Intuitionen in der Ethik - Buch.de

moralische Intuitionismus prinzipiell in der Lage ist, den Herausforderungen zu begegnen. Zugleich wird jedoch die bedingte Verteidigung des Intuitionis-.
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Burkard ·

Wenn wir in der philosophischen Ethik oder auch im Alltag moralische Urteile fällen, meinen wir, wenigstens in einigen dieser Urteile gerechtfertigt zu sein. Doch wie ist moralische Rechtfertigung möglich? So genannte intuitionistische Theorien wollen auf diese Frage eine Antwort geben. Der Kerngedanke intuitionistischer Ansätze besagt, dass unseren moralischen Intuitionen – verstanden als nicht abgeleitete moralische Urteile – eine legitime und unverzichtbare Rolle bei der moralischen Rechtfertigung zukommt. In der vorliegenden Studie werden intuitionistische Ansätze in verschiedenen, gegenwärtig prominenten Spielarten vorgestellt und einer systematischen Bewertung unterzogen. Die Autorin zeigt, dass die Ablehnung jeglicher Rückgriffe auf moralische Intuitionen unweigerlich zu einer radikalen Form der Moralskepsis führt. Zudem argumentiert sie dafür, dass zumindest einige gemäßigte Varianten des Intuitionismus in der Lage sind, den vielfältigen Herausforderungen zu begegnen, mit denen dieser sich konfrontiert sieht.

INTUITIONEN IN DER ETHIK

Schwarz schwarz 86% Pantone 3975

ISBN 978-3-89785-792-6

INTUI TIO NEN Anne Burkard

INTUITIONEN IN DER ETHIK

Burkard · Intuitionen in der Ethik

Anne Burkard

Intuitionen in der Ethik

mentis MÜNSTER

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zur Verfügung gestellt hat.

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© 2012 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN: 978-3-89785-792-6

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 9

1.

Intuitionen als Ausgangspunkt moralischer Rechtfertigung . . 15

1.1 1.2 1.3 1.4

Eine intuitionistische Minimalposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die systematische Pointe intuitionistischer Theorien . . . . . . . . . . . Der erkenntnistheoretische Schwerpunkt der Untersuchung . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.

Herausforderungen an den moralischen Intuitionismus . . . 57

2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Moralische Dissense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Zur philosophischen Bedeutung moralischer Dissense . . . . . . . . . . 61 Erklärungen für moralische Uneinigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Dissense zwischen epistemisch Ebenbürtigen außerhalb und innerhalb der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Zweifel an der Verlässlichkeit moralischer Intuitionen . . . . . . . . . . 89 Bedingungen für die Verlässlichkeitskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Verlässlichkeitseinwände auf empirischer Grundlage . . . . . . . . . . . 97 Konstruktive Wendung der Verlässlichkeitseinwände und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Walter Sinnott-Armstrongs Einwand gegen intuitionistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Entlarvende Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Was sind entlarvende Erklärungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Beschränkte Entlarvungsversuche und deren konstruktives Potential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Umfassende Entlarvungsversuche und Möglichkeiten ihrer Zurückweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.5

15 24 35 55

6

Inhalt

3.

Substantielle intuitionistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

3.1 3.2 3.2.1 3.2.2

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Moralische Intuitionen und Selbstevidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Selbstevidente Fundamente, Fehlbarkeit und Reflexion . . . . . . . . . 173 Bewertung von Robert Audis fundamentalistischem Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Spielräume des fundamentalistischen Intuitionismus . . . . . . . . . . . 192 Reliabilistischer Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Die Grundzüge der intuitionistischen Theorie Russ Shafer-Landaus: Selbstevidenz, Urteilskraft und Verlässlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Verlässliche Prozesse und moralische Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Schwierigkeiten mit der Identifikation verlässlicher moralischer Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Ressourcen des moralischen Reliabilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Intuitionen als seemings im Phänomenalen Konservatismus . . . . . 217 Die Grundzüge des seemings-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Bewertung von Michael Huemers Phänomenalem Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Moralische Intuitionen im Überlegungsgleichgewicht . . . . . . . . . . 244 Die Methode des Überlegungsgleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Eine kohärentistische Theorie moralischer Rechtfertigung . . . . . . 261 Schlussbemerkungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3

4.

