist. 4. Gestern ab[ends] Gasangriff. Der Wind trieb das Gas aber ab. Nachts großer Brand Richtung Laon. (½1h) 5. Früh Brand eines Munitionsdepots bei der 2. I[nfanterie]D[ivision]. Gestern früh einer bei der 8. Batt. Um ¼ nach 11h, ich lag noch im Bett, kam ein naher Einschlag. Ich sah hinaus, ging einige Schritte zurück und es kam ein Volltreffer ins 3. Geschütz. Diese Wirkung! Schließlich saßen wir alle gesund im tiefsten Loch unten und spürten die Erschütterungen der nächsten Einschläge. Im Unterstand schleuderte es die Tür von einer Klappe, sonst passierte wenig. Der Geschützstand und das Geschütz sind völlig hin. Vor dem Eingang liegen nur T-Schienen und Wellbleche, zerknüllt und verbogen. Geschosse und Kartuschen sind massenhaft zerstreut. Ein recht eindrucksvolles Bild der Verwüstung. /39 In der Frühe erhielt ich ein Paket von daheim und Zigaretten von Frl. Braunschild. Gestern eine Karte von Luise als erste Post.  6. Heut tat ich einmal einen herrlichen Schlaf. Dieser beglückende Traum! Gestern abend sinnierte ich an einem Orchesterstück (“Tröstung”)

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_________ Seit gestern habe ich eine Ahnung von der Lebensangst. Im ersten Moment tauchte die Vorstellung vom Verschüttetwerden auf. Aber während des fieberhaften Hinundhers dachte ich gar nichts, und erst im tiefsten Unterstand, als draußen noch einige Geschosse kamen und wir deutlich die Er-schütterung spürten, kamen schreckhafte Vorstellungen von geknickten Balken, zerquetschten Menschen, vom lebendigen Begrabensein, und es schrie in mir auf: “Nicht! Nicht!”  /41 Heut träumte ich schon wieder von meiner Eisenbahnfahrt, wie gestern vor dem Unglück. Unterhaltung mit einem geistvollen jungen Mann dies und das. Schrift. 5h Beschießung. So 20 schwere m. V. Wie schnell wir im Loch saßen! Im Raphael von Fg. Galgenmüller [nicht zu ermitteln] gelesen. Ein schönes, reiches eben, eine starke Veranlagung. Mußte der fallen? 7. u. 8. Tag und Nacht Arbeit. Neues Geschützfeuer usw. Frohnleichnam [!]? Feiertag? Hundstage! Brief Alex, Erna. 9. Alex ist in Sonthofen bei einer Übung Fliegerakt[ivität]. Er macht Bergtouren. Erna schreibt wie früher. Ob ich sie noch so liebe wie früher? Dies ist dahin. Sie fühlt es wohl. Es mußte ja so kommen. Die Zeit hat für ein schwächliches Gefühl nicht Raum. Heut den ganzen Tag Arbeit. Danach gabs Ruhe, meinten wir. /42 Aber es wurde ein neuer Geschützstand gebaut. 1.Schicht bis ¾3 h früh. Dann endlich Schlaf bis 7h. Man glaubt kaum, was man zu leisten vermag, wenn man muß. Bei der Arbeit denken, daß die Welt nicht an einem Tag geschaffen wurde und daß viel kleine Hände Großes leisten. -

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Die Arbeit ist unser Verhängnis und unsere Rettung. Was die Arbeitenden sagen: “Bal i arbet, schwitz i, bal i schwitz, rutscht mer d’ Arbet aus die Händ.” “Wenn nur jetzt gleich ein 21er käme und die ganze Sch... In Grund und Boden schlüge!” “Die droben haben leicht reden. Zuschauen könnt’ ich auch.” “Wann nimmt denn der Krampf einmal ein Ende?” Selten etwas von gerne arbeiten. Höchstens im Sinne des: “Nach getaner Arbeit ist gut ruhen.” “Nacha hau i mi aber so gspassi auf d’ Falln hi!” usw. Gestern 5h kamen so 6 od. 7 daher in /43 unsere Nähe. Kaum war ich durch den Graben gerannt, fiel eine in denselben (7m). Heut wieder (½ 5h). Die Franzmänner sind ziemlich pünktlich. Der Tag war trüb. Geringe Kampftätigkeit. Das Belebende des Artilleriekampfs sind immer die Flieger und Fesselballons. “Granaten weiden am Wiesenrande.”

Die Granate Einsam wandelt die Granate Durch das Abendzwielicht hin Und sie spricht mit hohem Singen: “Heute muß mir was gelingen.” Auf dem Schlachtfeld, bleich, zerrüttet, Sieht sie Trümmer, Scheunenreste. Leichen sind entblößt verschüttet. “Bleibet mir zu tun das Beste?” Himmelan hebt sich die Straße, Seufzend strebt sie an zum Gipfel. Nur das Ziel in Kern und Mantel: Die da lebt, weiß nichts vom Hasse: /44 Grüßend rauscht sie über Wiesen, Wo Granaten rauchend weiden. Menschen, die ihr Heim verließen. “Mußtet ihr das alles leiden?” Nur sie grüßet die Soldaten, Die im Abendfrieden sitzen, Deren silberreine Hände Weiß zu ihr hinüberblitzen. Wie? Es regt sich leise quillend: “Ist mein Ursprung nicht Verderben? Ist mein Endziel nicht das Sterben?” Und den Vorwurf schwichtig stillend: “Du mußt tun, was dir befohlen! Keinen Zollbreit von dem Wege! Soll die Macht der Teufel holen!” Ihr Gewalttrotz wird nun rege. “Tobend die, die dich verstießen, Um dem Feinde obzusiegen? Menschen, die ihr Heim verließen?... Nun, so möchte ich blind erliegen!”

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Rasend geht ihr Flug zu Ende Über Heimherdrauch kommen. Herüber doppelt sie die Stimme Und zerspringt mit lautem Grimme. /45 Bin seit gestern beim ersten Zug.

 11. ¾5h Eben hat mich ein Schrapnell am linken Fuß erwischt. (der BZ [?] rächt sich für meine Geringschätzung!) Ich rief: “Auweh! Ich bin verwundet!” und humpelte in den Geschützstand. Ein Stück Haut ist von der Ferse mitgegangen, sonst nichts. Mich freuts wirklich, daß ich auch einmal was weg hab. Ich kann aber auch von Glück reden! Und in mancher Hinsicht. Werde ins Protzen-lager kommen. 12. Ich bleibe heraußen und habe Ruhe. Nur Schlafwache und Posten. “Ich sehe rastende Männer grau.” Dies wäre ein schöner Zug eines Königs. [Vermutlich sollte es nach dem Sinnzusammenhang - heißen: “Ich sehe rastende Männer gern.”]  Szene Roher Tisch vor dem Unterstand. Abend. Soldaten spielend und ruhend. Stark und Scherle in Unterhaltung begriffen. Stark: Unser Hauptmann ist ein /46 Schwungbursch. Scherle: A was. Ein feiner Kerl ist er. St. Aber mir ist er bloß recht, wenn ich bei meiner Streichwurst und bei einem Barras sitze, weil ich da auch unseren Herrgott einen guten Mann sein lasse. Bei der Arbeit - nein, hol mich der Teufel - ich muß mir halt immer denken, was so ein angespitzter Schbinkl hinterrücks von mir denkt, wenn ich schanze. L. Der kann denken, was er will: i arbet halt weiter und scher mi um nix. Der steht mir gut dort. Pause. St. Ein Aug von einem Sklavenaufseher muß so einige Zentner wiegen. L. Und du gibst die Wag ab dazu. (Lachen) St. Und ‘s Gegengewicht? S. Der denkt, daß d’ was schanzt. (Lachen wieder.) Brentner (hinzutretend): Was gibt’s denn da z’ lachn? /47 L. Vom Dreck ham mer gredt, den ma aus deine Augndeckel ausschanzn kannt. St. Das könnt aber auch bloß ein 21er [Kaliber?] besorgen. L. Wenn er si net schenieren tut! Br. Was is denn in euch gfahrn?  Phantasie Von der hohen Burgterrasse Wo die Straße Weit sich hinschwingt über Wälder, Streift mein Blick das Tal entlang. Grün, wohin ich schau, Blumen nur, Dörfer, helle Kirchturmkuppen, Schönheit ringsum. Ferne Hügel atmen Sehnsucht, Wolken grüßen, Bäche, Silberflüsse fließen. Stille singt. 16

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Am Geländer, kaum erzitternd, /48 Halt ich mich, berauscht. Alte Tage dämmern neblig Überm Abgrund. Daß ich stürze? Daß ich sinke In neue unsagbare Ahnung?

