Im Kino der nie gesehenen Bilder

meinten Ratschlag geben darf: Sollten Ihnen Ihre. Hundezeichnungen wichtiger sein als binomische. Formeln, wüsste ich eine geeignete Schule, an die ...
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    Bianca Kaletta   

Im Kino der nie gesehenen Bilder    Jugendroman    © 2010   AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt)   Quickborner Str. 78 – 80,13439  Berlin   Telefon.: +49 (0)30 565 849 410  Email:  [email protected]  Alle Rechte vorbehalten  1. Auflage 2010  Lektorat: Sabine Lebek, Berlin    Covergestaltung   Bianca Kaletta/Tatjana Meletzky    Printed in Germany   ISBN 978‐3‐86254‐040‐2         

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                  Alle Personen und Namen sind frei erfunden.   Ähnlichkeiten mit lebenden Personen   sind zufällig und nicht beabsichtigt.                             



Mit großen dunklen Augen sah der Hund sie an.  Er  hatte  seinen  Kopf  leicht  schräg  gestellt  und  blickte  Micha  vertrauensvoll  an.  Der  sanftmütige  Hundeblick ließ ihr Herz höher schlagen.    Aber  irgendetwas  stimmte  mit  seiner  Schnauze  nicht,  sie  war  einfach  schräg  und  krumm.  „Bock‐ mist!“,  fluchte  Micha  und  griff  wütend  zum  Ra‐ diergummi. Unzählige Versuche hatte es sie gekos‐ tet,  den  sprichwörtlichen  Hundeblick  auf  das  Pa‐ pier zu zaubern. Endlich hatte sie es jetzt geschafft,   aber die Form des Kopfes wollte einfach nicht pas‐ sen.  „Er  sieht  aus  wie  ein  treudoofer  Nasenbär“,  dachte  Micha  verzweifelt  und  ließ  ihre  Wut  an  dem unschuldigen Radiergummi aus.    „Mein  sehr  geehrtes  Fräulein  Zimmermann!“  Eine  Stimme  hinter  ihr  ließ  sie  zusammenfahren.  „Ich  bitte  vielmals  um  Entschuldigung,  wenn  ich  Sie bei der Fertigstellung Ihres für die Menschheit  ohne Zweifel wichtigem Kunstwerk störe. Aber Sie  würden  mir  eine  große  Ehre  erweisen,  wenn  Sie  meiner  bescheidenen  Person  und  dem  Rest  der  Klasse das Ergebnis dieser Matheaufgabe verraten  würden.“    Micha  sah  von  ihrer  Zeichnung  auf.  „Oh!“,  ent‐ fuhr es ihr zaghaft, als sie in zweiundzwanzig Ge‐ sichter blickte, die nicht weniger als 44 Augen auf 

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sie  gerichtet  hatten.  Wiedereinmal  hatte  sie  beim  Zeichnen rings um sich herum alles vergessen. Erst  jetzt  bemerkte  sie,  dass  auf  der  Tafel  eine  Mathe‐ aufgabe stand. Ein großes Fragezeichen hinter den  Zahlen  war  die  eindeutige  Aufforderung  des  Ma‐ thelehrers  Brenz,  die  Aufgabe  zu  lösen.  Ihr  schwante,  dass  nun  von  ihr  die  richtige  Antwort  erwartet  wurde.  Zumindest  sprach  die  Tatsache  dafür, dass neben ihr der Mathelehrer Brenz unge‐ duldig auf seinen Schuhen nach vorne und zurück  wippte. Dabei gaben die hochpolierten Lederschu‐ he ein knatschendes Geräusch von sich.   „Nun?“  ‐  knatsch,  knatsch,  Wipp  nach  vorne,  wipp nach hinten. „Ich warte!“ Knatsch, knatsch.   „Tja,  ähm,  einen  Moment  bitte…“  Micha  konnte  nicht  anders  –  sie  starrte  auf  die  Schuhe  des  Leh‐ rers und fragte sich, wer die wohl heute morgen so  gründlich  geputzt  haben  mochte.  Wer  macht  sich  bloß  die  Mühe  und  reinigt  einem  so  arroganten  Schnösel wie Lehrer Brenz es war die Schuhe?!?    Knatsch,  knatsch,  wipp,  wipp…  „Fräulein  Zim‐ mermann, sind Sie noch wach?“   Verhaltendes  Gekicher  aus  der  Klasse  erinnerte  Micha  schmerzhaft  daran,  dass  sie  in  diesem  Mo‐ ment ein ganz anderes Problem hatte. Es ging jetzt  gerade  nicht  darum,  wer  dem  Brenz  die  Schuhe 



