III II II II 111111111111111

University, glauben, dass digitale Technologien viele stagnieren- ... formation werde zu einem System führen, das zwar nicht unbe- dingt der Logik der ...
1MB Größe 1 Downloads 718 Ansichten
»Bei der Frage des freien Willens zeigt sich schlief�lich, wie wichtig der Perspektivwech­ sel in Zeiten des digitalen Lebens ist. Das ist keine akademische Frage. In einer vorausbe­ rechneten und vorhergesagten Welt wird das zu einer Alltagsfrage der Menschen. Dabei ist es völlig egal, ob es einen freien Willen gibt oder nicht. Wichtig ist, dass wir an ihn glau­ ben. Ein Glaube, den uns kein Computer der Welt geben kann.Too-hungry-to-

eat"-Syndrom bezeichnet. Die ldee, dass die von diesen Start-ups angebotenen Dienstleistungen kostenpflichtig sein und wie jedes andere normale Geschäft auch behandelt werden sollten - was eine deutliche Abkehr vom oFreemium"-Modell darstellen würde, auf dessen Grundlage die meisten großen Plattformen operieren -, findet ihre technische Entsprechung in der umfassendenund sich rasch erweiternden Sensoren- und Zahlungsinfrastruktur, die hinter dem Internet der Dinge und der Smart City steht. Diese erlaubt es, sowohl die Nutzer als auch die Nutzung bestirnmter Dienstleistungen und Infrastrukturen zu identifizieren und den Nutzern entsprechend in Rechnung zu stellen. Es ist gut möglich, dass das Freemium-Mode1l, das von vielen als der Beginn einer humaneren und sozialeren Variante des Kapitalismus gefeiert wird, die angeblich besonders für die Armen von Vorteil ist, eigentlich nur ein vorübergehendes und sehr frühes Stadium der digitalen Transformation markierte. Schließlich entspricht eine Ökonomie ubiquitärer Gebührenerhebung, die sich nach der Dauer der tatsächlichen Nutzung sowie den aktueilen Marktpreisen ftir die Nutzung des jeweiligen Guts richtet, sehr viel eher vielen anderen Entwickiungen im Finanzkapitalismus der Gegenwart (ntcht zuletzt dem Aufkommen des Rentiers). Vor diesem Hintergrund erscheinen digitale privatisierte Sozialleistungen, von vielen als Beginn des Postkapitalismus gepriesen, dann als zwar radikale, deshalb jedoch auch nur vorübergehende

Abweichung von ihm. tWas aber ist mit Google, Facebook und dem Rest? Diese werden ihre bestehenden Geschäftsmodelle gewiss nicht aufgeben. Sollte man nun daher nicht in der Annahme gerechtfertigt sein, dass das Zeitalter der

Vorzügen

-

"Gratiskultur" mit seinen zahlreichen

die der Chefökonom von Alphabet, Hai Varian,

so zusammenfasst, dass sie den Armen vermittelt durch die Technik das z'tr Verfügung stellt, in dessen Genuss die Ober-

Evgeny Morozov

ro5

und Mittelklasse lange Zeit auf andere \X/eise gekommen war noch eine \üeile andauern wird? Hier ist aus guten Gründen Skepsis angebracht. Erstens sind die kostenlosen Vorzüge, die manche irrigerweise für eine neue Engste mit einem sehr spe-

Art von Sozialleistungen halten, aufs

zifischen Geschäftsmodell der Big Five verknüpft. Im Falle von Aiphabet und Facebook besteht es darin, \Terbemöglichkeiren zu verkaufen, bei Microsoft und Amazon im Verkauf von Software, Flardware oder anderen Gütern (bei Amazon besteht die \X/ohlfahrtsleistung nicht so sehr in der Bereitstellung kostenloser, sondern verbilligter Dienste - durch seine Größe ist das Unternehmen in der Lage, Produkte zu viel günstigeren Preisen als seine Konkurrenten anzubieten, ganz so, wie \X/almart es vorgemacht hat). Diese Aktivitäten und bisherigen Geschäftsmodelle gibt es noch immer, und sie werden aller Voraussicht nach auch noch eine \X/eile existieren. Dennoch bestreitet kaum jemand die