 Der Traum von der Weltfriedenssonne. Traum von der Feuertaufe und dem großen Geheimnis, das mich davon abhielt. Nachts kam in Bruchsal mein Vater mit einem Schreiben, Telegramm von der bayrischen Regierung, sofort nach B... zu kommen. Ich stieg aus. Mutmaßungen über einflußreiche Persönlichkeiten. (Frl. Braun.) Schnellzug nach B. Dort Briefe einer hohen Familie. Begegnung. Beginn eines Liebestraumes. Der erste Sommer. Ausblick von der hohen /49 Linde, Bad im Weiher. Als ich heim kam, war Schnee da. Winter. Dunkelnde Luft. Im Westen kämpft sich roter Schein empor. Eine große Sonne mit Ringen, die den Himmel umspannen. Ich komme heim, weiß nichts. “Verdun ist gefallen. Friede. Dort die Weltfriedenssonne!” Durch einen brausenden Strom von Gefühlen schritt ich übers Leichenfeld vor Verdun. [Ein Adresseneintrag] Kobras 8 / 9 F. Feindl. 341 F[eld].P[ost]. 998 Halle a/S. Vereinslaz[arett]. Kinderheilstätte. 13. Ich hasse indiskrete Persönlichkeiten. Gegen ihre brutalen Eingriffe ist man machtlos. 16. Signalist in der Maxhöhle. Angenehmer Dienst. ½ h von der Batt. Gestern mußte ich den Batt[erie]Plan fertigen. Man sieht, wozu man sein Können brauchen kann. Vor einigen Tagen großes Unglück beim 2. Reg[iment] (Handgranatendepot). 60 Verschüt-tete, 170 Verluste im Ganzen. Battaillonskom[mandeur] tot. /50 17. Gestern durchs Feuer (22er) mit dem Essen. Ich lief mit seltener Ausdauer. Steine und weißer Kalkstaub regneten nieder. Ich schwitzte entsetzlich hernach und legte mich halbnackt auf mein Lager. Um 5 h Baden! Weiher 20 min. von hier. Wunderbar wohltuend. Abd. Ein Gegenstoß der unseren. Feuer auf unsere Blinkstation. Der Vorplatz der Höhle ist zer-stört.Traum. Eine vollendete Novelle! Tragischer Inhalt. Die sittliche Kraft der Mutter ist stärker als die des Vaters. Sie muß zur Sühne leben bleiben. Ich hätte Lust, “Werther” zu lesen. Seines reinmenschlichen Inhalts wegen.Furchtbar ist es, dahinzugehen ohne Aufschwung, ohne Ausklang und ohne Ziele. Das wäre bei mir jetzt so. Wo bleiben die Ziele? 18. Gestern 6h zur Stellung, auf der schweres Feuer lag. Ein Toter vor dem /51 Unterstand, 4 z.T. Schwerverletzte auf der Matratze drinnen (Infanteristen). Bis 10 h lagen wir im Stollen. Dieser Weg ist furchtbar unangenehm. Oft ist Kameradschaft gleich Lebensmüdigkeit. Heut lernte ich wieder einen “Kameraden” kennen! Mitten in gemeinsamer Gefahr so zu sein! Wieder ein bedeutender Traum. Woher diese tiefen, gemüterschütternden Träume? Sie entspre-chen ganz der Gewalt der Erlebnisse. Heut abds. Angriff der unseren. Die Artilleriewirkung war betäubend. 25 Gefangene. 20. Zurück ins Waldlager. Nacht, Gewitter, Regen. Morgendämmerung. Am Weg ist preuß[ische] Inf[anterie]. Diese Kameraden! Ich habe mir anscheinend schon Feinde gemacht. Wodurch, weiß ich. Ich will zeigen, daß ich nicht der bin, für den sie mich halten. Doch wozu diese Klei-

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/52 nigkeiten? Morgen geht’s fort. Pierrepont. In Ruhe Im Quartier: “Nach der Schlacht sitzen die Ritter trinkend um die Tafelrunde und erzählen von ihren Taten. Und die Knaben sitzen hinter den Stühlen, füllen die Becher und lauschen begierig den Reden der Ritter.” Od[er:] Das Lagerleben aus den “Ahnen” [Gustav Freytag] 24. Heut Feldgottesdienst. Der Geistliche, der schon lange bei der Division ist, sprach schön und warm. Über die Toten. Der Wagnersche Ausspruch: “Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun”, und der Gedanke “Die Schönheit des Lebens hebt den Tod auf.” (J. Kaiser) “Aber es kam wie ein Dämon der Gedanke über ihn: ‘Starb für alle! Stirb für alle!’ und schüttelte ihn bis zur Erkältung, zur Zermürbung seiner Kräfte.” 25. Vorübung zum morgigen Parademarsch. Und wie! Garnison ist nicht schlechter. H.Hptm.: “Wer nachläßt, kann Arreststrafe bis zum Höchstmaß erhalten.” Hm.  Brief von Bauer. Auch der? Konflikte? Ganz ich! Gest[ern] das Lied begonnen von Trakl. /53 27. Vorm. Parade der 1. I[nfanterie]D[ivision]. Nachm. 3 h Baden. Uff.St[ell]V[ertreter] Schlieper führte. Ein Militär in der Potenz! Das Kleinste in seinem Sinn. Scharf, unerbittlich. Ein Kosaken-hetman, ein furchtbarer Charakter. Mit EK I ausgezeichnet für eine verwegene Tat. Das wäre eine Gestalt für Hebbel! 29. Alex Braun schickte Gedicht von Huthold [?]. Nichts erwünschter, als das. Sie versteht die Bedürfnisse sehr gut. - Wache. Bekenntnis. Bruchstücke Hat niemand noch den Raum dem Alter gebaut? Wohin, ich will es tun und will mich nicht betrügen. So klar waren wir, seh ich mein Leben liegen, Wie ich an keinem Tag es überschaut’.  Der Mensch ist noch beglückt zu preisen, Der jedem Schmerz die Sprache leihen könnte. Daß mir das Wort zerbricht in meinem Munde, Das ist das schwerste Unglück dieser Stunde. *

* *

Treue und Gewissen Alles sank in jene Sündenflut

Ehe Größe Mut /54

Deren Wellen alle Toten decken. *

*

* O Welt, du hast nichts zu vergeben! Wir warten allesamt nur auf den Tod. *

* *

Was wird, wenn wir uns alle niederstächen, Daß fürderhin ein Ende hätte dieses Sterben? *

*

* Ich kann kein Wesen dieser Erde schelten, Als unangreifbar muß mir jedes gelten. *

*

* Der kleinste Mensch ist groß noch gegen mich Durch seines Gangs Natürlichkeit. *

*

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Es wird im Leben mir zum Überdruß, Daß Reue allen Freuden folgen muß. *

*

* (Vom Schlachtentod) Für andre ists ein Ende strahlenprächtig, Von Goldglanz der Begeisterung durchsonnt. Sie lauschten nie dem Rufe mitternächtig, Der vor ihr tagesstumpfes Ohr gekonnt. /55 Ich schaut ins Grab voll irren Zweifels, Hoffnungsloser Täuschung. *

*

* Die letzte Nacht wird meine erste sein; Denn meiner Seele Mutter wird sie werden Voll Bitternis und Leid und Wehmutschmerzen, Als je ein Menschenherz sie fühlt auf Erden. *

*

* Schließ denn und wölbt den Grabeshügel; Denn seht: die Welt hat nichts mehr zu vergeben. Wir warten allesamt nur auf den Tod. *

2. VIII.

*

* Es ist hier unser größtes Unglück, Daß Menschen sind, die uns lieben. 

