Heilige Gräber

Nürnberg 1665,. Staatsbibliothek zu Berlin .... Jerusalem«, die 1665 gedruckt in Nürnberg erschien. ... und Eifer in uns gegen Christo zum Gebet und Christ-.
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Heiliges Grab – Heilige Gräber

Kultur- und Museumsstandort Heiligengrabe • Band 4 Schriftenreihe Museum Europäischer Kulturen • Band 15

Ursula Röper und Martin Treml (Hg.)

Heiliges Grab – Heilige Gräber Aktualität und Nachleben von Pilgerorten

Lukas Verlag

©  Lukas Verlag und Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz Erstausgabe, 1. Auflage 2014 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D–10405 Berlin Umschlag: Lukas Verlag unter Verwendung einer Abbildung aus: Salomon Schweigger: Neue Heraus gegebene Reißbeschreibung nach Constantinopel und Jerusalem […], Nürnberg 1665, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Reprographie und Satz: Susanne Werner Druck: Elbe Druckerei Wittenberg Printed in Germany ISBN 978–3–86732–171–6

www.lukasverlag.com www.smb.museum www.museumsshop.smb.museum www.klosterstift-heiligengrabe.de

Inhalt Hermann Parzinger

Geleitwort

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Ursula Röper / Martin Treml

Einleitung: Zur Aktualität heiliger Gräber

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Faszination des Grabes Christi

Daniel Weidner

»Er ist nicht hier, denn er ist auferstanden« Das leere Grab der Evangelien lesen

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Jürgen Krüger

Jerusalem – Rom – Santiago Drei Pilgerziele im Vergleich

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Thomas Benner

Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898 Bemerkungen zur religionspolitischen und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung des deutschen Kaisertums

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Pilgersehnsucht

Hartmut Kühne

Kreuzwege, Heilig-Kreuz-Kapellen und Jerusalempilger im Raum der mittleren Elbe um 1500

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Lothar Lambacher

Reliquien im Welfenschatz als Zeugnisse von Pilgerschaft und Politik

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Konrad Vanja

Heilige Berge – Fromme Wege Eine motivgeschichtliche Annäherung zur Frage nach dem ›richtigen‹ Lebensweg des Menschen

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Nachleben von Pilgerorten

Martin Treml

Blutiges Totengedenken, Hostienfrevel und die Juden

Ruth Slenczka

Luthers Grabplatte als ›protestantische Reliquie‹

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Ursula Röper

Heiliges Grab – Barockes Theater?

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Heilige Gräber

Lucia Raspe

Heilige Gräber bei den deutschen Juden des Spätmittelalters

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Maryam Palizban

Heilige Gräber in Ray. Aus dem Raum des Todes für den Zuschauer, oder: Wie der Zuschauer zum Darsteller wurde

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Giorgi Maisuradze

Das Pantheon als Heroengrab ›Alle Götter‹ zwischen Universalismus und nationalem Partikularismus

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Sigrid Weigel

Die Lehre des leeren Grabes Begründungen der deutschen Kulturnation nach 1871 und nach 1989