Bleibende Zweifel? Grenzen und Perspektiven des moralischen Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

4.1

Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit moralischer Intuitionen und die Suche nach einer unabhängigen Bestätigung . . . . . . . . . . . 287 Alternative Reaktionsmöglichkeiten auf grundlegende Zweifel . . . 297 Perspektiven des moralischen Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

4.2 4.3

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Danksagung

Bei diesem Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im September 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Es ist wohl kaum möglich, mehrere Jahre an einer Dissertation zu arbeiten, ohne am Ende dieser Zeit in der Schuld unzähliger Menschen zu stehen. Wenn man dazu noch das Glück hatte, die Arbeit in einem so anregenden Umfeld wie dem Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin zu schreiben und in einen Sonderforschungsbereich eingebunden zu sein, der den nötigen Freiraum zum Forschen bietet, und wenn man schließlich so viele Kollegen, Freundinnen, Freunde und Familienmitglieder hat, die sich durch unausgereifte Textentwürfe kämpfen, dann muss die Liste der Danksagungen lang werden und zwangsläufig unvollständig bleiben. Für die kritische Lektüre von Kapitelentwürfen in diversen Entstehungsphasen und die hilfreichen Verbesserungsvorschläge zu diesen danke ich Philipp Brüllmann, Kajo Burkard, Jonathan Dancy, Marcus Düwell, Judith Enderwitz, Christoph Fehige, Guy Fletcher, Simon Gaus, Jan Gertken, Alex Gregory, Anna Herzog, Brad Hooker, Benjamin Kiesewetter, Kirsten Meyer, Andreas Müller, Marcel Müllerburg, Jan Prause-Stamm, Albert Rapp, Anita Renusch, Debbie Roberts, Katja Sandschneider, Katrien Schaubroeck, Stephan Schmid, Thomas Schmidt, Oliver Schott, Max Seeger, Philip Stratton-Lake und Bart Streumer. Teile des Materials, das in die Endfassung der Arbeit eingeflossen ist, konnte ich zudem zwischen Juli 2008 und März 2012 bei diversen Veranstaltungen in Bern, Berlin, Bremen, Buenos Aires, Göttingen, Leuven, Saarbrücken und Zürich präsentieren. Bei all diesen Gelegenheiten habe ich von den Teilnehmenden viele hilfreiche Anregungen bekommen. Neben den schriftlichen Rückmeldungen und offiziellen Diskussionsanlässen war der informelle philosophische Gedankenaustausch in den letzten Jahren von unschätzbarem Wert für meine Arbeit. Vor allem den Gesprächen im Kreis der Doktorandengeschwister am Lehrstuhl für Praktische Philosophie/Ethik der Humboldt-Universität und den Diskussionen im Kolloquium verdanke ich viele Einsichten und Denkanstöße. Besonders intensiv war der Austausch mit Jan Gertken im Rahmen unserer gemeinsamen Arbeit zu mora-

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Danksagung

lischen Intuitionen. Aus dieser Zusammenarbeit sind zwei Vorträge und ein Textmanuskript hervorgegangen, von denen sich Spuren im ersten Teil der Arbeit und in Kapitel 3.5 finden. Kapitel 2.3 stellt eine überarbeitete Fassung des gemeinsam verfassten Textentwurfs dar. Marcel Müllerburg danke ich für die unzähligen Gelegenheiten, bei denen er sich geduldig meine ersten Ideen angehört, mich mit kritischen Nachfragen angespornt und mit kreativen Vorschlägen weitergebracht hat. Zudem danke ich ihm für die große Hilfe bei der abschließenden Formatierung und dem Satz der Arbeit. Michael Kienecker vom Mentis-Verlag gilt mein Dank für die freundliche und effektive Zusammenarbeit bei der Vorbereitung des Manuskripts für die Publikation. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sowie dem Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ danke ich für die gewährten Druckkostenzuschüsse. Schließlich möchte ich meinem Doktorvater Thomas Schmidt für all die Unterstützung danken, die er mir von der ersten Projektskizze bis zur Fertigstellung der Dissertation geboten hat. Ohne ihn hätte ich diese Arbeit weder begonnen noch zu Ende gebracht. Berlin, Juli 2012

