Indonesien verstehen AWS

Kann man überhaupt von einer indonesischen Kultur sprechen? Indo- nesien ist ein Vielvölkerstaat, der aus über 300 ... Ausland trotzdem als eine einheitliche Kultur gesehen und das genau- so zu Recht wie zu Unrecht. Unterschiede treten .... Höher als materielle Güter werden Weisheit und spirituelle Vervollkommnung ...
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INTERKULTURELLE STUDIEN

|Band 11

Jutta Berninghausen

INDONESIEN VERSTEHEN Ein interkultureller Leitfaden

Jutta Berninghausen

Indonesien verstehen Ein interkultureller Leitfaden

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert: Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de

Interkulturelle Studien Band 11 Eine Schriftenreihe des Zentrums für interkulturelles Management (ZIM) Institut der Hochschule Bremen www.zim-bremen.com Herausgegeben von Prof. Dr. Jutta Berninghausen

IMPRESSUM © 2015, KellnerVerlag, Bremen • Boston St.-Pauli-Deich 3 • 28199 Bremen Tel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58 [email protected] • www.kellnerverlag.de Lektorat: Manuel Dotzauer, Klaus Kellner Satz: Meike Kramer, Insa Stroyer Umschlag: Designbüro Möhlenkamp Fotos: Wayan Alexander Ong: Titel, S. 1, 23, 44, 50, 73, 113, 124, 125 Jutta Berninghausen: S. 63, 77, 98 ISBN 978-3-95651-069-4

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis Einleitung Zum Kulturverständnis

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1. Interkulturelle Spannungsfelder zwischen Tradition und Moderne

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2. Leben in Indonesien

41 41 43 51 60 71 74

Hierarchie und Autokratie oder Demokratie und Gleichberechtigung? Geborgenheit in der Gruppe oder Selbstverwirklichung? Gefühlskontrolle oder Konfliktfähigkeit? Entscheidungen nach Regeln oder persönlichen Beziehungen? Ausblick Kulturschock In der Öffentlichkeit Zu Hause Liebe und Freundschaft Die Rolle der Frau Religion

3. Arbeiten in Indonesien

78 78 92 96 102 110 112

4. Umgang mit Konflikten

114 114 120 124

5. Das ABC Interkultureller Kommunikation in Indonesien

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Literaturverzeichnis

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Zusammenarbeit mit indonesischen Kollegen und MitarbeiterInnen Unterschiedliche Führungsstile Beziehungen mit indonesischen Geschäftspartnern Vetternwirtschaft und Korruption Frauen im Geschäftsleben Verhaltenstipps für das Geschäftsleben in Kürze Was ist ein interkulturell sensibles Verhalten Beispiele für Konfliktbewältigung in Indonesien Zusammenfassung

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Indonesien verstehen

Einleitung Kann man überhaupt von einer indonesischen Kultur sprechen? Indonesien ist ein Vielvölkerstaat, der aus über 300 verschiedenen Ethnien und Sprachen zusammengemixt ist. Jede dieser Regionen hat ihre eigenen Traditionen, Gebräuche und Eigenheiten. Viele Menschen in Indonesien sehen sich eher als BalinesIn, BatakerIn, Minang oder SundanesIn1. In Deutschland ist dies vielleicht vergleichbar mit dem Unwillen der Norddeutschen, sich mit den Süddeutschen vergleichen zu lassen, der Ostdeutschen mit den Westdeutschen oder sogar der Hamburger mit den Bremern, die mit einem räumlichen Abstand von nur 100 Kilometern manchmal unüberwindliche Distanzen hinsichtlich Lebensweise, politischer Meinung und Fußball festzustellen glauben. Auch wenn diese Unterschiede real existieren, werden »die Deutschen« im Ausland trotzdem als eine einheitliche Kultur gesehen und das genauso zu Recht wie zu Unrecht. Unterschiede treten umso stärker zutage, je näher man an einen Gegenstand heranzoomt, und erst aus der Ferne können Verallgemeinerungen gezogen werden, die natürlich einer Nahperspektive nicht mehr standhalten können (Bolten, 2013). Das Merkwürdige an Klischees ist ja, dass sie grob verallgemeinern und trotzdem meist einen wahren Kern beinhalten, im Einzelfall jedoch nur selten zutreffen. Für Außenstehende gibt es viele Ähnlichkeiten in dem Verhalten von Balinesen, Sundanesen oder Minangs, ungeachtet ihrer verschiedenen Religionen und Traditionen. Es kommt immer auf den Blickwinkel und die Feinteilung an, mit der wir auf die Situation blicken. Im Folgenden will ich daher zunächst einmal erklären, warum ich trotzdem den Versuch unternehme, von der indonesischen Kultur zu sprechen, um sie an einigen Stellen mit der Deutschen Kultur zu vergleichen.