Montloué. Fahrt mit Auto. Unser neues Ruhequartier. Fliegerunglück, zwei junge Offiziere tot. 5. Angenehmes Quartier - Krämerbude. M. liegt schön zwischen sanften Hügeln, von Obstgärten umgeben. Unsere “Nahrungssorgen” führten uns in die Umgebung. Gestern Kartoffelholen. (Eig. Stehlen, aber was tut’s? C’est la guerre!) Ebenso Kirschen und einfaches Obst. Dann wird abgekocht! Die Kameraden der 7. U. 8. Getroffen. Bei der 7. /56 Großer Feldpostdiebstahl - Jankein [?], ein jung, blutjunges, schwaches Bürschchen. Seit gestern Luftsignalkurs. Eine Qual, diese Abrichterei! Wenig Fußdienst. Schlieper und der H[au]ptm[ann] sind in Urlaub. Es gibt Milch für 25 Pfennige. Die Leute sind nicht so freundlich, wie in P. Unser Staber [= Stabsfeldwebel] ist aber recht verständig. Wir leben von Tag zu Tag. Soldaten sind Kinder. Heut schon wieder Pauken. Am 8. geht’s erst dahin. 6. Herrliche Tage! Zu schön für den Krieg. Gestern ab. Kochten wir Kartoffeln. Tadelloses Essen! Es kommt keine Post mehr. Recht unangenehm das. Unser Essen heut: Dörrobst (sehr wenig), Büchsenwurst, ein verschimmeltes Kommiß. Gemeines Essen wie noch nie. Die Mißstimmung ist allgemein, aber nach oben kann man sich doch nicht bemerkbar machen. “Recht” der Soldaten! Es sind verhältnismäßig viele Leute krank. Einer ruhr-ähnlich. Der Wachtmeister sagte zu ihm: “Unreife Birnen fressen und Wasser trinken - eingesperrt gehört ihr alle miteinander, daß euch die Rippen krachen. Hernach melden sie sich zum Arzt und drücken sich von der Arbeit. Ich will euch schon helfen dafür.” Aber derjenige wird bestraft, nicht wahr, der Mißstimmung unter en Kameraden hervorrufen will? Beim Apell [!] wurde verlesen das Verbot der Lebensmittelrequirierung

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/57 Mit seinen drakonischen Strafen, ferner: “Es ist verboten, Wasser zu trinken.” Erklärung: “Jeder, der schon länger im Feld ist, weiß, daß er kein Wasser trinken darf.” Jetzt wissen wirs. Ach, Monsieur Wachtm[eister], Luft zu schnappen ist wohl auch verboten? Oderrr??? Seid still, Monsieur weiß noch nicht, daß wir verschimmeltes Brot essen. An das Kartoffelfeld wollt ich hinaufschreiben: “Soldaten! Stärkt euch für die Offensive! Eßt Kartoffeln!” Das wäre der richtige Kommentar. Es ist “kurzsichtig”, ja, ihr Herren, und entspräche nicht der schönen Behauptung, die ihr in den Zeitungen lest: “Die sittliche Kraft des deutschen Soldaten erlahmt nie.” Wir müssen aber mit Strafen aus unserer Haut. Das ist natürlich strafwürdig. - Oh Hindenburg! Beim Exerzieren heißts immer: “Koppel enger schnallen! Luft raus! Raus mit den Ludern [?], ihr Schlappschwänze!” Es ist zum Lachen.  Welch eine Kluft klafft zwischen den Berufen mit geistiger und körperlicher Betätigung! Wir sind so verkannt, wie ich es nie vermutete. Typus des anderen: Gefr[eiter] Edelmann. Mit beispielhafter Fertigkeit kann er sich ins Unscheinbarste einfügen und alle “Bildung” lächerlich machen. Und zwar so den andern Schafen gegenüber, daß wir /57 tatsächlich “fertig” dastehen. Er will nicht verstehen, daß es Leute geben kann mit geistigen Inter-essen. Wir aber sollen ihn liebevoll umwerben und hochschätzen! Eigensinniges Volk! Querköpfe. Ich würde als Lehrer dahin zu wirken suchen, das gegenseitige Verständnis zu fördern und den jungen Menschen die Binde von den Augen zu nehmen, die sie von den Leuten immer wieder bekommen.  Vorgestern den Brief an Erna abgeschickt. Ich bin froh darum. 7. - Mein Brief an Bauer zurück. “Auf dem Felde der Ehre gefallen.” Ich erschrak und tiefe, wortlose Trauer erfüllte mich. Er gefallen, der noch nach Klarheit rang, der sich noch in unentwirrbaren Wirrnissen verstrickt sah! Er tot - ohne zu wissen, wofür, mit einem Wort der Bitterkeit auf den Lippen. Das ists, was ich immer fürchtete, was mich [!] diese furchtbare Sphinx anzugreifen eingab, was für viele schon zum Verhängnis wurde! Armer Freund! Dir blühte nie, was du ersehn-test, auch dir war die Götterdämmerung fürs Totenreich gekommen, du spürtest noch keine aus der Flut steigende, neue Erde. Vielleicht ist sie schon gekommen für dich, drüben, /59 im Geisterreich. Aber diese Morgenrasch[h]eit erfüllt uns Lebende mit Furcht. [Rest der Seite leer] /60 (zu “Warnecourt” s. Tagebuch “Sturmstoß” S. 124.) 18. Juli Warnecourt. Nähe Charleville. Am 8. Montloué-Rozoy mit Auto. Zug verspätet (¾ 6h). 11 Mann, Wachtm. Heinrich. Aufenthalt, Verpflegung, Quartier. Zum Teil Regenwetter. Am 9. früh Einladen. Vorm. Baden. Mittag fährt ein Zug mit Geschütz und Posten allein ab. Wir nach 2 h. Getroffen in Liart. Aufenthalt bis ½ 11h (meine Zigeunertasche, ein schönes Geschenk meines Vaters, blieb in einem Personenwagen liegen. Der Verlust ist sehr beklagenswert.) Fahrt nach Tournes 3h. Ausladen: Fahrt nach W. 2 Stunden. Ankunft 4h. Kleiner Ort, Landschaft schön. 15. - 12. Mit Egle bei den Weibern auf dem Feld. Dienst: U.O. Unterkunft, Vierkant, Reiten, Fuß-dienst, wenig Stall. Essen: 1/3 Kommiß (seit Montloué schon), Fleisch und Suppe od. Gemüse. - Gut, daß ich von daheim versorgt werde. Vorgestern “Skizze” (6. Tagebuch) Gestern Vorm. Geschützauseinandernehmen. Nachm. Wildsaujagd. Nichts erwischt. Kartoffelsuche. Kochen bis ½ 12h nachts. Zu Bett 11 od. ½ 12, auf 6.15. Spaziergang mit Baumgartner. Kirche, Harmonium. Heut Sonntag. Warm, Regen. Statt Gottesdienst Geschützreinigen in der Schmiede. Drecksarbeit! Nachm. Ruhe. Herrliches Wetter. Meine Kameraden. (Auf zum