Einleitung

Ich bin überzeugt, dass ich der vor mir gestürzten Person meine Hilfe anbieten soll, die ich ihr leicht gewähren kann. Und ich meine, dass jeder, der in einer vergleichbaren Situation ist wie ich, dies tun soll. Ich glaube, dass dieses Sollen nicht bloß eine Forderung der Konvention oder der Klugheit ist, sondern denke, dass es moralisch von mir und anderen gefordert ist, in solch einer Situation Hilfe anzubieten. Ebenso bin ich überzeugt, dass es in den meisten Fällen moralisch falsch ist, einem Menschen gegen seinen Willen Schmerzen zuzufügen, solange dies nicht nötig ist, um ihn davon abzuhalten, anderen zu schaden. Von vielen anderen Handlungen glaube ich, dass sie in der Regel aus Sicht der Moral weder geboten noch verboten sind, sondern erlaubt: solche Handlungen, durch die niemandem Schaden zugefügt wird. Was aber rechtfertigt mich in derartigen Überzeugungen darüber, was Menschen moralisch gesehen tun sollen? Und können moralische Überzeugungen dieser Art überhaupt gerechtfertigt werden? Ansätze, die die Frage nach der Möglichkeit moralischer Rechtfertigung positiv beantworten und die Auffassung vertreten, dass moralische Intuitionen für diese Rechtfertigung eine legitime und unverzichtbare Rolle spielen, werden häufig als intuitionistische Theorien moralischer Rechtfertigung bezeichnet. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, diese Ansätze in verschiedenen, gegenwärtig prominenten Spielarten vorzustellen, sie mit grundlegender Kritik zu konfrontieren und einer systematischen Bewertung zu unterziehen. Intuitionistische Ansätze haben eine lange Geschichte in der philosophischen Ethik. Vorgänger gegenwärtig vertretener Positionen finden sich schon in der griechischen Antike. Insbesondere ethische Schriften von Platon und Aristoteles stellen bis heute Bezugspunkte für intuitionistische Ansätze dar.1 Viele besonders einflussreiche intuitionistische Positionen stammen jedoch 1

Vgl. beispielsweise Blum 1994, McDowell 1979/1989 und Vieth 2004 für systematische Positionen, die in enger Auseinandersetzung mit antiken Konzeptionen entwickelt wurden und dem intuitionistischen Lager zugeordnet werden können. (John McDowell distanziert sich an verschiedenen Stellen explizit vom moralischen Intuitionismus. Ich stimme jedoch Elizabeth Tropman darin zu, dass McDowell diese Distanzierung in der Entwicklung seiner eigenen Position nicht gelingt; vgl. Tropman 2010.)