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In diesem Text ist eine gendersensible Sprache realisiert worden. Aus Lesbarkeitsgründen wurde jedoch bei einigen Begriffen im Plural auf die Unterscheidung in eine männliche und eine weibliche Form verzichtet. So werden durchgehend die Begriffe »Indonesier« und »Deutsche« oder »Javaner« verwendet, die sich natürlich auf beide Geschlechter beziehen.

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Die Forschungen zum Thema der kulturellen Werte beziehen sich hauptsächlich auf die Insel Java. Javaner machen 60 Prozent aller Indonesier aus. Java hat in der indonesischen Kultur eine ganz besondere Stellung. Zum einen ist es die bevölkerungsreichste Insel Indonesiens. Zum anderen wurden Javaner unter der Zentralisierungspolitik Soehartos bewusst und systematisch als Regierungsbeamte auf alle Inseln Indonesiens verteilt, um die Regierungspolitik umzusetzen und javanische Werte zu verbreiten. Bis heute ist Java das spirituelle und politische Zentrum Indonesiens, Ursprung und Prototypus vieler ethischer Grundüberzeugungen, die sich in abgeschwächter Form in ganz Indonesien wiederfinden. Historisch kann man durchaus die gleichen Wurzeln des von hinduistischen Wertvorstellungen geprägten Archipels bis nach Malaysia verfolgen, denn die Jahrtausende lange Herrschaft mächtiger buddhistischer und hinduistischer Reiche reichten in ihrer Blütezeit bis nach Malaysia, so dass sich die Grundzüge ihrer ethischen Werte bis heute in diesem Raum wiederfinden. Auch die Islamisierung Indonesiens im 15. Jahrhundert konnte die hinduistischen Traditionen kaum abschwächen, war doch die indonesische Kultur seit jeher dafür bekannt, dass sie sich auch deshalb so gut gegen alle Fremdeinflüsse bewahren konnte, weil sie die neuen Einflüsse und Werte in ihre traditionelle Kultur aufnehmen und assimilieren konnte, ohne diese aufzugeben. Die hinduistischsynkretistischen Wurzeln wurden im Laufe der Zeit durch islamische oder westliche Einflüsse modifiziert und verändert. Indonesien ist heute zu 88 Prozent muslimisch, acht Prozent der Bevölkerung sind christlich und nur noch zwei Prozent hinduistisch. Die synkretistischen, hinduistischen Traditionen beeinflussen die indonesische Kultur jedoch immer noch genauso stark oder genau so wenig, wie das Christentum als ethische Wurzel unseres abendländischen Denkens gelten kann. Auch wenn die hier beschriebenen Werte im gelebten Alltagsleben nicht immer auf den ersten Blick sichtbar werden, meine ich doch, dass sie, zumindest in der Bildungselite aller indonesischen Ethnien, als Ideal weiterhin bestehen. Lange Zeit war Indonesien meine zweite Heimat. Insgesamt neun Jahre habe ich auf diesem faszinierenden Archipel verbracht, zunächst