grundlegenden Veränderungen, zE denen es im vergangenen Jahrzehnt dank der beeindruckenden Fortschritte auf einem speziellen Gebiet der künstlichen Intelligenz, nämiich beim Maschinenlernen, gekommen ist. Diese Neuerungen kamen vor allem dadurch zustande, dass es große Technologiefirmen ersrens vermocht haben, Möglichkeiten zur Extraktion großer Darenmengen zu entwickeln, die häufig aus Aktivitäten stammen, die ihre ursprünglichen Geschäftsfelder nur am Rande berührten, und zweitens Millionen Nutzer ohne deren \Tissen dafür einzuspannen, ihre Systeme daraufhin zu trainieren, smarrer und autonomer zu werden. Alphabets selbstfahrendes Auto ist dafür ein gutes Beispiel: Dank der Fortschritte in der MappingTechnologie und der Verfügbarkeit äußerst detaillierter Informationen über geografische Orte können die Autos leicht ihren eigenen Standort ermittein, Routen berechnen usw. IJnd aufgrund der Fähigkeit, Objekte zu erkennen - die sich die Software von Alphabet aneignen konnte, weil zalJreiche Nutzer ihr

Big Tech und die Krise des Finanzkapitalismus

ro6

halfen, etwa Katzen und Hunde zu unterscheiden -, kann ein Auto mittlerweile angemessen reagieren, wenn es bestimmten Gegenständen begegnet. Amazon, Facebook und Microso[t, ganz zu schweigen von Alphabet, haben alle in Entwicklungen auf diesem Gebiet investiert und selbst nennenswerte davon hervorgebracht. Die Anwendungen solcher Technologien sind ailes andere als trivial, wie es zum Beispiel die Kooperation von Alphabet mit dem British National Heaith Service belegt: Dank seiner KI-Technologie, die durch den Erwerb von DeepMind noch einen weiteren Entwicklungsschub erfahren hat, kann Software von Alphabet beispielsweise frühzeitig Nierenerkrankungen erkennen. IJnd mit je mehr Daten sie gefüttert wird, desto besser sind ihre Prognosen. Von der Bildung bis zum Versicherungswesen, vom Energie- bis zum Bankensektor: Ganze Industrienund Sozialbereiche werden von der künstlichen Intelligenz transformiert. IJnd da die jüngsten Durchbrüche in der Kl-Forschung zum einen von riesigen Mengen extrahierter Daten und zum anderen durch Millionen Nutzer verursacht worden sind, die das System im Zuge der Verrichtung anderer Aktivitäten gelehrt haben, smarter zu werden, wird offensichtlich, dass die einzigen Akteure, die die Steuerung solcher Transformationen bewältigen können, die Big-Tech-Ilnternehmen sind. Das neue Modell ist klar: Diese Unternehmen eignen sich die aktuell wertvollste Ressource beziehungsweise die wertvollste Dienstleistung

künstliche und die Wirtschaft \Wege finden müssen, um diese Technologie in ihre Aktivitäten zu integrieren und sämtliche Bedingungen zu erfüllen, die die lJnternehmen stellen, auf die sie angewiesen sind. Für einen Konzern wie Alphabet, der bislang die FührungsIntelligenz

-

-

die

an, während die übrige Gesellschaft

rolle auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz innehat, eröffnen sich damit neue Geschäftsmodelle. Darüber hinaus bekommt er die Möglichkeit, sich aus Tätigkeitsfeldern zurückzuziehen, die

zunehmend kartellrechtlichen Re gulierungen unterworfen wer-

Evgeny Morozov

t07

den. \Während also die Europäische Kommission allmählich beginnt, die Macht von Alphabet zu begreifen, und gegen das Un-

ternehmen Strafzahlungen verhängt, weil es seine Dominanz im Bereich der Suchmaschinen missbraucht hat, um Produkte an den Kunden zu bringen, scheint diese Firma selbst zu glauben, dass sie die Internetsuche als Geschäftsfeld aufgeben sollte. Die Aussage, Alphabet sei im Suchmaschinen- oder \üerbegeschäft tätig, ist dahe r nicht ganz korrekt. In Wirklichkeit ist es auf dem