poliert. „Ehrlich gesagt“, begann sie zögerlich und  holte dann tief Luft, „ehrlich gesagt habe ich keine  Ahnung.“    „Tja, das haben Sie wirklich und davon reichlich  –  reichlich  keine  Ahnung!“  Das  Knatschen  der  Schuhe hörte schlagartig auf und verwandelte sich  in ein entschlossenes Marschieren. Die Schuhe tru‐ gen  ihren  Besitzer  zum  Lehrerpult  und  ließen  ihn  dort  gebieterisch  zu  seinem  Notenbuch  greifen.  Micha brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzu‐ stellen,  was  er  dort  mit  seiner  energischen  Schrift  hinter ihrem Namen eintrug.   „Ich sage es ja äußerst ungern“, sagte Brenz fröh‐ lich.  Dabei  hatte  er  ein  ausgesprochenes  zufriede‐ nes  Grinsen  im  Gesicht,  so  dass  von  ungern  wohl  kaum  die  Rede  sein  konnte.  Theatralisch  tippte  er  mit  seinem  Kugelschreiber  auf  das  Notenbuch.  „Aber wenn das mit Ihren ewigen Tagträumereien  so  weiter  geht,  ist  Ihre  Versetzung  in  die  nächste  Klasse  ernsthaft  gefährdet.“  Mit  gespieltem  Be‐ dauern  schüttelte  er  den  Kopf.  „Tja,  mein  liebes  Fräulein  Zimmermann,  das  sieht  nicht  gut  für  Sie  aus,  gar  nicht  gut.  Wenn  ich  Ihnen  einen  gutge‐ meinten  Ratschlag  geben  darf:  Sollten  Ihnen  Ihre  Hundezeichnungen  wichtiger  sein  als  binomische  Formeln,  wüsste  ich  eine  geeignete  Schule,  an  die 

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Sie sich versetzen lassen sollten – die Hundeschu‐ le!“  Brenz  lachte  laut  und  dröhnend  über  seinen  eigenen  Witz.  „Bei  Fuß!“,  rief  er  und  lachte  noch  lauter.  „Bring  Stöckchen!  Hahaha!  Sitz!“  Grölend  schlug  er  sich  mit  der  flachen  Hand  auf  seinen      Oberschenkel.      Micha verdrehte die Augen. „Au weh!“, flüster‐ te  ihr  Banknachbar  Tommy.  „Jetzt  hat  er  dich  in  dieser Woche schon das vierte Mal erwischt!“    Leider  hatte  Tommy  recht.  Es  war  wirklich  das  vierte  Mal  und  das  war  in    einer  einzigen  Woche  sicherlich ein bisschen zu viel. Micha seufzte. Jetzt  half nur noch eines: Feste daran denken, dass heu‐ te  ja  endlich  Freitag  war  und  hoffen,  dass  es  bald  läutete. Micha wollte nur noch nach Hause.   Die letzten Minuten nutzte Brenz, um der Klasse  eine  Menge  Hausaufgaben  zu  geben.  „Ich  will  doch am Wochenende nicht das ganze Mathebuch  durchrechnen!“,  schimpfte  Tommy  leise  vor  sich  hin,  als  Brenz  gar  nicht  mehr  aufhören  wollte.  Doch  endlich  wurden  sie  erlöst.  „Nie  klingt  die  Schulglocke  so  schön  wie  am  Freitagmittag!“,  dachte Micha. Sie und Tommy packten schleunigst  ihre Sachen zusammen.    Stoffel  war  mal  wieder  schneller  als  die  beiden  und flitzte an ihrer Bank vorbei. „Jetzt ölt aber eure 