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Autoren Bildnachweis

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Geleitwort

Als Ende Oktober 2004 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung »Maria – Königin der Polen – Annäherungen an die polnische Volkskunst« die auf zehn Jahre angelegte Zusammenarbeit zwischen dem Kloster Stift zum Heiligengrabe und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vertraglich geregelt wurde, geschah dies mit dem Ziel eines gemeinsamen langfristigen kulturellen Engagements im Land Brandenburg. Drei Jahre zuvor hatten die beiden Vertragspartner gemeinsam mit dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg und der Union Evangelischer Kirchen und mit finanzieller Unterstützung durch die Ostdeutsche Sparkassenstiftung für dieses Projekt die Initiative ergriffen. Als Ort einer ständigen Kooperation im Rahmen des Föderalen Programms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, einer vom Bund und den Ländern gemeinsam geförderten Einrichtung, stand Heiligengrabe nach dem Christian-Daniel-RauchMuseum in Arolsen damit an zweiter Stelle dieser Zusammenarbeit mit den Ländern der Bundesrepublik, denen weitere gefolgt waren. Vier Jahre später, im Herbst 2008, konnte mit der Ausstellung »Sehnsucht nach Jerusalem – Wege zum Heiligen Grab« der dafür in langjähriger Arbeit frisch restaurierte Ostflügel der Abtei des Kloster Stift im Glanze seiner vielhundertjährigen Geschichte neu eröffnet werden. Alle Einrichtungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz haben zum Gelingen dieser Ausstellungskooperation beitragen: Neben der umfangreichen ökumenisch-vergleichenden Sammlung von Gertrud Weinhold »Das Evangelium in den Wohnungen der Völker« aus dem Museum Europäischer Kulturen waren Leihgaben des Kunstgewerbemuseums, der Kunstbibliothek, der Skulpturensammlung und des Museums für Byzantinische Kunst aus dem Bereich der Staatlichen Museen zu Berlin sowie der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz vertreten. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat von Anbeginn diese erfolgreiche Kooperation im Rahmen ihres Föderalen Programms sehr gerne unterstützend begleitet.

Geleitwort

Es war für uns zudem eine großartige Möglichkeit, mit unseren Einrichtungen am Kulturleben des Landes Brandenburg vielfältig teilnehmen zu können. Der Ausstellung ist 2009 der wissenschaftlich begleitende Katalog gefolgt, der das inhaltliche Spektrum dieser Präsentation umfänglich erweiterte und zugleich die Besonderheit des Brandenburger Klosterstandortes in den zeit- und religionshistorischen Kontext einordnete. Mit zwei Fachtagungen zum Ausstellungsprojekt »Sehnsucht nach Jerusalem – Wege zum Heiligen Grab« wurde ein weiterer und neuer Weg in der Erschließung dieses kulturellen Kleinods von Brandenburg eingeschlagen, den wir von Seiten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz für besonders wichtig erachteten: Es war die an der aktuellen Forschung orientierte Begleitung von Ausstellungen durch wissenschaftliche Kolloquien. Mit den Tagungen »Pilgersehnsucht – Die Prignitz als Ausgangs- oder Durchgangsort für Pilger« (5.–7. März 2010) und »Heiliges Grab – Heilige Gräber – Aktualität und Nachleben von Pilgerorten« (2.–3. April 2011) wurden zusätzliche Aspekte der Thematik in den Blick genommen, die weit über den historischen Ausgangsort in Brandenburg hinausreichen und in vieler Hinsicht bis heute aktuell sind. Es handelt sich zum einen um die Erforschung des Pilger- und Wallfahrtswesens in seiner europäischen Dimension und zum anderen um die Bedeutung von Heiligen Gräbern für die Konstituierung von Gemeinwesen. Die Beiträge dieser von der Ausstellungskuratorin und Religionswissenschaftlerin Dr. Ursula Röper gemeinsam mit der Äbtissin des Klosters, Dr. Friederike Rupprecht und dem ehemaligen Direktor des Museums Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin, Prof. Dr. Konrad Vanja, sowie 2011 mit dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Prof. DDr. Sigrid Weigel und Dr. Martin Treml, initiierten Konferenzen werden nun mit diesem Tagungsband der Öffentlichkeit vorgelegt. Sind nicht gerade Ausstellungsvorhaben wie diese darauf angewiesen, kommentiert und in ihrem Gehalt durch neuere Forschungen erweitert zu werden? Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz weiß um diese

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Notwendigkeit und hat sich deshalb mit allen ihren Institutionen für diese Forschungsaufgaben engagiert. Ein herzlicher Dank gilt allen Beteiligten in Heiligengrabe, Potsdam und Berlin für die Unterstützung dieses Projektes und dieser Tagungen. Besonders danke ich der Kulturstiftung der Länder, die diese Tagungen möglich gemacht hat. Unser Dank ist verbunden mit