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/61 Bett!) Abds. Spaziergang. Zeichn[ung]. - Wein! 16. Karten. Ltn. Roloff. 20. Kronprinzenparade in Charleville. Starker Eindruck. - Bodenmüller getroffen. Vize bei der 4. - Kremß bei d. 8., Hasch wieder da. - 2x Befehlsempfänger nach Mondigny. 22. Auf Telefonwache. Vorm. 9h Abmarsch. Abd. Noch große Wäsche gehalten. - Das Wetter wird schön. Herrliche Nacht. Abfahrt ½ 9h vom F.W. Poin-Terron. Ank. 12h. Quartier Rathausplatz 16. Baden. Wannenbad. Abd. Klavier spielen. 11h zu Bett. Wecken 4h. Abf. 6h. Rilly. Ank. ½ 1h. Weichseln! 2 Hammel “requiriert”. Quart[ier] Stall. Jetzt Vorderreiter um 15[?]. O[ber]W[achtmeister]. Misthackl! Baden in der Aisne. Gegend bis jetzt herrlich. Abd. gelbe Pflaumen schütteln. Bienenstöcke fallen um, Meldung usw. Zu Bett 9 h. Auf 2h. Bin sehr gespannt!  25. Feuerstellung /62 Gestern Abm[arsch] 4h. Bis N. von Off.Gepäckwagen. Zu N. Kaffee, Pflaumen! Von da Vorder-reiter. Gut gegangen. Ank. 12h. Gegend östlich Reims. Waldberge. Baracke. Um 6h Gesch[ütz]-führ[er] vorgeritten. 12 km. Bis Somme-Py. Stell[ung] sehr gut und ruhig. Preußen. Um 2h kamen 2 Gesch[ütze] nach. Ich Telefonist. Leitungsgebrülle zu Adolf. - Die Sache mit meinem Geldbeutel. - In Rilly abds. der junge Franzose vor dem Haus mit dem großen Buch. “Der freie Bürger”. auf A.V.O. Obadja [?] als Teleg[ra]f. 26. Gestern abend auf Knall und Fall von der Stellg. weg mit Fr. Lehr. Befürchtungen - und welch schöne Enttäuschung! Kein Dienst, außer 3 täglichen Meldungen. 8 morg. u. Freit[a]g ab[ends].Ab[end]s [?] Geld. Rhein. Gef[allenen]Meldg. v. Drachenfels. Essenholen bei der Inf., ¼h Weg. Zur Batt[erie] ½h. 27. Sonntägliche Ruhe zeichnet die Gegend aus. Hin und [wie]der lebhafte Schießerei. Aber gleich wieder Schluß. Da wird mir so gemütlich /63

/64 [vacat]

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/65 langweilig, wie ich es gern habe, wo nirgends eine Sorge zu überwinden ist und allenthalben Wege zu angenehmer Tätigkeit führen. Das Wetter ist andauernd schön, von üppiger Sonne bestrahlt nicken büschelweiß [!] Glockenblumen mit himmlischer Bläue vom Grabenrand hernieder. Ich bin der Einsiedler, der sie begrüßt, der auf den Ton der summenden Fliegen lauscht, ohne Sehnsucht sich der Wärme der Luft hingibt und den dummen Krieg dabei vergißt. Weiße, Helle, aber auch Einförmigkeit überall. Kalkig-kreidiges Gestein, aus dem man allerlei schneiden könnte. Ich sah schon manches: Einen Hund auf solchem Stein, einen Drachen (auch Drachenfels. Ist das nicht auch “Kriegspoesie”?) Es steht uns frei, tagsüber zu schlafen. Nachts könnens 11h Schlaf werden - wir gehen also am Leitseil zurück und holen wieder vieles Verlorene ein. Der Unterstand ist praktisch, sauber, be-quem: Telephon, Lampe, Tisch, Stühle, Betten, daneben der Wachtm[eister]. /66

Bücher sind da. Heute Heines Harzreise gelesen. Ewers’ “Alraune”, Schundroman, witziges Zeug, 20&Hefte, also Auslese! 28. Urplötzlich von der 8. Battr. abgelöst. Abds. Wieder zur Batterie. Richtk[anonier] beim 1.v.o. [?] (“Liesel”) 2 Pakete: Von daheim, 1 von Halbreiter. Sollte doch von Alfons kommen! 29. Wieder ein Paket! Ich werde tadellos versorgt! 3. 8. Regenwetter. Zwar etwas unangenehm, aber nicht zu langweilig. 7 h Aufstehen, Kaffeeholen, /67 Küche 5 min. weit entfernt bei einem gesprengten Gaskessel beim Bahnhof. Ein Bach, der Py, in der Nähe. Feldbrunnen. 12h Essen. Mittelmäßig. Geringe Arbeit. Abendessen ziemlich windig. Einheizen im Unterstand. 22

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Kochen! Gemütliche Abende. - Ich schreibe einige Gedichte: (“Frage”, “Grabenballade”, “Mahnung”). Wäre zu mehr aufgelegt. 4. Geschützführer am 4. Da ist das Versprochene, aber nur aus Notwendigkeit. 6. Das Wetter klärt sich, der erste schöne Tag nach dem Regen! 8 Schuß. 7. Es ist ein Unternehmen größeren Stils - Gasangriff geplant. Zu dem Stoßtrupp der Artillerie meldete ich mich freiwillig, ganz im Sinn meiner letzten Äußerungen. 10. Vorläufig ists nichts damit. Vorgestern abend Bereitschaft. Gesch[ütz]F[ührer] Leuchtkugelposten (½ 5 - 6), kriegerischer, finsterer Abend. Gestern wären wir abgelöst worden, ich blieb auf meine Bitte heraußen. Spät zu Bett. - Heut nachm. mit L[eutnant] Scheffold auf B. O. Barmaid (v. Flügel der Div[ision]) zum Einschießen. Konnten wegen der zu großen /68 Entfernung mit 4 Schuß nichts erreichen. Dann auf Drachenfels. Gest[ern] Zigaretten von Frl. Braunschild, die Sendung freute mich riesig. ¾ 9h - ¾ 10h Angriff - starkes Trommelfeuer. - Am Pöllberg (Hochberg) (rechter Abschnitt, 30. Inf.Div.) Unsere Einteilung: 2. I.R. 1. I.R. 24. I.R. 9/1 8/1 7/1 ½5 L/68 269 12cm 13. Gest[ern] 7h ein Fesselballon brennend. -Morg[ens] Fliegertätigkeit. Schw[erer] Sturm rechts vorn. Das Wetter wird regnerisch. - Maßnahmen zum Nahkampf. Bestreichen des Vorgeländes, Aufstellung der Leute, Gasmasken-probe. 1915 (Offensive) hier blutige Nahkämpfe. Schwarze schnitten der Bedienung dieser Stellung sämtlich die Gurgel ab. Einen Geschützstand außen vorbereiten. 14. Mündungskappe hinausgeschossen. /69

/70 16. Eine Katze gefangen, ausgezogen, gebraten! Hollermus mit Pflaumen. Der reine Festtag! 17. Herrliches Wetter. Warm. Starke Flieger- und Abwehrtätigkeit. Nachm. 2x Einschießen. Beschießung eines deutschen Fesselballons mit schwerem Langrohr. Wirkungslos. Meine Wäsche gewaschen. Oftmalige Störung! Marketenderwaren: Käse (gut; 5:3cm) - 1,50 Weichleberwurstbüchse (4cm dm [Durchmesser], 5M) 2,25 Hartwurst, der cm 25&. (Pferdewurst.) 23