Socken,  nichts  wie  raus  hier!“,  rief  er  den  beiden  dabei zu. Micha und Tommy folgten ihm, sausten  schnell  die  Treppe  runter  und  verließen  das  Ge‐ bäude des Friedrich‐Schiller‐Gymnasiums.   Draußen  empfing  sie  ein  eisigkalter  Wind  und  als ob das nicht genug wäre, regnete es auch noch.  „Hallo, Herr Wettergott, man kann es ja auch über‐ treiben. Der April soll ja launisch sein – aber musst  du deine ganze schlechte Laune gleich an uns aus‐ lassen?“,  schimpfte  Tommy,  der  bei  dem  starken  Wind  mit  dem  Reißverschluss  seiner  Jacke  zu  kämpfen hatte.   Das  unangenehme  Wetter  störte  Micha  aber  nicht.  „Endlich  Wochenende!  Der  Brenz  mit  sei‐ nem  affigen  Getue  geht  mir  so  auf  die  Nerven!  Fräulein Zimmermann hier, Fräulein Zimmermann  da – Mann, wir sind gerade mal vierzehn und der  spricht uns nur mit Sie an!“   „Die größte Freude scheint es ihm ja zu bereiten,  uns mit seinen Hausaufgaben eine Vollzeitbeschäf‐ tigung  zu  geben!“,  schimpfte  Tommy.  „Ich  will  doch  noch  etwas  anderes  am  Wochenende  ma‐ chen,  als  an  meiner  Karriere  als  Mathematikpro‐ fessor  zu  feilen!  Pah,  Mathematik!  Brauch  ich  eh  nicht, ich werde schließlich Arzt.“     Micha  warf  ihrem  Freund  einen  nachdenklichen 

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Blick  zu.  „Aber  meinst  du  nicht,  dass  du  als  Arzt  gut rechnen können solltest?“    Tommy  zuckte  die  Schultern.  „Ach  was.  Mein  Vater  sagt  immer,  dass  man  als  Arzt  einfach  nur  immer  wissen  muss,  wer  einem  alles  richtig  aus‐ rechnen  kann.  Und  er  muss  es  ja  schließlich  wis‐ sen.“    So muss es wohl sein, dachte sich Micha im Stil‐ len. Zumindest hat diese Einstellung Tommys Va‐ ter Doktor Weiß nicht davon abgehalten, Chefarzt  im städtischen Krankenhaus  zu werden. So lange  sie zurückdenken konnte, wollte auch Tommy ge‐ nau  wie  sein  Vater  Arzt  werden.  Dass  Doktor  Weiß unzählige Überstunden in der Klinik machte,  am  Wochenende  oft  nicht  da  war  und  häufig  zu  den unmöglichsten Zeiten daheim angerufen wur‐ de  und  dann  in  die  Klinik  eilte,  störte  Tommy  nicht  im  Geringsten.  Er  wollte  Arzt  werden  und  nichts  anderes.    Und  dabei  kannten  sich  Micha,  Tommy und Stoffel schon seit dem Kindergarten.   Bei  Stoffel  war  das  ganz  anders.  Seine  Träume  fingen an beim Lokführer, dann wollte er Kapitän  auf  einem  riesigen  Ozeandampfer  werden.  Natür‐ lich tauchte auch der Wunsch auf, Pilot zu werden.  Wenn man Stoffel jetzt fragte, was er denn werden  möchte,  bekam  man  die  Antwort:  „Erfinder.  Ent‐