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als Forscherin in einem kleinen Dorf in Zentraljava, zusammen mit meiner Freundin und Kollegin Birgit Kerstan, später dann zusammen mit meiner Familie in Jakarta und Bandung als entsandte Mitarbeiterin in Projekten der International Labour Organisation und des United Nation Development Programme für verschiedene indonesische Ministerien. Auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland war ich immer wieder mit Kurzzeiteinsätzen für verschiedene Entwicklungsorganisationen in Indonesien tätig. Gleichzeitig erschloss sich mir in Deutschland das damals noch relativ neue Feld der interkulturellen Forschung, und so konnte ich im Rahmen meiner Professur für Interkulturelles Management an der Hochschule Bremen die vielen interkulturellen Erfahrungen in Indonesien wissenschaftlich verarbeiten und interpretieren. In diesem Buch möchte ich auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen und wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Thema ein Verständnis für grundsätzliche Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen in Indonesien vermitteln, aber auch einen Blick auf die Konfliktfelder zwischen traditionellen Werten und modernen globalen Anforderungen werfen, mit denen Indonesier heutzutage umgehen müssen. Die Ausführungen werden mit vielen anschaulichen Beispielen hinterlegt. Ich gehe dabei davon aus, dass Kulturen keine statischen Gebilde sind, sondern aus dynamischen, sich ständig ändernden Prozessen bestehen, sich vermischen, überlappen und ihre Beschreibung natürlich immer eine grobe Verallgemeinerung darstellt. Dies beschreibe ich in dem Kapitel »Zum Kulturverständnis«. Mitte der 1980er-Jahre hatte ich während meines ersten Forschungsaufenthalts in Indonesien die Chance, in Jakarta den Jesuitenpater Franz von Magnis-Suseno kennen zu lernen. Es war eine Begegnung, die mich nachhaltig beeindruckt hat, denn wir sprachen über sein damals kürzlich erschienenes Buch »Javanische Weisheit und Ethik, Studien zu einer östlichen Moral«. Ein Buch, das mir die Augen öffnete für viele indonesische Verhaltensweisen, die ich bis dahin nicht verstehen konnte. Suseno erklärt darin das traditionelle javanische Moralverständnis, das die Aufrechterhaltung der Harmonie eines Kollektivs an erste Stelle setzt. Die Konsequenzen einer

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Handlung sind demnach im traditionell javanischen Denken wichtiger als die gute oder böse Absicht dahinter. Die Priorisierung von Höflichkeit und Konfliktvermeidung resultiert daraus. In welchem Spannungsverhältnis diese traditionellen Werte zum Teil mit neuen Anforderungen in einer globalen Wirtschaft stehen, möchte ich im nächsten Kapitel mit dem Titel »Interkulturelle Spannungsfelder zwischen Tradition und Moderne« verdeutlichen. Die beiden Kapitel »Leben in Indonesien« und »Arbeiten in Indonesien« sollen die Leser auf einen Aufenthalt in Indonesien vorbereiten, um das Einleben in dieses faszinierende, aber doch in vieler Hinsicht oft auch fremde Land zu erleichtern. Die Beschreibungen beruhen auf Erfahrungen aus meinem eigenen Leben in Indonesien, verknüpft mit Hintergrundinformationen und konkreten Verhaltensvorschlägen. Die Ausführungen sind in erster Linie an Menschen gerichtet, die einen längeren Aufenthalt oder Arbeitseinsatz in Indonesien planen, sind aber sicherlich genauso für Urlaubsreisende interessant. Wie man sich im Konfliktfall am besten und interkulturell sensibel in Indonesien verhält, thematisiert das Kapitel »Umgang mit Konflikten«. Hier werden zunächst einige hilfreiche Techniken der interkulturellen Kommunikation vorgestellt, die dann an zwei Beispielen aus meiner eigenen Berufspraxis erläutert werden. Das Buch schließt ab mit einem kleinen ABC interkultureller Kommunikationsregeln. Es sind Erklärungen und Tipps, die den Lesern das Überleben in Indonesien erleichtern sollen.

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Zum Kulturverständnis Kulturzugehörigkeit nimmt Einfluss darauf, wie Menschen ihr Leben organisieren, welche Problemlösungsstrategien sie anwenden, welche Art von Kommunikation sie pflegen und wie sie ihre Umwelt interpretieren2. Kulturelle Eigenheiten werden durch Lernen und Erfahrung erworben und befinden sich in einem permanenten Prozess der Veränderung (flow)3. Es ist Menschen relativ schnell möglich, Verhaltensweisen zu verändern, Urteile zu revidieren und sich anderen Normen und Regeln anzupassen. Die dahinterliegenden Werte und Glaubenssätze, die uns geprägt haben, die bestimmen, was wir für Gut und Böse, richtig und falsch halten, sind allerdings tatsächlich nur schwer und in langsamen Prozessen veränderbar. Oft haben daher Wertvorstellungen und Rollenideale einer Gesellschaft mit der realen, aktuellen Lebenswelt auf den ersten Blick nur wenig zu tun. So sehen viele Indonesier Konflikte zwischen den kollektivistischen, gemeinschaftsorientierten Werten ihrer Gesellschaft und ihren persönlichen, eher individualistischen Zielen oder Forderungen nach mehr Gleichberechtigung.4 Unsere kulturelle Identität ist ein Geflecht von vielfältigen kulturellen Prägungen, die ineinander verwoben sind. Gleichzeitig verwischen zunehmend die Grenzen zwischen der eigenen und der fremden Kultur, da viele Menschen infolge von Migrationsprozessen zu »kulturellen Mischlingen« geworden sind5. Allerdings neigen Menschen dazu, besonders in Konfliktsituationen die Extreme eines anderen Kulturprofils stark zu betonen oder gar negativ zu bewerten. Die Besonderheit einer Kultur wird nämlich erst dadurch manifest, dass Menschen sie als solche beschreiben. Indem sich Gruppen ihrer kulturellen Zugehörigkeit versichern, schaffen sie auch die Abgrenzungen zu anderen Kulturen. So kann es sein, dass sich Personen im Ausland stärker über ihre nationale Kultur definieren als in der Heimat und zum Beispiel erst in Indonesien merken, wie »deutsch« sie doch sind. 2 3 4 5