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1 Büchse gew. Vollmilch 3,10 (½ l) Kond[ens]Milch 1M Kunsthonig 50&  Der Gegner wird lebhafter. Beschießung der Straße hinter uns. 25m von einem Fuhrwerk, das unbeschädigt blieb. Öftere Schießereien vorne. 18. Abds. 11h abgelöst. 19. Früh 2h Lager. Sonntag. Ruhe. Vorm[mittags] Machault zur Entlausung. Kameraden von der 7. [Batterie] getroffen. Der 20. gewinnt wiederum Bedeutung! 20. - Häckselschneiden, Wasserpumpen 8 - ½ 9h. /71 ½ 3 - 6. Vorm. stürzt ein Flieger ab. Die Insassen unverletzt. Essen gut und reichlich, Wohnung angenehm, Baracken. Marketender nebenan! Abds. 7h mit Mu[nition] in Stellung. Zurück 3h. Der Abend von bedeutungsvoller Schönheit. Hinter St. Etienne: Schwefliger Horizont mit Wolken, weit zurück wie ein Gebirge aufsteigend, kompakte Wolkenmassen. Neues Land! Columbus, die Idee eines Donners. 19/20 Wache. Wahrheit und Schönheit, Widerlegung des Subjektivismus, (Wirken im Ganzen, Einzigkeit der Welt). Die Musik. “Saul und David. Ps[almen]Studie”. - Ich. Als wir von der Stellung kamen, ging ein Wägelchen von den Sanitätern mit. Natürlich nicht von selbst. Ob sich das irgendwie entschuldigen läßt? 21. 9h Aufstehen. Den Tag tat sich fast nichts. Abds. ½ 8 h wieder in Stellung verschickt. /72 Mit Berend und Elem wars nie unterhaltsamer, fröhliche Fahrt. Wir waren ständig zum Singen aufgelegt und die [G]stanzl lösten einander ab. (Bei den Oberländern!) Ankunft 10 h. Leutnant Roloff: “Wie lange waren sie [!und so konsequent] im Lager?” “Zwei Tage, Herr Leutnant.” “Und von Anfang an in Stellung?” “Jawohl!” “So? - Wer verschickte sie?” “Herr Wachtm[eister] Schuster.” - “Das geht nicht! Gehen sie wieder zurück. Sagen sie, ich hätte sie zurückgeschickt.” Was zu machen? Ich ging. Packte meine Sachen auf, fuhr zurück. 3h früh im Lager. Aufstehen 1h. Vorn ists lebhafter. Mehrere feind[liche] Angriffe. Gasbeschießung unserer Artillerie. Die preuß[ischen] Fußer rechts von uns 3 Z[en]t[ner], mehrere Schwerverwundete durch Gas-Volltreffer. Schneidawind (4. Batt.) soll gefallen sein. Erst kürzlich herausgekommen als [unleserl.: beidt/beudt?] Gefr[eiter] (1. Dez. eingerückt bei Theuersbacher)*) *) Stimmt nicht! 1. Reg. b. [vacat] /73 Mittag 1h nach Machault zum Sägspäneholen. 4km Stall. - Wiederum Wache (Strafwache wegen der Bienenstöcke in Rilly). Also keine Nacht noch Ruhe! Das ist das "Ruhe"-Lager! Alfons schreibt, er käme bald ins Feld. Das kommt unerwartet! Ich glaube auch nicht daran. 23. Abds. 7h in Stellung. Gesch[ütz]F[ührer] v. 3. Bedienung. Birnkammer, Lehr, Cham, Harvolk. Am 4.: Bachbrück, Egger, Tapeiner, Triendl. 24. Munitionsversorgung. Gefechtstätigkeit flau. 25. Nachts Kolonne mit 700 Schuß. Wir 200. Vorm. Arbeit! Geg[en] 5 h zwei feindl. Flieger, die hinter S. Py Bomben warfen. 9h zweimal 200 Schuß auf Batt[erie] Heinrich (6250m) als Antwort auf eine bis jetzt noch nie so ungeheuerlich geschehene Gasbeschießung auf A- und B-Abschnitt. Ein undurchdringlich dichter Nebel zog /74 sich rechts von uns im Bogen bis hinter uns zur Py hinab, sich den Senkungen des Geländes anpassend. Wir lachten noch über die teuflische Singerei der Gasgranaten, als das erlösende "Feuerbereit" kam. Mittendrin hörte der Gegner auf, das Gas zog sich jedoch schon bis zu uns her. Beim 29. Schuß brach eine Verholfeder, Feuerpause! Angestrengte Arbeit bis 10 h. Wachtm[eister] Schlipper stiftet jedem Gesch[ütz] 5 Maß Bier. Es kamen Milch u. Honig, Marketenderwaren. Nachts annehmbarer Schlaf. Gesch[ütz]F[ührer]. Posten. 26. Früh starke Beschießung einer preuß[ischen] Batt[erie] vor uns. 24

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28. ½ 6h früh Beschießung von uns 1½ h lang mit l[eichten] K[anonen]. Starker Südwestwind. Fauststimmung (Trüber Tag). [Gemeint ist die Szene aus Goethes Faust I "Trüber Tag. Feld".] 1. 9. Wieder schön Wetter. Morgens schweres /75

/76 Minenfeuer auf den Gräben. Danach beträchtliche Artillerieeinwirkung. 2. 9. Lebhafte feind[liche] Art[illerie-]Tätigkeit. Gest[ern] abd. erhöhte Alarmbereitschaft. Post: Zuhause Zucker Ulrich Th. Thee, Zucker und Laibchen [?], zu mir "Theepartie"! Das dient heut zur Sonntagsstimmung. Jetzt wird immer eifrig gekocht. Speisekarte: Brotschmarren, Brot (Mehl u. Wasser, gezuckert), Thee, Pfannkuchen folgen. Wenn von den Kameraden jeder etwas beisteuert, geht immer was zusammen. 3. 9. Schwerer Kampftag. Nachdem in diesen Tagen durch ständige, zum Teil sehr schwere Art[illerie-] und Minenwirkung die vorderste Linie niedergetrommelt war, erfolgte am 3. 9. nach 4stündiger, auf Artillerie und gedachter schwerer Beschießung der Angriff. (7¼habds.) Soviel ich erfuhr, war der erste Graben nachmitt[ags] geräumt worden und wurde durch Gegenstoß wieder genommen (2. Reg[imen]t). Die Nacht /77 war klar und völlig ruhig. Um 3h kamen die ersten Schüsse in unsere Gegend. Das Feuer - teilweise schw[eres] Kaliber, teils Gas hielt an und verstärkte sich während unseres Sperrfeuers zu großer Gewalt. Die 15er vor uns (Pr[eußen]) und die 12er hinter uns waren am schlimmsten daran, letztere durch Gasbeschießung. Bei uns passierte nichts. Die Schüsse gingen von 100 - 50, 30, 10m hinter und vor uns, darunter kein Gas. Von 5 - 7 h hatte ich Posten. Diese Zeit zu schildern, würde ein eigenes Kapitel bilden. Um 7 15 endlich! Sperrfeuer des 3. 85 Schuß. (2er ich, 1er Kircher der Gesch[ütz]Führer). Das 1. 84, 2. 92, 4. 56. Die feind[iche] Beschießung nahm erst gegen 9h ab. Im ganzen hat sie nichts angerichtet. Die Kirche von S[aint] P[y], ein schöner gotischer Bau, erlitt Beschädigungen, die Ruinen wurden noch mehr zu Grunde gerichtet. -