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weder  erfinde  ich  irgendeine  ganz  verrückte  Sa‐ che,  irgendwas  total  Abgefahrenes,  was  die  Welt  noch  nicht  gesehen  hat.  Oder…  oder  ich  erfinde  einfach einen neuen Beruf für mich.“    „Das  Trio“  wurden  sie  überall  genannt.  Im  Kin‐ dergarten  hatten  sie  immer  zusammengespielt,  unzertrennlich  waren  sie  in  der  Grundschule  ge‐ wesen und auch im Gymnasium gab es sie nur im  Dreierpack.  Nirgends  fühlte  sich  Micha  so  wohl  wie  in  Begleitung  ihrer  beiden  Freunde.  Erst  vor  kurzem  hatte  ihre  Mutter  sie  vorsichtig  gefragt,  warum sie sich denn so gut wie gar nicht mit Mäd‐ chen in ihrem Alter treffen würde.   „Ach  Mama,  das  ist  doch  furchtbar  langweilig!  Du  müsstest  mal  hören,  über  was  die  sich  so  un‐ terhalten. Da geht es nur darum, wer jetzt mit wem  geht,  wer  mit  wem  gehen  will  und  wer  von  wem  nichts  wissen  will,  warum  die  einen  zusammen  passen und die anderen nicht. Schrecklich!“    Ihre Mutter Anja hatte gelacht und gemeint: „Na,  jetzt übertreibst du aber. Es muss doch noch ande‐ re Themen unter euch jungen Mädchen geben!“    „Stimmt, Mama. Gut, dass du es sagst, sonst hät‐ te  ich  es  glatt  vergessen:  Gibt  es  diesen  Nagellack  auch in Altrosa oder Knallrot, wo ist der beste Fri‐ seur  und  wo  kauft  man  die  abgefahrensten  Kla‐

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motten. Nee, Mama, da werde ich spätestens nach  einer Stunde verrückt!“    Anja musste noch mehr lachen und meinte dann:  „Ist  ja  gut,  ich  gebe  es  auf.  Schließlich  weiß  ich  dich  bei  Tommy  und  Stoffel  gut  aufgehoben.  Um  euch  drei  haben  wir  uns  noch  nie  Sorgen  machen  müssen.“   Stoffel  war  ein  prima  Kumpel,  der  einfach  alles  mitbrachte,  was  ein  prima  Kumpel  eben  so  mit‐ bringen  muss.  Nur  eines  fehlte  ihm:  Körpergröße.  Stoffel hieß eigentlich Stefan, aber da er immer ei‐ nen  Kopf  kleiner  war  wie  seine  Altersgenossen,  wurde  er  Stoffel  gerufen.  Stoffel  störte  das  aber  nicht im geringsten: Was ihm an Zentimetern fehl‐ te, konnte er durch sein großes Mundwerk wieder  wettmachen.    Nun  lag  das  Wochenende  vor  den  drei  Freun‐ den.  Da  irgendeiner  von  ihnen  immer  eine  gute  Idee  hatte,  was  sie  unternehmen  könnten,  fragte  Micha  gutgelaunt:  „He,  was  wollen  wir  am  Wo‐ chenende anstellen? Hat jemand einen Vorschlag?“   Stoffel  nickte.  „Den  ersten  Vorschlag  hätte  ich  schon: Leute, genießt die Ruhe, denn sie wird nicht  ewig  währen.  Genauer  gesagt,  bis  um  die  nächste  Straßenecke.“    Mit  diesen  Worten  hatte  er  es  fast  geschafft,     