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Einleitung

aus der britischen Philosophie des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert haben beispielsweise Francis Hutcheson, Thomas Reid und Lord Shaftesbury verschiedene Spielarten des moralischen Intuitionismus entwickelt, und wichtige Bezugspunkte für die Diskussion im 20. Jahrhundert stellen Arbeiten von George Edward Moore, Harold Prichard, David Ross und Henry Sidgwick dar. In den Details bestehen große Unterschiede zwischen den Ansätzen dieser Tradition. Während beispielsweise Hutcheson der Schule des Moral Sense zuzuordnen ist, der zufolge Emotionen oder Gefühle die Basis unserer moralischen Urteile darstellen, sind Ross und Moore wichtige Vertreter einer rationalistischen Auffassung, die in basalen Vernunfteinsichten die zentrale Grundlage der Moral sieht. Die genannten Autoren unterschieden sich auch maßgeblich hinsichtlich derjenigen moralischen Urteile, die sie als direkt durch intuitive Einsicht gerechtfertigt ansehen: Erkenntnistheoretische Intuitionisten können Monisten, Pluralisten oder Partikularisten in Bezug auf moralische Prinzipien sein, und auch tugendethische Ansätze lassen sich mit einer intuitionistischen Theorie moralischer Rechtfertigung verbinden. Das heißt, Intuitionisten können die Auffassung vertreten, dass uns moralische Intuitionen Einsicht in ein oberstes Moralprinzip oder in eine Vielzahl von Prinzipien geben (Sidgwick, Ross), dass sie uns allein in partikularen moralischen Überzeugungen (Prichard) oder aber in der moralischen Beurteilung von Charaktereigenschaften rechtfertigen.2 Darüber hinaus ist mit dem Modell des Überlegungsgleichgewichts (reflective equilibrium) in den letzten Jahrzehnten eine weitere wirkmächtige Konzeption zur Auseinandersetzung um moralische Rechtfertigung hinzugekommen. Diese ist bestrebt, den Rekurs auf Intuitionen in dezidiert holistischer Weise in das moralische Denken zu integrieren, indem sie moralische Intuitionen zwar als unverzichtbare Referenzpunkte identifiziert, zugleich aber deren Revidierbarkeit auf der Suche nach einem kohärenten Überzeugungssystem betont.3

2

3

Vgl. z.B. Audi 2004, Kapitel 1, Dancy 2010, Hurka 2011, Skelton 2010 und diverse Aufsätze in Stratton-Lake 2002a für Auseinandersetzungen mit intuitionistischen Positionen verschiedener Spielarten aus dieser Tradition. John Rawls hat dieses äußerst einflussreiche Modell unter dieser Bezeichnung in seiner Theory of Justice eingeführt. Er hebt dort jedoch die lange Tradition hervor, in die er sich mit dem Gedanken einreihe, dass Rechtfertigung (in der Moral und anderswo) maßgeblich mit dem Erreichen eines Gleichgewichts zwischen Überlegungen allgemeiner und partikularer Art zu tun habe (vgl. Rawls 1971/1999, bes. §9).

Einleitung

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Jenseits aller Unterschiede teilen die genannten Ansätze die Auffassung, dass der Rekurs auf moralische Intuitionen für die Rechtfertigung moralischer Überzeugungen angemessen und unverzichtbar ist, und sie alle fassen (vereinfacht gesagt) moralische Intuitionen als basale Urteile auf, die nicht aus anderen moralischen oder nicht-moralischen Urteilen abgeleitet zu werden brauchen, damit wir im moralischen Nachdenken legitimerweise auf sie rekurrieren können. Gegenwärtig findet insbesondere im Kontext der angelsächsisch geprägten Moralphilosophie eine rege Auseinandersetzung um das Für und Wider intuitionistischer Positionen statt, die mehr oder weniger stark an die genannte Tradition und die in ihr entwickelten Spielarten des moralischen Intuitionismus anknüpft. Zugleich bestehen wichtige Bezüge zwischen der gegenwärtigen Debatte um moralische Intuitionen und Auseinandersetzungen in anderen Bereichen der Metaethik, es finden sich aufschlussreiche Überschneidungen mit allgemeinen erkenntnistheoretischen Fragen sowie Bezüge zu Debatten um eine angemessene philosophische Methodologie.4 Abgesehen davon, dass die Frage, ob und gegebenenfalls wie moralischen Intuitionen eine Rechtfertigungsfunktion zukommen kann, für sich genommen von theoretischem Interesse ist, ist die Auseinandersetzung mit dem moralischen Intuitionismus insbesondere auch aus Sicht der normativen Ethik relevant. Denn die Legitimität der dort verbreiteten Praxis, zur Stützung oder Unterminierung einer ethischen Theorie bestimmte moralische Intuitionen anzuführen, scheint unmittelbar von der Akzeptabilität des moralischen Intuitionismus abzuhängen. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag zu diesem gegenwärtigen Debattenkontext innerhalb der moralischen Erkenntnistheorie und angrenzender Gebiete. Wenn ich im Folgenden die zentralen Grundgedanken intuitionistischer Ansätze herausarbeite und fundamentale Kritik an diesen diskutiere, ist es mir ein zentrales Anliegen, damit nicht lediglich eine weitere Stellungnahme zugunsten eines der Lager der bisweilen allzu polemisch ge4