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/78 5.9. Morg[ens] schw[ere] Minentätigkeit, nachts Art[illerie], da Ablösung stattfand. Wetter schön, heiß, seit 3 Tagen schon. Während die Angriffe der 20. und 21. Stoßtruppunternehmungen vermutlich zur Feststellung der Artilleriewirkung gegen die eingebauten Gasbehälter waren, hatte der letzte Angriff ein größeres, strategisches Ziel. Die Taktik ist die: Tagelanges Art[illerie]Feuer auf die Gräben, am Angriffstag 4-6h auf die Art[illerie] und zugleich Trommelfeuer auf die Inf[anterie], Sturm und Niederhalten der Art[illerie] durch zusammengefaßtes Feuer. Danach völlige Ruhe. Die Angreifer waren, Aussagen von Inf[anteristen] zufolge, betrunken. Daher das sonderbare Schicksal des Gefr. Dietz der 2. Batt[erie], der auf d[em] V[orderen] U[nterstand] [?] war, daß er trotz zweimaliger Gefangennahme entrann. Die Fliegertätigkeit war äußerst rege.  Gestern kochten wir eine geradezu ideale [Anmerkungen: (unleserl.)] schon längere Zeit ausgebaut! - Dem 1. I[nfanterie]B[ataillon] mit 16 Batt[erien] stehen 35 feind[iche] entgegen. (Randbemerkung, offenbar nachträglich:) Laut Reg[iments]g[eschichte]: 74 feind[liche] Batterien, d. i. 4x soviel wie wir. (S.198)] /79 Brotsuppe. Dazu Butter, Mehl, Zwiebeln! Kastner ist unser Koch. Unregelmäßigkeiten unserer Verpflegung: Ab 1. 200g Brotzulage pro Tag. Wir erhielten sie erst am 3. Das übrige, das uns, natürlich zu Gunsten der Lagerunteroff[iziere], vorenthalten war, wurde erst auf Beschwerde hin nachgeliefert. Die übrige Verpfl[egung] war die ersten 3-4 W[o]ch[en] sehr knapp, bes[onders] Abends. Schuld daran ist der Menage[-]O[ffizier] Fischer und war der Koch, Wenninger. Er wurde darum hineingeschickt, drinnen wurde ein U[nter]O[ffizier] Speiseraum [am Rand:] “Kasino” errichtet, in dem nach allen Aussagen alle Unregelmäßigkeiten in der Stellung ihren positiven Niederschlag finden. Ein trauriger Zustand! 5. Abds. ½ 11h Wirkungsfeuer auf den linken Abschnitt 30 Schuß. Der Gegner wurde etwas ruhiger. 6. 9. Früh ½ 3h Sperrfeuer. Unter starker Vergasung der Linie versuchte der Franzmann einen Handstreich. Er wurde vereitelt. 50 Sch[uß]. Es ist auffällig, daß unser zusammengefaßtes Feuer stets die Ruhe zu erzwingen vermag. Das Umgekehrte ist durchaus nicht der Fall. Tagsüber lebhafte Artill[erie]tät[igkeit]. Morg[ens] und abd. immer s. K. [?] /80 Während des Nachtangriffs gingen vor uns 10 - 12 Inf[anteristen] eilends zurück. Sonderbare Vermutungen. Abd. 9h Sperrfeuer, 16 Sch[uß]. Irrtum mit Leuchtkugeln. 7. 9. Ab[end]s starke Vergasung rechts u. hinten, Alarm. - Zwei Pakete v. daheim und von Bachs, dazu zwei Briefe, einer v. Albert. Ich war wieder sehr glücklich. 8. Nachm. 3 h Unterstützung rechts 25 Sch[uß]. Batt[erie] Heinrich 25 Sch[uß]. Franz[ösischer] Bericht vom 4. 9. In der Champagne führten wir am Ende (3. 9.) des Tages beiderseits der Straße Somme-Py-Louayn einen ausgedehnten Handstreich aus. Unsere Abteilungen, die die Aufgabe hatten, Gefangene zurückzubringen, zerstörten Gasanlagen und drangen in gegnerische Schützengräben auf einer Front von 800m in der ganzen Tiefe der ersten feindlichen Stellung ein. Nachdem sie zahlreiche Gasbehälter zerstört und Unterstände gesprengt hatten, /81 kehrten unsere Truppen in ihre Linien mit 40 Gefangenen, vier Maschinengewehren, einer Schützengrabenkanone und bedeutendem Kriegsmaterial zurück.  Es wurde brennender Schwefel in die Unterstände geworfen. Natürlich verschweigt der Bericht, daß sein Ziel strategischer Natur war und daß die Franzosen im Gegenstoß geworfen wurden. Deutscher Bericht v. 3. 9. Beiderseits der Straße Somme-Py-Louayn stieß der Gegner nach Trommelfeuer vor. Er wurde durch Gegenstoß aus dem Grabenstück, das er zeitweise besetzt hatte, geworfen.

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10. 9. Am 9. fuhr ich ins Lager. Nicht ungern ging ich zurück. Man ist doch wenigstens kugelsicher. Vor einigen Tagen holte ich Wasser, als das Abstreuen des Geländes mit Gasgranaten erfolgte. Ich kann von Glück reden, daß ich durchkam. Am 9. abds. beim Abendessen Feuerüberfall (Gas). Als wir im Unterstand waren, gingen /82 2 in den Graben beim 3. Gesch[ütz] und beim Off[iziers]Unterstand. Wir machten Feuer und spürten wenig Gas. 11. 9. Das Kohlhaasenthema wiederholt sich abermals. Ich bin voll Empörung und in entsetzlicher Stimmung. 12. Ihn konnte ich nicht verwunden - aber mich. Traurige Tatsache, aber nun arbeite ich nichts. Gestern Abend soll Hartmann schwer gaskrank geworden sein. 3 Schüsse gingen wieder in den Graben. Die Verluste der 1. I[nfanterie]D[ivision] sollen schon so groß sein, wie an der Aisne. Die 11. Komp[anie des] 1. R[egiments] hat nur mehr 8 Mann. Bei einem Angriff am Sonntag 9. 9. hat [das 10/24 I[nfanterie]R[egiment] allein 67 Mann, 5 Off[iziere] Tote. Dabei haben wir durchs eigene Gas nach geringer Schätzung 70 Tote. Aussagen zufolge wäre der Angriff vom 3. bis zur Artillerie durchgedrungen, wenn der Gegner gewollt hätte. Ich glaube es nachgerade; denn wir sind viel zu schwach. 2 neue Divisionen sollen uns verstärken. Die schwere Artillerie fuhr teilweise in Stellung. /83 Schulmann + bei Marie-a-Py [am Rand:] am 31.8. R[egiments]G[eschichte S.] 198 Stehle + Haid + in Rumänien. Krauss Philipp [?] kam auf die bekannte Weise als Richtkanonier fast um sein Auge. Er ist im Laz[arett]. 14. 9. in Stellung Gesch[ütz]F[ührer] vom 4. [Geschütz] Morgens 6¼h Sperrfeuer. a) Sp[errfeuer] 53 Sch[uß] b) Unterstützung rechts 37 Sch[uß] c) Sp[errfeuer] 10 Sch[uß] d) langs[ames [?]] Sp[errfeuer] (alle Neun [?]) 25 Sch[uß] Das Gesch[ütz] hatte die meisten Sch[üsse]. Es war ein Hundewetter. Ohne Schuhe - die Pantoffeln blieben im Dreck stecken - rutschte ich mehr, als ich ging, zum Geschütz hinauf. Der Angriff ist abgeschlagen. Beim 24. R[egiment] soll der Gegner im 1. Graben sitzen. Die Angriffe wiederholen sich jetzt tagtäglich. Der vom 9. 9. steht im Bericht. Das 3. G[eschütz] hatte einen Rohrkrepierer. Doch /84 passierte nichts, da es ein Schr[apnell] war. 15. Abds. im Lager. Jetzt habe ichs besser. Bin gewillt, es darauf ankommen zu lassen. 20. Pferd auf die Weide führen. Dabei gelesen und geschrieben (Leibniz, Theodizee, Rebwitsch, Friedrich der Große) "Feldwebelwirtschaft", "Ein Studienbuch". "Der Sergeantenmuggl". 20. In Stellung. Regen. Am 1. [Geschütz] als Richtkanonier. G. F. Niederhuber. Harvolk, Eham (später Zeheter) 21. Abds. wurden Vorbereitungen getroffen zum Herausziehen des 4. G[eschützes]. 22. Morg[ens] ½ 5h kommt das 4. [Geschütz] ins Kaffeewäldchen hinauf, rechts vor uns. Wahrscheinlich soll eine Batt[erie] vorgetäuscht werden. In Stellung gibts ½ Kommiß. Essen vorzüglich. Inf[anterie]Tätigkeit gering, daher seit [Diens[?]]tag. kein Sperrfeuer mehr. Abds. schwere Besch[ießung] der 8. Batt[erie]. Gewaltige /85 Rauchentwicklung. Sonderbares Bild bei Sonnenuntergang. 23. Sonntag. Umg. [?] s. k. vorne. 24. Abds. 7h sehr starker Gefechtslärm links. I/II I[nfanterie]R[egiment] soll angegriffen haben (gewaltsame 27