Geertz 1989, Hofstede 1997, Tormpenaars 1993, Thomas 2003. Vgl. Moosmüller, A., 2000: S. 24. Siehe dazu auch Berninghausen, J., 2004, S. 90 f., und Berninghausen 2006. Vgl. Welsch, W., 1995: S. 1–3.

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Unterschiede treten umso stärker zutage, je näher man an einen Gegenstand heranzoomt, und erst aus der Ferne können Verallgemeinerungen gezogen werden, die dann einer Nahperspektive nicht mehr standhalten können6. Natürlich gibt es große Unterschiede in den kulturellen Besonderheiten Balis, Javas und Sumatras; auch Westjava und Mitteljava sind sehr verschieden, wenn man genau hinschaut. Dennoch haben diese Regionen auch gemeinsame kulturelle Werte, die aus der Entfernung eine Verallgemeinerung rechtfertigen. Kultur kann mit der Form eines Eisbergs verglichen werden. Nur die Spitze ist auf den ersten Blick sichtbar. Die darunterliegenden Schichten erschließen sich dem Besucher eines fremden Landes erst nach und nach. Sie manifestieren sich auf verschiedenen Ebenen logischer Ordnung. Die tiefer liegenden Ebenen beeinflussen die darüber liegenden und umgekehrt. Die Strukturierung von Kultur in logischen Ebenen zeigt, wie die einzelnen Ebenen miteinander verwoben sind und sich aufeinander beziehen7.

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Bolten, 2013. Dieses Modell wurde von Robert Dilts, einem der Begründer der NLP-Methode (Neuro Linguistisches Programmieren), entwickelt (Dilts 1997). Es basiert auf den von Bateson beschriebenen Hierarchien des Lernens (Bateson 1985). Während Dilts es zur Beschreibung von Kommunikationsprozessen verwendet, habe ich es auf die Beschreibung von Kultur erweitert. Das Modell wurde auch beschrieben in Berninghausen und Hecht-El Minshawi 2009, S. 27 ff. und Berninghausen 2012 S. 11–18.

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Wenn wir nach Indonesien kommen, sehen wir zunächst einmal die sichtbare Umwelt, unsere Umgebung, die sich von unserem gewohnten Bild unterscheidet. Wir spüren die tropische Hitze, sehen die vielen Hochhäuser der Großstädte, den Verkehr, den Lärm, Gestank und die vielen Menschen um uns herum, aber auch Palmen und Blumen. Indonesien ist geprägt von einer ungewohnten Bevölkerungsdichte, dem krassen Gegensatz zwischen arm und reich aber auch von Naturkatastrophen durch die Nähe zum Meer und den vielen Vulkanen. Wunderbare alte Kulturdenkmäler stehen im Gegensatz zu modernen Großstädten, in denen alles nur auf Funktionalität und nicht auf Ästhetik ausgerichtet ist. Die riesigen Ausmaße der Metropole, das Verkehrschaos und Smog tragen weiter dazu bei, die Großstädte Indonesiens auf den ersten Blick wenig attraktiv erscheinen zu lassen. Die Wohlhabenden allerdings wohnen meist in abgeschirmten Wohnblocks in schönen und gepflegten grünen Oasen. Dann stellen wir fest, dass sich die Menschen auch anders verhalten, als wir es gewohnt sind. Sie gehen langsamer und lächeln mehr, auf den Straßen wird ständig gehupt und überall ertönt laute Musik. Berücksichtigt man das Klima und die Bevölkerungsdichte, kann man auch eher nachvollziehen, warum die Menschen in diesen Gegenden mehr im sozialen Kontakt zueinander leben, entspannter, freundlicher, aber auch langsamer und nicht so gehetzt wirken. Nach einer Weile erkennen wir vielleicht auch besondere Regeln und Strategien, die Menschen entwickelt haben, um ihren Alltag in ihrer besonderen Weise zu bewältigen. Die wichtigsten Regeln sind Gebote der Konfliktvermeidung, eine high-context-Kommunikation, die Forderung nach Selbstbeherrschung, Höflichkeit und dem Respekt vor Autoritäten. Aber auch die Gabe zur Improvisation und Flexibilität gehört hierzu. Gäbe es diese Regeln nicht, könnte das Leben auch nicht so entspannt und freundlich ablaufen wie oben beschrieben. Auffällig ist ferner ein weit verbreiteter Aberglaube, Angst vor Geistern und eine Religiosität, die danach trachtet, die bösen Kräfte zu besänftigen.