Vgl. Bedke 2010 für eine knappe Darstellung einiger zentraler Stränge der jüngsten Auseinandersetzung um Intuitionen in der Ethik. Einen wichtigen Referenzpunkt der jüngeren Debatte um Intuitionen in der Philosophie im Allgemeinen, einschließlich ihres erkenntnistheoretischen Status’ und ihrer methodischen Funktion, stellen die Aufsätze in DePaul/ Ramsey 1998 dar. Für neuere Texte aus letzterem Debattenkontext siehe beispielsweise die Sonderausgabe von Philosphical Psychology: Experimental Philosophy and Its Critics, Parts 1 and 2 (Horvarth/Grundmann 2010).

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Einleitung

führten Auseinandersetzung zwischen moralischen Intuitionisten und ihren Kritikern zu liefern.5 Vielmehr strebe ich eine ausgeglichene Bewertung des Potentials des moralischen Intuitionismus an, die dessen theoretische Pointe ebenso ernst nimmt wie die diversen Schwierigkeiten, mit denen der Intuitionismus sich konfrontiert sieht. Zu diesem Zweck sollen sowohl der kleinste gemeinsame Nenner als auch das weite Spektrum, das intuitionistische Positionen abdecken, dargelegt und diese Positionen mit grundlegenden Herausforderungen konfrontiert werden. Ich werde dafür argumentieren, dass der moralische Intuitionismus prinzipiell in der Lage ist, den Herausforderungen zu begegnen. Zugleich wird jedoch die bedingte Verteidigung des Intuitionismus, mit der ich diese Arbeit beschließe, ausdrücklich die Grenzen dieser Auffassung von moralischer Rechtfertigung herausstellen. Zum Aufbau der Arbeit. Im ersten Teil der Arbeit erfolgt eine schrittweise Annäherung an das Untersuchungsthema. Dabei besteht das primäre Ziel darin, zentrale Charakteristika und das grundlegende philosophische Anliegen intuitionistischer Positionen zu skizzieren, um damit die Basis für die folgende Auseinandersetzung mit fundamentalen Einwänden und mit spezifischeren intuitionistischen Konzeptionen zu schaffen. Um das Untersuchungsziel der Arbeit näher bestimmen zu können, bedarf es zunächst der Klärung einiger zentraler Begrifflichkeiten, insbesondere des hier zugrundegelegten Intuitionsbegriffs und des moralischen Intuitionismus in einem minimalen Verständnis. Mit diesen Bestimmungen verbinde ich eine Reihe inhaltlicher Festlegungen, die Ausgangspunkte der weiteren Untersuchung darstellen und als solche zu erläutern und zu plausibilisieren sind. Auch werden zentrale Voraussetzungen intuitionistischer Ansätze benannt und Alternativen, gegen die diese Positionen sich wenden, grob umrissen. Schließlich wird der spezifische Fokus der 5

Stellungnahmen zum moralischen Intuitionismus, die in eine polemische Richtung gehen, finden sich, wie kaum überraschen kann, insbesondere auf Seiten der Kritiker (vgl. z.B. Blackburn 2006, 147f., Carruthers 1992, 102, Hare 1981, 12, Kitcher 2006, 175f., Steinfath 2003, 85 und Stemmer 2000, 4f. und 263f.). Doch auch auf Seiten der Befürworter finden sich Beiträge, die schon aufgrund ihrer Darstellungsweise kaum dazu angetan sind, Skeptiker zum Überdenken ihrer Haltung gegenüber dem moralischen Intuitionismus zu bewegen (vgl. z.B. Huemer 2005, Kapitel 9 und Roeser 2005, Abs. 4). Damit soll nicht bestritten sein, dass insbesondere innerhalb des letzten Jahrzehnts verstärkt Arbeiten zum Thema vorgelegt worden sind, die wesentlich ausgewogener ausfallen – oder dass die angeführten Autoren an anderer Stelle differenziertere Positionen zum Thema formuliert haben.