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Erkundung). Angeblich - nach anderer Darstellung - soll das Sperrfeuer der Franzosen hervorgelockt worden sein. Vor uns wurde der Gegner durch Maschinengewehre niedergehalten. Wir standen in höchster Bereitschaft, schossen aber nicht. Die Nacht war lebhaft. Gegen 4 h rechts starke Artillerie. 25. Morg[ens] Nebel. Befehlsempfang in Berlin. Geg[en] 10 h - 12h andauernd m. k. und s. k. 300m vor uns bis zu uns. Die Splitter surrten und sangen und fielen häufig in den Graben. Im Unterstand wurde durch die Erschütterung ein Kerzenlicht fast ganz ausgeblasen. - Nachm. Schanzen an einem später zu bestimmenden Posten- und Blinkstationshaus. - Lese Zusammenbruch v[on] Hermann Bang. Ganz mein Streben! /86 Unsere Art[illerie] ist jetzt tätiger. 26. Abends 8h ein Stoßtruppunternehmen vor uns. Die Art[illerie] hatte Wirkungsfeuer auf verschiedene Punkte, das 2. und 3. [Geschütz] schossen mit. Das 1. und 4. (Kaffeewäldchen) sowie die 8. Batt. und noch andere, waren als Reserve fürs Sperrfeuer eingesetzt. Das Wetter war sehr klar, der Abend war ruhig. Schlag 8h begannen wir zu feuern. Ziemlich sparsam. Sofort begann das feindl. Sperrfeuer auf beiden Seiten. 15min blieben wir von feindl. Artillerie völlig verschont. Dann begann eine 15er Batt. in fast derselben Weise zu feuern wie am 25. Nach einigen Schüssen flammte im Kaffeewäldchen heller Feuerschein auf. [am Rand: Reg[iments]g[eschichte] 203] Das Munitionsdepot brannte! Bald darauf kam Miller gelaufen und schrie nach dem Sanitäter. Kircher war schwer verwundet, wenn nicht schon tot. Nach ½ 9h war das Unternehmen abgeschlossen, es wurde ruhig. Endlich kam bestimmte Nachricht von droben: Volltreffer im Geschützstand. Dabei fing die Handmunition zu brennen an. Kircher /87 hatte Posten. Er wurde an der ganzen rechten Seite schwer verletzt durch Splitter und Brand. Brennende Kleidungsstücke mußten ihm abgeschnitten werden. Um 9h hatte ich Posten. Der Brand dauerte fast bis 10h. Inzwischen brachten sie die Toten herab. -Die Sache war verraten worden. So kamen der 1. und 2. Stoßtrupp überhaupt nicht aus dem Graben. Der 3. kehrte zerrissen zurück; die Stoßtruppführer gefallen, alle anderen schwer oder leicht verwundet (tot keiner). St[oßtruppführe]r Freytag (8. Batt.) von der Art.Off. Patrouille schwer verwundet. 27. Vorm. Ruhe. Mittag einige schwere z. T. dicht hinter uns (Brisanzgas). Von 3 - 5 h Posten. Gegen ½ 4h setzte ein Wirkungsfeuer von 2 15cm-Batt[erien] auf uns ein, das in seiner Sicherheit fürchterlich war. Nach einer Stunde verteilte sich die Wirkung auf je eine Batt[erie] vor uns und hinter uns. Ich war, offen gestanden, auf das Allerschlimmste gefaßt. Dem Himmel sei Dank, daß es vorüberging. /88 Ich habe das Gefühl, als beginne von jetzt an unser Glücksstern zu verblassen. Gestern der erste Tote - und welch lieber Mensch mußte uns genommen werden! - Heut diese noch nicht dagewesene Beschießung. 28. Morg[ens] ½5h lebh[aftes] Feuer vorn. Ich blieb längere Zeit wach, es stieg jedoch keine Leuchtkugel. Bei dem Unternehmen sollen 17 gefallen sein. Der Tag ist geradezu ideal ruhig, dabei das Wetter überaus schön. Abds. ¾9h kam ein Flieger, der die Stellungen mit Maschinengewehr beschoß. Es war unzweifelhaft ein deutscher Apparat. 29. Seit gestern Gesch[ütz]Führer (Zeheter, Hartmann). Niederhuber im Wäldchen oben, Decker Verpfl[egungs]U[nter]O[ffizier]. Der Wacht[meister] und Konsorten wurden erwischt, da sie einen Schnapsballon an die Marke-tenderei verkauften. Hoffentlich wird nun der ganze Schwindel, der schließlich in der Errichtung dieses Kasinos gipfelt, aufgedeckt. In der letzten Woche war ein Gelage, das bis 4 h dauerte und bei dem sich die Kerle Bombenräusche ansoffen. Bier und /89 Schnaps gabs natürlich die Menge. (Die Mannschaft sieht nichts davon!) Soll man sich da nicht an die Stirn langen und sich fragen, wie das möglich ist in einer Batterie, die in gefährlicher Stellung eingesetzt ist!! Und soll man da nicht jedwede Lust verlieren, wenn man zurückkommt als Ruhe Heischender und dort nicht nur zu allen möglichen Arbeiten herangezogen, sondern auch noch zum Narren gehalten wird, noch dazu von solchen Kerlen? Armes Deutschland mit solcher Feldwebelwirtschaft! Völlige Ruhe auch heute. 30. Gest[ern] Ab[en]d kam Niederhuber wieder. Ich kann gleich auf Posten aufziehen. Das kommt mir immer vor, als würde ich durch einen Tritt auf den Hintern wieder ohne weiteres hinunter-befördert. Das ärgert mich

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jedesmal ganz gewaltig. - Das 3. u. 4. Gesch[ütz] kommen links vor zu einem Unternehmen (Vergasung von Batt[erie]). Der Abend wurde öfter gestört. Einmal zwei schwerste Kaliber nach Somme-Py hinein. /90 Anscheinend werden die 28cm Eisenbahngeschütze, die schon gegen Marie-à-Py schossen.Heut früh 520 h 75 Sch[uß] auf "Ludwig V." [(einige Wörter in Stenographie)]zu einem Unternehmen rechts. Vorm. 4 Stunden Posten. Ruhe. Schönes, jedoch etwas kühles Wetter. Die Luft ist dumpf und stumpf und verschluckt jeden Schall. Eindruck der Einsamkeit. Herbst. Von daheim 20 M geschickt. Brief Alfons' von seinem Herbsturlaub. 2. Okt. In der Batt[erie] gibt es wieder Ratten und Mäuse. Sie treiben sich ganz gemütlich herum. Man kann sie besonders nachts bei ihren Promenaden beobachten. 3. Morg[ens] ½6h schwerstes Feuer vorn. ¾6h Sperrfeuer. Andere Batt[erien] schossen nicht. Es war zweifelhaft. 21 Schuß. Wir bekamen Feuer. 6¼h Ruhe. Die Teile für die Panzertürme heraufgetragen. Mehr Panzerhaus von der Ferne.