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Michas gestiegene Laune gleich wieder zu verder‐ ben.  Nach  der  besagten  Ecke  würden  die  drei  Freunde  an  der  Grundschule  vorbeilaufen  und  hier würde der neunjährige Fabian auf sie warten.  Von Mutter Anja liebevoll Fabi gerufen, von Micha  still  heimlich  „das  Brudermonster“  genannt  und  von Stoffel „Nervomat“ getauft. Tommy brachte es  mit  seinem  Namen  auf  den  Punkt:  „Klugschwät‐ zer“.    Wie  erwartet,  stand  Fabi  stocksteif  wie  ein  klei‐ ner  Soldat  auf  dem  Gehweg  vor  der  Berthold‐ Brecht Grundschule. Eigentlich könnte er von hier  aus ohne Probleme alleine nach Hause gehen. Auf  dem Nachhauseweg mussten keine lebensgefährli‐ chen  Straßen  überquert,  Flüsse  durchquert  oder  Wüsten  durchwandert  werden.  Die  Wahrschein‐ lichkeit,  von  einer  Straßenbahn  überfahren  zu  werden, war gleich Null – es gab zwar U‐Bahnen,  aber  keine  Straßenbahnen  in  Neustadt.  Die  Mög‐ lichkeit,  dass  Fabi  auf  dem  Weg  von  Kidnappern  gefasst  wurde,  war  auch  eher  unwahrscheinlich.  Micha  konnte  sich  beim  besten  Willen  nicht  vor‐ stellen, wer ihren kleinen nervigen Bruder freiwil‐ lig entführen wollte.    Wie  immer  saß  Fabi’s  Kleidung  perfekt,  er  sah  aus  wie  ein  Modell  in  einem  Katalog  für  Kinder‐

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bekleidung.  Auf  seiner  Nase  saß  eine  blitzblank  geputzte  Brille,  aus  denen  nun  zwei  Augen  den  drei Freunden  vorwurfsvoll entgegensahen.    „Ihr  habt  aber  gebummelt!  Jetzt  wird  es  Zeit,  dass  ihr  endlich  kommt.  Es  ist  nicht  gesund  für  mich, wenn ich bei dem nasskaltem Wetter so lan‐ ge  draußen  stehe.  Meine  Abwehrkräfte  sind  seit  der letzten Erkältung noch sehr geschwächt. Ruck‐ zuck bekomme ich einen Rückfall.“   „Oh  Mann,  Fabi,  halt  bloß  die  Klappe!“,  stöhnte  Micha.   „Es ist nicht nett von dir, wenn du so zu mir re‐ dest!“, maulte Fabi.   „Was  wollen  wir  denn  heute  anstellen?“,  ver‐ suchte Tommy abzulenken.    „Mathehausaufgaben“,  knurrte  Stoffel,  „die  will  ich  heute  machen,  ich  habe  echt  keinen  Bock,  am  Samstag und am Sonntag dranzusitzen.“   „Du  hast  recht  –  ich  werde  den  Bockmist  auch  heute machen. Dann habe ich es hinter mir“, mein‐ te Micha.   Fabi warf seiner Schwester einen vorwurfsvollen  Blick zu. „Bockmist?! Wie kannst du nur so etwas  sagen?  Mathematik  gehört  zu  meinen  Lieblingsfä‐ chern!“, meldete er sich empört zu Wort.   „Pah,  bis  auf  Sport  gehört  alles  zu  deinen  Lieb‐

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lingsfächern. Ich glaube, du würdest am liebsten in  der Schule wohnen!“, schimpfte Micha.   „Die Schule ist das wichtigste im Leben! Das sag  ich der Mama, dass du so schlecht von der Schule  redest!“, protestierte Fabian.   „Mann  o  Mann!“,  Stoffel  verdrehte  die  Augen.  „Fabi, weißt du, was flüssiger ist als Wasser?“   Fabi dachte angestrengt nach und runzelte dabei  die  Stirn.  „Flüssiger  als  Wasser?  Lass  mal  überle‐ gen,  wenn  man  dies  physikalisch  überdenkt,  an  die  Anordnung  der  Atome  im  Raum  denkt,  die  Anziehungs‐  und  Abstoßungskräfte  der  Elektro‐ nen,  die  Brown’sche  Molekularbewegung,  das  Verhalten  der  Sauerstoff‐  und  Wasserstoffatome,  …flüssiger  als  Wasser…“  Fabian  schaute  höchst  unglücklich  aus  der  Wäsche.  Es  gefiel  ihm  gar  nicht, dass er auf eine anscheinend wissenschaftli‐ che  Frage  keine  Antwort  parat  hatte.  „Ich  komme  einfach  nicht  drauf!    Das  ist  doch  unmöglich!  Es  kann  doch  keinen  Stoff  geben,  der  flüssiger  als  Wasser ist!“   „O  doch,  es  gibt  einen.“  Stoffel  tippte  Fabi  mit  dem Zeigefinger auf die Brust. „DU! Du bist über‐ flüssig!“   Fabi  schaute  verständnislos  drein.    „ICH  bin  flüssiger  als  Wasser?  Das  verstehe  ich  nicht.  Der 