Sektor der Informationsprognose aktiv - und verfügt über viele weitere Möglichkeiten, sich bezahlen zu lassen, die nichts mit lX/erbung zr tnn haben und keine Suchbegriffe benötigen, um herauszufinden, worin unser jeweiliges Informationsbedürfnis besteht. Die \Tahrheit ist, dass Alphabet so viele Daten über uns gesammelt hat, dass der Konzernzu jedem beliebigen Zeitpunkt weiß, welche Informationen wir gerade benötigen, und es ist die

Fähigkeit dieses lJnternehmens, diese Informationen (durch die Verwendung von KI) auch zu n:utzen, die es zum nahezu unangefochtenen Vorreiter in diesem Bereich macht. Kein \üunder a1so, dass Alphabet unsere persönlichen E-Mails nicht mehr mitliest, um uns personalisierte tVerbung zu präsentieren; die Firma weiß längst schon alles über uns und kann auf diese zusätzlichen Informationen verzichten, die ohnehin nur ztZweifeln und Skepsis gegenüber Überwachungsmaßnahmen im Internet geführt haben. Kurz: Im Falle sich verschärfender rechtlicher Rahrnenbedingungen und/oder eines schrumpfenden weltweiten Werbemarkts (und/oder dann, wenn;'emand einen durchdachten lWerbeblocker erfindet, den Alphabet nicht sperren könnte) verfügt das Unternehmen noch immer über ein sehr robustes alternatives Geschäftsmodell, das darin besteht, Bürgern und Regierungen gleichermaßen KI-Dienstleistungen zu verkaufen. Sol1te ein soicher Kipppunkt erreicht werden, dann stünde Alphabet tatsächlich den Geschäftsmodellen der jüngsten Start-up-Generation viel näher, die keine kostenlosen Dienste mehr anbieten,

T08

Big Tech und die Krise des Finanzkapitalismus

Evgerry

Morozov

\og

sondern ihre Kunden einfach für deren Nutzung bezahlen lassen wollen, ob pauschal oder mengenabhängig (das ist z:umindest das Geschäftsmodell von Amazons nach Gewinnanteilen betrachtet lukrativster Geschäftssparte, nämlich dem Tochterunternehmen Amazon Web Services; dieses lässt sich von drittenlJnternehmen für die Bereitstellung von KI-basierten Diensten wie etwa Objekt- oder Stimmerkennung bezahlen). In einem bestimmten Sinne kann man natürlich an der Illusion festhalten, dass die auf Regierungen zugeschnittenen Dienstleistungen von Alphabet selbst dann, wenn ein Üb.rg"ng znKI-zentrierten Geschäftsmodell tatsächlich stattfindet, immer noch kostenlos bleiben und damit eine Fortsetzung des privatisierten digitalen \(/ohlfahrtsmodells darstellen würden. Dies wäre aber selbstverständlich eine Täuschung: Denn während die Patienten vielleicht noch nicht dazubereit waren, etwas dafür zubezahlen, dass sie von der Früherkennung von Nierenerkrankungen profitieren, die Alphabet dem Gesundheitssystem ihres Landes zur Verfügung gestellt hat, so werden sie als Steuerzahler doch mit Sicherheit für einige dieser Dienstleistungen aufkommen (müssen), da Alphabet diese nicht aus Gründen der Mildtätigkeit anbietet, jedenfalls nicht für alle. Ein solches Modell mag seine Vorzüge haben, doch sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass wir uns damit schon im Postkapitalismus befänden; eine solche Privatisierung des Gesundheitssystems liegt vielmehr genau auf der Linie des generellen T?ends zur Privatisierung und zur Ausweitung der Tätigkeiten von llnternehmen im Bereich der Sozialleistungen, der inmehreren entwickelten Volkswirtschaften auf beiden Seiten des Atlantiks zu beobachten ist (und der sich auf Kosten der Sozialleistungen vollzieht, die Bürgern angeboten werden). Natürlich haben wir es hier auch mit einer Transformation in einem allgemeineren Sinne zu tun: Mit der Konzentrarion von

ihren wohlfahrtsstaatsähnlichen Funktionen abhängig gewor-

künstlicher Intelligenz

den ist.