Einleitung

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vorliegenden Arbeit dadurch verdeutlicht, dass dargestellt wird, welche Fragen hier nicht oder nur am Rande behandelt werden und wie die Untersuchung sich in den weiteren metaethischen Kontext einfügt. Kernstück dieses ersten Teils der Arbeit stellt die Formulierung einer minimalen intuitionistischen Position dar, die einen zentralen Referenzpunkt der weiteren Untersuchung bildet. Der zweite Teil der Arbeit ist drei grundlegenden Herausforderungen gewidmet, mit denen sich der Intuitionismus als Theorie moralischer Rechtfertigung konfrontiert sieht. Das ist erstens die Herausforderung, die moralische Dissense für die Möglichkeit von im Rekurs auf moralische Intuitionen gerechtfertigten Überzeugungen darstellen. Zweitens wird die Herausforderung zu diskutieren sein, die diverse Hinweise auf die mangelnde Verlässlichkeit moralischer Intuitionen darstellen. Derartige Verlässlichkeitszweifel sind zwar keineswegs neu, doch haben sie in jüngerer Zeit in Form von empirischen Untersuchungen aus Psychologie, Neurowissenschaften und experimentell arbeitender Philosophie an Dringlichkeit gewonnen. Drittens wird die Möglichkeit moralischer Rechtfertigung insgesamt durch so genannte Entlarvungsversuche in Frage gestellt, die bestimmte Ursprungsgeschichten zur Unterminierung unserer moralischen Urteilspraxis anführen. Anliegen der Untersuchung dieses zweiten Teils der Arbeit ist es, die jeweiligen Herausforderungen als ernstzunehmende Infragestellung des moralischen Intuitionismus darzulegen und zugleich aufzuzeigen, dass und wie intuitionistische Positionen ihnen prinzipiell begegnen können. Im dritten Teil der Arbeit werden vier Spielarten von substantiellen intuitionistischen Theorien vorgestellt und diskutiert. Diese Varianten des Intuitionismus halten jeweils unterschiedliche Erklärungen dafür bereit, wie moralischen Intuitionen ihre vermeintliche Rechtfertigungsfunktion zukommen kann. Damit können sie, sofern sie erfolgreich sind, einer vierten grundlegenden Herausforderung gegenüber dem Intuitionismus entgegentreten. Dieser Herausforderung zufolge bleibt die Möglichkeit moralischer Erkenntnis im Rekurs auf Intuitionen obskur, so dass der moralische Intuitionismus auch dann noch inakzeptabel erschiene, wenn den übrigen Herausforderungen tatsächlich begegnet werden könnte. Ich diskutiere insbesondere die Ansätze Robert Audis, Michael Huemers, Russ Shafer-Landaus und Geoffrey Sayre-McCords in größerem Detail und frage, ob diese Theorien oder Varianten von ihnen jeweils der vierten Herausforderung begegnen können.

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Einleitung

Darüber hinaus wird zu fragen sein, inwiefern sich die im zweiten Teil der Arbeit vorgeschlagenen Strategien zur Reaktion auf die übrigen drei Herausforderungen in diese substantiellen intuitionistischen Theorien integrieren lassen. Im vierten und letzten Teil der Arbeit erfolgt eine abschließende Bewertung des Potentials intuitionistischer Theorien moralischer Rechtfertigung. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit einer Form der grundlegenden Skepsis gegenüber moralischen Intuitionen, die auch nach der Zurückweisung spezifischer Zweifel und der Präsentation der verschiedenen Varianten substantieller intuitionistischer Ansätze bestehen bleibt. Es wird zu zeigen sein, dass und warum es einerseits unangemessen ist, bestimmte Anforderungen an den moralischen Intuitionismus zu stellen und welche Ressourcen der Intuitionismus andererseits dennoch bietet, um den grundlegenden Zweifeln entgegenzutreten. Abschließend werde ich einen Rahmen skizzieren, in dem sich eine plausible, epistemisch bescheidene Variante des moralischen Intuitionismus in Anerkennung der aufgezeigten Grenzen verteidigen lässt.