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dem Wunsch für ein weiteres erfolgreiches Wirken an diesem gewichtigen und traditionsreichen Standort im Land Brandenburg, das die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gern weiterhin unterstützt. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Parzinger Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Geleitwort

Einleitung: Zur Aktualität heiliger Gräber Ursula Röper und Martin Treml

Der Nürnberger Kaufmann Salomon Schweigger begab sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit einigen Adligen auf die weite und abenteuerliche Reise von Franken über Konstantinopel nach Jerusalem. Darüber verfasste er seine detailreiche »Neue Heraus gegebene Reißbeschreibung nach Constantinopel und Jerusalem«, die 1665 gedruckt in Nürnberg erschien. Darin erläuterte er seine Erlebnisse auch mit vielen Holzschnitten, aus denen wir die Titelabbildung für unseren Band auswählten. Schweiggers Bericht zeigt, dass in der jeweils eigenen Religion nicht nur die kulturelle Identität erschaffen und gefestigt wird, sondern dass diese auch Vermittlungen zu den benachbarten Religionen leistet, etwa durch Pilgerreisen, vor allem wenn sie in die Fremde führen. Schon die Kreuzzüge in das von den Sarazenen beherrschte Palästina und zu den christlichen (aber auch jüdischen und muslimischen) heiligen Stätten stellten einen Kulturtransfer her, der sich freilich im Zeichen der Gewalt ereignete. Im Verlauf dieser ›heiligen Kriege‹ verloren Tausende ihr Leben, doch wurden auch Jerusalem und die christlichen Königreiche samt ihren Feinden in eine bleibende imaginäre Topographie des Orients im Okzident eingezeichnet, die seither ein wunderbares Reich der Schätze wie der Gräuel bildet. Darum sind die Kreuzzüge kulturwissenschaftlich nicht einfach als eine Serie von kriegerischen Eroberungen und kolonialen Übergriffen anzusehen, sondern eben auch als komplizierte Transformationsprozesse zu verstehen. Anders lassen sich hingegen die Pilgerreisen interpretieren, die ebenso von säkularer Abenteuerlust und religiöser Pflichterfüllung erfüllt sind, interkulturelle Prozesse aber in vergleichsweise friedlichen Bahnen verhandeln. Dazu zählt auch Schweiggers Reise, wenngleich diese mehr auf die christlichen Unterschiede und deren konfessionellen Übersetzungen ausgerichtet ist. Ihren Höhepunkt und zugleich Schlusspunkt bildete der Besuch der Grabeskirche in Jerusalem. Doch um sie betreten zu können, waren einige Hürden zu überwinden. So lag der Schlüssel zur Kirche schon damals und noch