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Mensch besteht ja zu fast achtzig Prozent aus Was‐ ser,  aber…“  „FABI!“,  Micha  verdrehte  die  Augen.  „Tu uns einen Gefallen: Sei still!“ Fabi schwieg be‐ leidigt.  Aber  seinem  Gesicht  war  anzusehen,  dass  er immer noch am Nachdenken war.   „Also, ich starte noch ein Versuch“, warf Tommy  dazwischen und versuchte so erneut, die Situation  zu  retten.  „Gibt  es  noch  etwas  anderes  als  Mathe‐ aufgaben und Fabis Umzug in die Schule, was wir  heute  machen  wollen?  Ich  habe  übrigens  sturm‐ freie  Bude  –  mein  Vater  ist  auf  einem  Ärztekon‐ gress und meine Mutter begleitet ihn. Sie kommen  erst spät am Montagabend wieder zurück.“   „Hmm“,  überlegte  Stoffel,  der  seine  Jacke  fester  um  sich  zog,  „bei  dem  lausigem  Wetter  gibt  es  nicht  allzu  viel,  was  wir  anstellen  können.  Da  schickt man ja keinen Hund vor die Türe.“ Sekun‐ den später ließ eine Idee sein Gesicht aufleuchten.  „Hee,  wie  wäre  es  denn  mit  Kino?  Waren  wir  schon eine Ewigkeit nicht mehr.“   Tommy  und  Micha  nickten  zustimmend:  „Stimmt  –  Kino  ist  eine  gute  Idee!“  „Was  läuft  denn gerade überhaupt?“, wollte Micha wissen.   „Uff,  keine  Ahnung!“,  Stoffel  zuckte  mit  den  Schultern.  „Irgendwas  Interessantes  wird  schon  laufen.  Das  übernehme  ich  gerne“,  bot  er  sich  an. 

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„ich  werde  daheim  mal  die  Kinoanzeigen  in  der  Zeitung durchforsten. Ich rufe euch dann an, wenn  ich weiß, wann wir in welches Kino gehen.“   Die  drei  waren  an  der  Kreuzung  angelangt,  an  der Stoffel nach rechts, Tommy nach links und Mi‐ cha und Fabi geradeaus in den Holunderbuschweg  gehen mussten.   „Ja dann, bis später!“, sagte Micha.    „Ja, bis später!“, sagte Tommy und nickte Micha  und Stoffel zu.   „Tschüß  und  –“    Stoffel  warf  einen  Seitenblick  auf Fabi, „ ‐ und viel Kraft!“   „Danke,  die  werde  ich  sicherlich  brauchen“,  knurrte  Micha.  Wieder  ging  ein  kräftiger  Regen‐ schauer herunter und der Wind frischte auf. Micha  fror  und  legte  einen  Gang  zu.  Fabian  schlurfte  langsam hinter ihr her. Genervt drehte sich Micha  um. „Fabi, jetzt mach mal voran! Mir ist kalt!“    „Warum  bin  ICH  flüssiger  als  Wasser?  Ich  ver‐ stehe das nicht!“, überlegte Fabi laut.   „Mensch,  Fabi!  Das  ist  doch  jetzt  egal.  Aber  ‚Wasser’ ist ein passendes Stichwort – wir werden  bis auf die Knochen durchnässt sein, wenn du jetzt  nicht endlich in die Gänge kommst!“   Dieses  Argument  verfehlte  seine  Wirkung  nicht.  Fabi schaute erschrocken auf.  „Oh je, meine Erkäl‐

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