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Erst wenn wir tiefer in die Kultur eines Landes eintauchen, können wir erkennen, wie stark Verhalten und Strategien wiederum von Wertesystemen und einem spirituellen Kontext geprägt werden, die den Verhaltensstrategien ihren besonderen Sinn geben. Die tiefer liegenden Werte, welche die oben beschriebenen Regeln begründen, sind in Indonesien vor allem die Betonung der Harmonie, der Einklang mit dem Kosmos, die Einordnung in das hierarchische Gefüge der Gemeinschaft und der Familie, Geduld, Glaube an das Schicksal und Bescheidenheit. Höher als materielle Güter werden Weisheit und spirituelle Vervollkommnung bewertet.

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Interkulturelle Spannungsfelder zwischen Tradition und Moderne8 1939 stellten die Anthropologinnen Margret Mead und Ruth Benedict als Erste die These auf, dass alle Gesellschaften mit den gleichen Grundproblemen konfrontiert sind, die das Zusammenleben beeinflussen.9 Probleme, für deren Lösung grundsätzliche Entscheidungsprioritäten zur Verfügung stehen. Basierend auf dieser Annahme entwickelten WissenschaftlerInnen im Laufe des letzten Jahrhunderts Kategoriensysteme, nach denen die weltweit unterschiedlichen Wertesysteme eingeordnet werden können. Die drei bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet sind Edward T. Hall, Geert Hofstede und Fons Trompenaars. Sie haben kulturelle Unterschiede klassifiziert und sogenannte Kulturdimensionen entwickelt, die erklären, wie es in der Begegnung und Zusammenarbeit mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu Missverständnissen kommen kann.10 Die Dimensionen beschreiben jeweils zwei Pole eines Spektrums, in dessen Spannungsfeld menschliche Entscheidungen getroffen werden11. Sie sollten aber nicht als ein starres Regelwerk verstanden werden, das das Verhalten von Individuen vorhersagt. Vielmehr soll mit den Dimensionen ein Grundverständnis von unterschiedlichen kulturellen Werten vermittelt werden, um diese Erkenntnisse dann bei kulturübergreifenden Begegnungen beachten und nutzen zu können. So angewendet können sie ein hervorragendes Instrument sein, um eigene kulturelle Wertehaltungen zu ergründen und »eigenes« und »fremdes« Verhalten 8

Ein Teil dieses Kapitels ist einem Abschnitt aus Berninghausen et al. 2013, S. 63–81 entnommen. 9 Aus: Claudia Ruppert, 2010, S. 26, 27. 10 Hall 1976, Hofstede 1987, Trompenaars 1993. Die Kulturdimensionen haben sie in groß angelegten Studien verifiziert. 2004 wurden die Kulturdimensionen durch die GLOBE-Studie ergänzt, die Robert J. House mit einem multikulturellen ForscherInnenteam entwickelte. (House et.al 2004). 11 Das Konzept der Kulturdimensionen wird in der Wissenschaft inzwischen auch kritisiert. Eine Festlegung auf nationalkulturelle Eigenschaften, deren Unantastbarkeit durch die großen Studien suggeriert wird, geht von einem starren Kulturbegriff aus und begünstigt Stereotypenbildung.