Grundriß. 4. Ab. 8h Angriff von uns. - Regen. Den ganzen Tag heftiger Wind und Kühle. Es werden uns Fliegeraufnahmen von /91 Stellungen gezeigt, auch von unserer. Diese ist nicht gut als besetzt erkennbar, da die Zugangs-wege sich recht schwach abheben. Das zerrissene Gelände der Anna-Stellung (15er) ist sehr deutlich erkennbar. 6. Für heut früh war ein Unternehmen geplant. Bitterkalt, kalte Mondnacht. 3 h Aufstehen. 3h - 4½h Bereitschaft mit Hartmann am Gesch[ütz]. 713 - 733h 50 Schuß zu einem Unternehmen. Mehrere Batt[erien] schossen mit. Gegen 730 hatte uns der Gegner schon gefaßt. Schwere Kaliber, Flachbahn. Der erste links vor uns, der 2. ca. 40m weiter links. Ich hatte den Eindruck, wie am 5. Juni. Und wir waren noch nicht ganz fertig! Noch 2 Min.! Sie wurden zur Qual. Endlich konnten wir verschwinden. Nur nicht zu spät! 10m hinterm Gesch[ütz] auf dem Grabenwall. Wir meinten, er wäre unsers durch gegangen. Der Luftdruck war furchtbar. Dies war eine der ernstesten Minuten meines Lebens. - Um 3 h wieder dasselbe. Posten 4½ 7h. Fast wolkenlose Mondnacht. Ein starker, blitzender Reif legt sich auf alles. Die /92 Kälte fror dünne Eisplatten aufs Wasser. Das Unternehmen fand wieder nicht statt der Helligkeit wegen. Ich war froh wie einer, dem das Leben geschenkt wird, denn sobald wir zu schießen anfangen, bekommen wir wieder dieses präzise Feuer und wir können aufs Allerschlimmste gefaßt sein. - Es ist ein Angriff der ganzen Div[ision] geplant. Das Gasunternehmen der Gr[uppe] Seiglmayer fin[det] noch nicht statt. Unser Zug erzielt schon beim Einschießen einen Volltreffer auf eine der zu vernichtenden Batt[erien]. Die Gruppe umfaßt einen Zug 9/I, ½8/I, 1 Zug und ein Gesch[ütz] einer anderen Batt[erie]. [Rand-Anmerkung: "Waldzauber" R[egiments]g[eschichte] 203] Ich fürchte die kommende Nacht. Es geht ja um unser Leben! 7. Abds. scheußliches Wetter: 10 - 11h 30 Schuß von der bekannten 12er Batt[erie], plötzlich, unerwartet. 8. Vorm. etwas Sonne, aber kalt. Später Regen. Gegen 5 h erfahren, daß wir wegkommen. Teilweise bin ich froh darum, aber - wir kommen rechts von Marie-à-Py. Es kann vielleicht schlimmer werden mit der Arbeit, da die neue Stellung nicht ausgebaut sein soll. Abds. machten /93 wirs uns noch recht gemütlich im Unterstand. Die Post kam früh, fast jeder 2 Pakete. Ich Zwetschgen und eines vom 1. voll mit Butter, Gurke, Honiglebkuchen. Den [od. "Das"] ?ker von Ulrich bereitete ich ebenfalls zu. Es wurde großartig! Bis ½10 blieben wir auf. Die Luft war pechschwarz, stürmisch, regnerisch raserisch [?]! Unsere Stimmung war die allerbeste. 9. Aufstehen 8h. Feuer, vorm. Verm. [?] Zusammenrichten. ---12. Wie hat das alles so kommen können? Wie so schnell wechseln können? Doch ich will wie ein Chronist 29

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vorgehen. 9. Abds. ½9h kommen die Geschütze von 7/42 in Stellung. Geg[en] ½11h kommen erst unsere Protzen. Bei regnerischer, pechschwarzer Nacht gings dahin. Durch Marie-à-Py (grauenhaft verwüstet). Wir liegen südlich davon (1000m). Die Stellung [Randbem.: Stell[un]g Moritz] ist alt, völlig verfallen, nur noch Andeutungen von Geschützein/94 schnitten, zerfallnen. Unterstände nur 4 brauchbar. Wir werfen in die Finsternis unser Zeug herunter - und nun irgendein Loch suchen! Tatsächlich finden wir eines ganz links. Ohne Licht - nur Streuschutz eines müden [Lesung zweifelhaft] - Scheine [Lesung zweifelhaft] Lampe - um ½2 zum schlafen [!]. 10. Streng arbeiten. Der rechte Zug kann in Stellung gebracht werden. Kirche 20' weit weg bei Berlin. - Zeitweise lebhafte Feuertätigkeit. Schlich in den Unterstand beim Leutnant [Lesung zweifelhaft]. [Randbem.: R[egiments]g[eschichte] 205] 11. Nachm. Einschießen ganz rechts (11 Sch[uß]). 2 - 3, 3 - 4 Wirkungsschießen (44, 35). ½7 - 7 40 Sch[uß], 9h - 10, 1010 - 12h [eine Abkürzung unleserlich]. Allgemeine sehr starke Feuertätigkeit. 12. 5h auf. 6h - 7h Feuern. Gegen ½7h schlägt ein Geschoß ein, Wachtm[eister] Heinrich tot, Niederhuber, Hartmann, Finsterwalder verletzt, ich allein [Randbem.: R[egiments]g[eschichte] 205] /95 heil (Zeheter in Berlin). Ich Gesch[ütz]F[ührer], Egger, Loichinger J. Arbeiten bei dem Schmutz und Regen! Eine Quälerei, nicht mehr menschlich zu nennen. Starrend vor Schmutz, frierend, ohne gutes Obdach - wirklich entsetzliche Verhältnisse. 13. Wetter besser. - Geschlafen ganz rechts und sehr gut, bis 9 h früh. Dann arbeiten am Unterstand rechts vom Geschütz. In den Flügel rechts zieht ein Zug von einer 10er Langrohrbatt[erie] ein, wir also umquartieren. Ich nehme mich der Sachen Hartm[anns] und F[insterwalders] an. (Brief an sein Mädel usw.). - Abd. wurde der Unterstand fertig. Ein feiner Abend! Egger. Ein Paket, darin Marketenderwaren, einheizen, rauchen - so gemütlich wie am 8. Das entschädigt für das geradezu unglaubliche Leben drüben im Dreck. 14. Schlieper kam heraus. Unser Unterstand wurde fertig bis auf die Klappen. /96 Jetzt mußten wir alle zusammen links arbeiten und so konnte nur der untere fertig werden. Das ist aber fein! Bei Feuer und geröstetem Barras ists wunderbar gemütlich unten. Das Wetter ist jetzt gut, nachts kalt. Reif. Sehr geringe Feuertätigkeit. Tage voll Arbeit. Zum Schreiben komme ich fast nicht. Trotzdem bin ich kerngesund. 20. L[eutnan]t Schefold ist da. Der M[unitions-]Stollen beim 2. wurde fertig. Ich lese jetzt abends. Hyperion (Hölderlin). Fühle wieder einmal menschliche Regungen. Ablösung ins Lager. Nach 4½stündiger Irrfahrt langten wir endlich in einer stark kalten Nacht an. 21. 11h Aufstehen. Nachm. Entlausung. Im Soldatenheim u. der Hindenburg-Klause. /97 22. Zeug reinigen. Abends mit Krauß Phil[ipp] in Machault. Das Licht im Kino ging aus. In die Hindenburgklause, belegte Brote. Gemütliches Beisammensein. Interessante Unterhaltung. Heim 9 h. ("Ein Abend in Machault". "Und so gingen wir über die Felder bei dunkler Nacht und mein Freund sprach auf mich ein und mir war zumut wie einem Träumenden..."). 23. Vorm. ins Depot Max. ½5h Abfahrt in Stellung. Ungezogenheit des Wachtmeisters. Ank[unft] ½9. Fahrt bei Regen. Wagen fiel in Fahrrinne, ein Pferd stürzte dabei - recht abenteuerlich. - Ans 3. G[eschütz]. Beuter. Schlafen am Boden. 24. Es wird am 2. Ausgang gearbeitet. Abd. Birnkammer. 24. Mit Eham Wache. Unwirsch. 25. Schanzen am Arbeitsgeschütz. 27. Vorm. schanzen. Nachm. Ruhe. Wir kommen wieder in die alte Stellung.

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