-

einer Vermittlungsinstanz, die künftig

wohl sämtliche Bereiche des Lebens und Regierens durchdrin-

wird - in den Händen einiger weniger privater (und vornehmlich amerikanischer) Firmen dürften wir auch zuZeugen eines enormen Verlusts von Verantwortung für und zivilgesellschaftlicher Kontrolle über wesentliche Teile der Gesellschaft werden. Die Big-Tech-Ilnternehmen befinden sich in einer äußerst beneidenswerten Lage: Sie haben fast zwanzrgJahrelang auf die unverschämteste Art und \feise und für wenig Geld Datenextraktivismus betrieben und sind jetzt an einem kritischen Punkt angelangt, an dem einige Akteure, darunter auch Regierungsinstitutionen, ihnen einigermaßen Konkurrenz machen könnten. Gleichzeitig haben sie es vermocht, viele staatliche Subventionen und militärische Forschungsmittel vom Pengen

tagon und diesem nahestehenden Institutionen einzuwerben, um ihre Fähigkeiten noch weiterzuentwickeln. Jetzt werden sie dazu übergehen, Regierungen und Steuerzahlern Produkte zu verkaufen, die mit ebenjenen Subventionen finanziert wor-

den sind - und das zu exorbitanten Preisen! Und das dürfte wohl kaum irgendeine Art von Übergang zum Postkapitalismus markieren. Jedenfalls hat es den Anschein, als sei das Narrativ von den großen Technologiefirmen, die uns retten werden, grundfalsch, denn es behandelt einige Geschäftsmodelle, die diese lJnternehmen nur kurzfristig und zeitweilig verfolgt haben, wie zum Beispiel die Bereitstellung stark subventionierter Dienstleistungen

mit dem Ziel

des Datenextraktivismus, als seien diese Modelle quasiessentielle Elemente der digitalen ökonomie. Letzrere ist

allerdings sehr dynamisch, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass der innerhalb dieser Industrie herrschende \X/ettbevrerbsdruck ihre wichtigsten Akreure nicht auch dazu bewegen könnte, von wohlerprobten Geschäftsmodellen Abstand zu nehmen, ganz gleich, wie sehr die Gesellschaft von diesen und

Die implizite Annahme, die vielen gegenwärtigen Auffassun-

I IO

Big Tech und die Krise des Finanzkapitalismus

gen von der digitalen Thansformation zugrunde liegt, lautet, dass jede Abweichung vom aktuellen kapitalistischen Modell auch

ein Schritt hin zu einem besseren, progressiveren und faireren System sein muss. Schließlich haben wir es mit Technologie zu tun, und Technologie bedeutet normalerweise Fortschritt. Solche Überzeugungen werden noch von der zusätzlichen Annahme bestärkt, dass digitale Technologien per se den Benachteiligten nützen würden, weshalb sie gerade bei der Überwindung von Hierarchien statt bei ihrer Festigung eine wichtige Rolle spielen würden und neue institutionelle Formen wie etwa Netzwerke dort durchsetzen könnten, wo bisher etne zentrale Macht geherrscht hat. Die s e Annahme s cheint jedo ch un gerechtfe r tigt zu s ein. Zwischen der Ausbreitung von vernetzten und digitalen Technologien auf der einen und der Stärkung neuer und alter Hierarchieformen (auch solchen sozialer Natur) auf der anderen Seite besteht offenbar kein inhärenter \Tiderspruch. Selbstverständlich kannman der Meinung sein, dass eine Plattformwie Airbnb irgendwie die Macht der Immobilieninvestoren brechen und für die einfachen Hausbesitzer von Vorteil sein wird, die nicht denselben Zugang zu finanziellen Mitteln haben wie jene. Doch während die s vielleicht am Anfang so gewesen sein mag, hat sich die Immobilienbranche mittlerweile bei der Nutzung von Plattformenwie Airbnb für die Stärkung und sogar weiteren Expansion ihres Einflusses auf dem Immobilienmarkt als sehr findig erwiesen; Airbnb selbst hat diese Entwicklung begrüßt und individuelle Deals mit Großinvestoren ausgehandelt. Ahnliche Fälle lassen sich überal1 finden; selbst das paradigmatische Beispiel der "Empfehlungsökonsrnis", durch die unser Platz in der Hackordnung der vernetzten Gesellschaft von unserem sozialen Kapital, der Stärke unserer VertrauensneLzwerke, unserer Ehrlichkeit und weiteren Eigenschaften abhängig gemacht wird, geht von der Vorauss etzvngaus, dass Kategorien wie "Klasse" obsolet geworden sind und daher in der Rangord-