1. Interkulturelle Spannungsfelder zwischen Tradition und Moderne

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zu erkennen und zu verstehen. Das Wissen um diese unterschiedlichen Wertehaltungen und Rollenerwartungen kann dazu beitragen, die Bildung von unreflektierten »Vor-Urteilen« in der Begegnung mit fremden Menschen zu verhindern. Nur wenn man weiß, warum Indonesier oder Deutsche in bestimmter Weise handeln und kommunizieren, kann man ihr Verhalten nachvollziehen und angemessen darauf reagieren. Es ist dabei wichtig zu beachten, dass sich gesellschaftliche Werte viel langsamer verändern als das reale Verhalten, das schneller an aktuelle Gegebenheiten angepasst werden kann. Beispiel 1: Indonesier gelten als ausgeglichen, freundlich und ruhig. In bestimmten Situationen, wie zum Beispiel im Verkehr, sind sie dies aber überhaupt nicht. Wenn man einen Indonesier allerdings fragen würde, wie das Ideal eines vorbildlichen Menschen aussieht, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit genau die erstgenannten Eigenschaften nennen. Beispiel 2: Auch sind längst nicht alle Deutschen pünktlich. Unpünktlichkeit wird jedoch gesellschaftlich eher negativ bewertet und die meisten Deutschen haben ein Unrechtsbewusstsein, wenn sie unpünktlich sind. Die Werte, die in Indonesien am stärksten mit neuen Rollenanforderungen einer vom Westen dominierten, globalisierten Industriegesellschaft kollidieren, betreffen den Umgang mit Macht, das Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe, den Umgang mit Gefühlen sowie die Unterschiede in den Kommunikationsregeln. Die indonesische Kultur ist traditionell kollektivistisch und hierarchisch strukturiert und basiert auf dem Prinzip der Gefühlskontrolle. Auch wenn seine Ausführungen zur javanischen Ethik bereits 30 Jahre zurückliegen, beweisen die Beschreibungen des Jesuitenpaters Franz von Magnis-Suseno ein tiefes Verständnis für die javanische Kultur. Mit diesem erklärt er die indonesischen Umgangsformen, die auch heute oft für westliche Gemüter fremd erscheinen.12 Ihm zu12 Magnis-Suseno, 1981, Javanische Weisheit und Ethik, Studien zu einer östlichen Moral, München, Wien, und 1989, Neue Schwingen für Garuda, Indonesien zwischen Tradition und Moderne, München.

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folge basiert das Ideal der traditionellen javanischen Ethik auf vier grundlegenden Geboten: • sich an die Traditionen seiner Gruppe zu halten, • traditionelle Formen der Höflichkeit einzuhalten, • sich respektvoll im Rahmen der gesellschaftlichen Hierarchie zu verhalten • und das Prinzip der Konfliktvermeidung zu befolgen. Durch die Einbettung in die Weltwirtschaft, den seit dem Sturz Suhartos begonnenen Prozess der Demokratisierung und die Revolutionierung des Kommunikationssystems durch den Anschluss an die weltumspannenden Netzwerke wird das Land mit neuen Anforderungen konfrontiert: Individualismus und freie Meinungsäußerung sowie nicht-hierarchische Mechanismen der Interessenaushandlung konkurrieren sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Handeln mit den traditionellen kollektivistisch-hierarchischen Strukturen. Auch in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen machen sich Veränderungen in der jahrhundertelang gelebten Ordnung, nach der der Mann das Oberhaupt der Familie ist, bemerkbar. Ich möchte im Folgenden den Versuch unternehmen, einige Grundwerte der indonesischen Kultur zu beschreiben und aufzeigen, wo diese Werte mit neuen Rollenerwartungen kollidieren. Hierarchie und Autokratie oder Demokratie und Gleichberechtigung? Wie eine Gesellschaft mit Machtunterschieden umgeht, das heißt, in welchem Ausmaß die schwächeren Mitglieder in der Gesellschaft die ungleiche Verteilung von Macht akzeptieren, wird in Kulturen unterschiedlich bewertet. Hofstede nennt diese Dimension Machtdistanz.13 Sie beschreibt den Grad der Ungleichheit in Bezug auf Macht, Einfluss, Status, Prestige und Reichtum. In Gesellschaften, die eine eher geringe Machtdistanz besitzen, werden starke Statusunterschiede oder strikter Gehorsam gegenüber Vorgesetzen eher abgelehnt. Eltern haben zum Ziel, ihre Kinder zur eigenen Willensbildung anzu13 Hofstede 1997.