-

Evgeny Morozov

III

nung der "Empfehlungsökonomie" nicht auftauchen werden, so dass weder unsere Familiengeschichte noch unser Reichtum unser ,'Ranking. irgendwie beeinflussen. Geht man allerdings weiterhin davon aus, dass unter ansonsten gleichen Ilmständen die Klassenzugehorigkeit die eigene Stellung in der Gesellschaft eben doch beeinflusst, dann wird man kaum um die Schlussfolgerung herumkommen, dass die "Empfehlungsökonomie" einfach nur eine clevere Methode ist, um bestehende soziale Hierarchien und Ungleichheiten zu perpetuieren (und vielleicht sogar zu verstärken), obgleich sie selbst diese Ilnterschiede als rein natürlichen - und daher völlig gerechtfertigten - Ausdruck unserer Stellung in der Geselischaft insgesamt ausgibt, die vermeintlich von unseren Fähigkeiten, unserer Ehrlichkeit usw. abhängig ist. Dank eines ausgefeilten Instrumentariums zur Sammlung von Daten in Echtzeit - ein Vorgang, der heute schon beginnt, wenn die Nutzer noch im Kindergartenalter sind - verfügt der gegenwärtige digitale Kapitalismus über die perfekten Mittel, um \Tetten aufs "Flumankapitaln - das heißt Menschen - abzuschließen und seine vielversprechendsten Vermögensgegenstände (die Hege und Pflege verdienen) von denen zu separieren, die hinter den Erwartungen zurückbleiben (und die eigentlich gar nichts verdienen und dem System letztlich zur Last fallen). Aus Sicht des digitalen Kapitalismus kann die \Wissensökonomie eine wunderbare Sache sein - nur dass es heute eben viel zu viele unproduktive Menschen gibt, als dass diese ökonomie wirklich ihr volles Potenzial entfaiten und zu nachhaltilem rVohlstand führen könnte. Und die Krise des Kapitalismus insgesamt ob man sie nun als "säkulare Stagnation< oder als eine noch fundamentalere strukturelle und vielleicht tödliche Fehlfunktion

kategorisiert - wirkt nicht gerade vertrauensbildend. Der Geist des Egalitarismus stellt, insofern er den sozialdemokratischen Kompromiss des Vohlfahrtsstaats mit seinen Grundbausteinen Solidarität, Anonymität und Fairness belebt, ein Hindernis für

Big Tech und die Krise des Finanzkapitalismus

II2

Art der sozialen Sortierung (und der unweigerlich mit ihr einhergehenden Hierarchien) dar, die stattfinden muss' bevor die \fissensökonomie von den humanistischen Ketten befreit werden kann, von denen sie seit Anbeginn gefesselt war. Natürlich: Das zo. Jahrhundert mit all seinem Grauen haben wir längst hinter uns gelassen, so dass kein \fleg mehr zu den alten, brutalen Methoden zurückführt, mit denen einer Gesell-

jene

schaft ihr egalitärer Geist zugunsten neuer Hierarchien ausgetrieben werden kann, ganz gleich, auf welchen Wertvorstellungen diese fußen mögen (aktuell scheinen ethnische Kriterien eher nicht infrage zu kommen). Die Konturen des neuen Gesellschaftsvertrags sind zwar noch nicht vollständig auszumachen, aber man kann bereits darüber spekulieren, was er umfassen wird und in welchem Maße er mit der strukturellen Transformation der entwickelten Volkswirtschaften vergleichbar ist, die sich in den dreißiger Jahren sowohl in einigen Demokratien (durch den New Deal beziehungsweise die Sozialgesetzgebung in den USA beziehungsweise Großbritannien) als auch in einigen Diktaturen (durch die korporatistischen Reformen in Italien und Deutschland) abgespielt hat. Zunächstist hierzu zu sagen, dass, anders als in den dreißiger Jahren,

a1s

keynesianische Maßnahmen zur Förderung von Voll-

beschäftigung breite Unterstützung in den wichtigen politischen Lagern gefunden haben, man heute nicht mehr realistischerweise von einer Rückkehr der Vollbeschäftigung ausgehen kann. Nach wie vor mangelt es zu sehr an Konjunkturoptimismus, um die Produktion anzukurbeln, während das Aufkommen der künstlichen Intelligenz es klarerweise unnötig macht, so viele Menschen wie bisher zu beschäftigen. Der progressivste Industriezweig - nämlich Big Tech - scheint dies bereits sehr gut verstanden zu haben, was erklärt, warum viele prominente Investoren in diesem Bereich zu lautstarken Verfechtern der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens geworden sind. Dass die Konzerne aus Silicon Valiey diese Idee unterstützen, dürfte

Evgeny Morozov

I IJ

auf der Hand liegen:,Schließlich beherrschen sie kaum etwas so gut, wie die eigene Steuerlast zu minimieren, so dass sie mit großer \ü/ahrscheinlichkeit nicht viel zur Finanzierung solcher am-

bitionierten Sozialprogramme beitragen würden. Dass die Konzerne aus dem Silicon Vailey das bedingungslose Grundeinkommen befürworten, ist darüber hinaus auch ein Indiz dafür, dass eine der bereits genannren Thesen dieses Essays korrekt ist::Die gesamte Technologieindustrie schwenkt von einer auf kostenlosen und massiv subventionierten Gütern und Dienstleistungen basierenden \flirtschaftsweise zu einem neuen Geschäftsmodell um, in der jedes Gut und ;'ede Dienstleistung komplett kostenpflichtig und die Preisgestaltung vielleicht sogar von der Zahlungskraft des jeweiligen Kunden abhängig ist. Und eine Ökonomie, in der uns eine mit zahlreichen

Sensoren ausgestarrete Infrastruktur flexible Preise in Rechnung stellt, die sich danach richten, welche Menge einer gegebenen Ressource wir genutzt haben, und vielleicht auch danach, vrie sehr wir dies genossen haben, setzt voraus, dass die Konsumenten auch wirklich über das nötige Geld verfügen, um all

jene Güter und Dienstleistungen bezahlen zu können - und dass dieses Geld nicht einfach aus neuen Schulden stammr. Anders formuliert: Aus der Perspektive der Risikokapitalgeber im Silicon Valley ist das Projekt des bedingungslosen Grundeinkommens, sobald es einmal mit einer von Rentiers dominierten \Tirtschaft verknüpft ist, die einen Großteil der den Alltag bestimmenden Infrastruktur beherrschen, eine fantastische versteckte Subvenrion für die Silicon-Valley-Unternehmen selbst.

Nunwerden solche Maßnahmen der öffentlichkeit natürlich nicht auf diese \fleise schmackhaft gemacht. Den Bürgern wird stattdessen etwaversichert, das bedingungslose Grundeinkommen sei eine tolle Idee, die uns für die Schrecken der Automatisierung und für all die von uns extrahierten Daten entschädigen könne. Solange diese Rhetorikdazubeiträgt, alle Arten vonpo-

t14

Big Tech und die Krise des Finanzkapitalismus

litischen Zusammenschlüssen zu unterdrücken, die die Frage nach dem Dateneigentum aufwerfen, bleibt ein solches Grundeinkommen aus der Perspektive von Big Tech ein wunderbares Giücksspiel, schließlich müssen die Technologiefirmen selbst nicht viel dafür aufwenden, dass es gespielt wird. So weit also die Rhetorik. Der eigentliche politische Schachzug sieht dagegen etwas anders aus. Zunächst einmal ist es offensichtlich, dass die meisten Entwürfe zu einem bedingungslosen Grundeinkommen ohne signifikante Anstrengungen zur IJmverteilung von Iü/ohlstand und Einkommen nur sehr schwer finanzierbar sein dürften. Sollten die diesbezüglichen Bemühungen scheitern, werden wir es voraussichtlich mit Konzepten ztt tun bekommen, die dieses Grundeinkommen auf bestimmte Gruppen von Bürgern einschränken wollen - was bedeutet, dass sie ihren Allgemeinheitsanspruch einbüßen werden' Denjenigen an der Spitze der neuen gesellschaftlichen Hierarchie - jenen also, die qualitativ hochwertige Daten produzieren oder innova-

tive Ideen zur '\flissensökonomie. beisteuern

- wird

es

mögli-

cherweise gestattet werden,Vertragspartei des neuen Sozialvertrags - des neuen New Deals - zu werden' Dies mag sich weit

weniger emanzipatorisch anhören, als es früher vielleicht einmal der Fall war, und das nicht zrletzt deshalb' weil wir zeitgleich mit der Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens für wenige eine Intensivierung des Rentierismus auf denübrigen Feldern der \flirtschaft feststellen werden, so dass ein Gutteil des an die Bürger ausgezahlten Geldes in Gestalt von Zahhtngen für elementare Güter und Dienstleistungen wieder in den Unternehmenssektor zurückfließen wird. \Was aber ist mit jenen am unteren Rand der sozialen Pyramide, die ailer \üahrscheinlichkeit nach nicht zu den Vertragsparteien der neuen gesellschaftlichen Vereinbarung gehören werden? Die Antwort darauf ist nicht so eindeutig. In den USA geht man mit diesem Problem seit den siebzigerJahren auf recht einfache Art und tWeise um: Man steckt mehr und mehr Menschen,

Evgeny Morozov

II'

vor allem aus den unteren sozialen Schichten und meist afroamerikanischer oder lateinamerikanischer Herkunf t, ins Gefängnis. Die Kosten dieser Strategie sind enorm, doch kann das Land so von billiger, fast kostenloser Arbeit profirieren, die in den Haftanstalten verrichtet wird. Es ist nicht klar, ob ein solches ökonomisches Kalküi

gik einmal

- von der dahintersteckenden politischen Lo, - tm Zeitalter künstlicher Intelligenz

abgesehen

immer noch aufgehen würde. Die einfachste Lösung bestünde darin, die Armen und Überflüssigen der Fürsorge der globalen technophilanthropischen Klassen zu überlassen; diese werden sich schon neue, innovative und letztlich private Lösungen für deren Probleme ausdenken. Eine davon, die ein bedeutender Hightech-Unternehmer und erklärter Trump-Anhänger propagiert, lautet: Man solle doch Virtual-Realiry-Brillen an die Elenden verteilen, mit denen sie auf ziemlich preiswerte \X/eise den ganzen Täg lang virtuelle Glückseligkeit und Freude erleben können... -Wie kann dieses neue System wachsen und die Reichen - die natürlich kein bedingungsloses Grundeinkommen und ersr rechr keine virtuelle Realität brauchen - noch reicher machen? Nun, es folgt einer ganz eigenen perversen Logik. Früher war es einmal so, dass es negative Auswirkungen auf die Wirtschaftstätig-

keit hatte, #enn man den Menschen lebensnotwendige Güter wie Nahrung, Obdach und Sicherheit vorenthielt. Der \flohlfahrtsstaat setzt in vielerlei Hinsichten auf diesem Grundgedanken auf; den Kapitalismus durch die Sozialisierung des Risikos zu stabilisieren schien der richtige \Weg zu sein. Heute herrscht allerdings eine andere Logik vor, gerade weil sich die technologischen Bedingungen so sehr verändert haben, dass die Bürger aus gestattet mit mächtigen digitalen Technolo gien und innerlich überzeugt von den grundlegenden Dogmen der höchst pragmatischen Ideologie der Selbsthilfe des Silicon Valley - bei der Suche nach Lösungen für ihre Not recht einfallsreich sein können. Und je schlechter ihre Lage ist, desto kreativer fallen die Lö-

rr6

Big Tech und die Krise des Finanzkapitalismus

Evgeny Morozov

sungsideen aus. Damit dieses System expandieren und weiter wachsen kann, müssen die Unternehmen einfach nur diesen Innovationsmehrwert abschöpfen und ihn auf profitable \Weise nutzen. \Wollte man die Weisheit dieses neuen digitalen Zeitalters in einem prägnanten Satz zusammenfassen, dann würde

er wahrscheinlich lauten: '\flarte nicht, bis die Regierung dir hilft - erstell deine eigene App!" Und mach dir nichts daraus, dass irgendwo irgendwer - höchstwahrscheinlich die Technologiefirma, die hinter der Plattform steht, auf der du deine App erstellst - von dieser auf eine \Weise profitieren wird, von der ihr eigentlicher Schöpfer nicht einmai zu träumen wagt. Dies ist der wesentliche Grund dafür, warum der Aufstieg von Big Tech und die Fortdauer der globalen Finanzkrise zusammengedacht werden müssen. Die in vielen entwickelten Volkswirtschaften anzutreffenden Austeritätsbestrebungen und die dadurch verursachten Kürzungen bei staatlichen Dienstleistungen und den Realeinkommen - bilden die Hauptursache dafür, dass Akteure wie Uber und Airbnb so starh expandieren konnten. \üenn ein bankrottes Städtchen irgendwo in Florida oder New Jersey sich kein annehmbares öffentliches Nahverkehrssystem leisten kann und stattdessen Subventionen an Uber bezahlt,um seinen Bürgern ein günstiges Verkehrsmittel anz:ubieten - welche anderen Möglichkeiten hätte es denn? Nach David Harvey ist die neoliberale Phase des globalen Kapitalismus von einer Logik gekennzeichnet, die er ',Akkumulation durch Enteignung" nennt; sobald sich das Vachstum verlangsamt, werden die Reichen dadurch reicher, dass die existierenden Ressourcen zuungunsten der Armenumverteilt werden. Der Aufstieg der Informationstechnologie hat diese Logik noch etwas weitergesponnen, insofern das Kapital durch die Enteignung der Ressourcen der Menschen und ihrer gleichzeitigen Versorgung mit hochkomplexen, aber allgemein verfügbaren Mitteln zur Selbsthilfe auch deren kreative Potenziaie erschließt, was die Menschen dann dazu mobilisiert, durch ihre Mitwir-

117

kung an Apps, Plattformen und anderen Gestalten der \flissensökonomie zur Erreichung seiner Ziele beizutragen. Das Kapital wächst also perverserweise selbst dann noch, wenn es die Armen durch lJmverteilung ihrer Ressourcen beraubt. \Wie sollte also unsere vorläufige Einschätzung dieses neuen gesellschaftlichen und politischen Deals ausfallen? \üas seine Grundlagen angeht, scheint er durchaus "postkapitalistisch< zu sein: Ein großer Teil der Arbeit wird automatisiert, an die Stelle des Arbeitslohns als sozialer Institution tritt ein bedin,

gungsloses Grundeinkommen, und die Armen und Schwachen durchlaufen nicht mehr die Institutionen des Sozialsraats, sondern sollen ein von virtueller Realität konstiruierres High-TechIlniversum bevölkern, in dem sie nicht einmal mehr als Menschen behandelt werden. \X/er kreative Fähigkeiten besitzt, wird selbst dann, wenn er ein bedingungsloses Grundeinkommen be-

zieht, dauerhaft vom System herausgefordert, so dass er sich aus Art von Notlage herausinnovieren kann - was all jene noch

jeder

reicher macht, denen die Mittel der Heilsbringung gehören. Darüber hinaus bilden sich wieder Hierarchien heraus, auch wenn wir sie "Netzwerke" und "Empfehlungssysteme< nen-

nen, wenn wir über sie sprechen. Dass dieses neu entstehende System postkapitalistisch ist, bedeutet nicht, dass es nicht auch neofeudalistisch wäre, mir Big-Tech-Unternehmen in der Rolle der neuen Vasallen, die fast jeden Aspekt unseres Lebens kontrollieren und zugleich die Rahmenbedingungen des politischen und gesellschaftlichen Diskurses festlegen. Aus Sicht eines normalen Bürgers - also nicht eines Angehörigen des einen Prozenrs - ist das neue System höchst problematisch, aufgrund seines Inegalirarismus, aber auch aufgrund seiner \Willkürlichkeit und Beliebigkeit. Solange man die Existenz der "Überschuss-Bevölkerung