Einleitung: Zur Aktualität heiliger Gräber

heute in der Hand und unter Verwaltung einer muslimischen Familie. Schweigger erzählt in seinem Buch, dass er und seine Gefährten sich über die Mönche der römisch-katholischen Kirche anzumelden hatten, um zum Heiligen Grab gelangen zu können. Als die Reisenden vom »Guardian« der Mönche daraufhin gefragt worden waren, ob sie aus Gründen der Andacht oder aus landeskundlichem Interesse das Heilige Grab besuchen wollten, war ersteres für sie unbestritten. Für die Mönche des Franziskanerordens war es selbstverständlich, dass die kleine Pilgerschar zur Vorbereitung ihres Besuches beichtete, das heilige Sakrament der Buße empfing und am Abendmahl teilnahm. Damit allerdings begannen ihre Schwierigkeiten, da sie sich dazu als Evangelische außer Stande sahen. Aus deutschen Landen stammend schienen sie den katholischen Römern ihre Konfession verheimlichen zu müssen. Welchen Grund aber sollten sie vortragen, um glaubwürdig vor den Mönchen, vor ihren Familien zuhause und vor sich selbst die Teilnahme an katholischen Riten ausschlagen zu können und doch den Besuch des Heiligen Grabes nicht zu gefährden? Nach langer Diskussion einigten sie sich auf eine »List«, wie Schweigger uns überliefert, mit der »vor dieser Zeit andere der Evangelischen Lehr zugewandte […] bey den München wären mit gutem glimpf davon kommen« und zwar, »daß sie erdichter Weiß fürgeben, wie ihnen diese Reyß gen Jerusalem von ihren Beichtvätern, ihrer schweren begangenen Mißhandlung (Totschlag eines Freundes) halb zur Buß wär auferlegt worden (weshalb sie möchten) auch des H. Abendmals und der Absolution nicht ehe theilhaftig werden, denn nach vollbrachter Pilgerschaft«. Dem Guardian also wurde diese »ehrliche Lügen, die ohne des Nechsten Schaden und Nachtheil abgehe« höflich vorgetragen, der »ließ uns auch dabey, sagend, daß er wider solch Fürgebe nichts können und wollen fürnehmen«. Nachdem diese Hürde genommen und die Besuchsgebühr entrichtet war, gelang der Besuch des Heiligen Grabes zeitgleich mit vielen anderen Menschen unterschiedlichen Glaubens, wie der Berichterstatter

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uns ausführlich wissen lässt. Zugleich stellten sich die »ehrlichen Lügner« die Frage, ob das Heilige Grab wirklich das echte Grab Jesu sei. Auch die Gründe ihres Zweifels können wir ausführlich nachlesen. Als aber die Evangelischen das Heilige Grab betraten, geschah folgendes: »Das Heilig Grab bedünckt mich aber kein erdicht Heilthumb, sondern in Warheit das Grab Christi sey in Ansehung, daß dasselbig ohne Schrecken und ohn entsetzen von niemand, es seyen Christen oder Türcken, mag gesehen werden. Denn als ichs gesehen, gieng ich nit (mit) der Gestalt hinein, als hielt ichs für das Grab CHRISTI, sondern wie alle andere Heilthumb mir verdächtig waren, als wann es nur erdichte Heilthumb, oder Geltnetz, also auch diß. Als ich aber hinein kam in das Gewelb kam mich und auch die Herrn aus der Gesellschaft ein solche Forcht und Schrecken an, daß uns alle Härlein gen Berg stunden und uns bedünckt, wir schwebten zwischen Himmel und Erden, ja als wären wir von der Erden verzuckt, es erweckt auch ein solch herzliche Andacht und Eifer in uns gegen Christo zum Gebet und Christlicher Dancksagung, daß über allemassen ist«. (S. 299) Angesichts einer solchen Ergriffenheit verwundert es selbst heute nicht, dass die evangelische Pilgerschar die niedrige Tür zum Heiligen Grab Christi auf Knien durchstolperte, wie der ausgewählte Holzschnitt zeigt. Auch in späteren Zeiten akuter Skepsis, ja Feindschaft gegenüber den großen, etablierten Kirchen – wie schon der Protestant Schweigger gegenüber der Papstkirche in Rom und ihren Filiationen im Morgenland zum Ausdruck bringt– hat das Heilige Grab in Jerusalem, haben heilige Gräber überhaupt und selbst in ihrem säkularen Nachleben nichts an Anziehungskraft verloren. Fromme Pilger, die aus Gründen der Andacht reisen, mögen heute durch landeskundlich (und kulturgeschichtlich) Interessierte zunehmend ersetzt werden, die heiligen Orte und Gegenstände bleiben. Sie vermögen es, weiterhin eine Aura zu erzeugen, die sich zugleich sehr gut eignet, Aspekte einer Faszinationsgeschichte der Religionen und ihrer materiellen wie spirituellen Kulturen aufzuzeichnen und zu diskutieren. In der kulturwissenschaftlichen Forschung wurde Religiöses wie Pilgerschaft, Bilderverehrung, Konversion und noch anderes mehr lange Zeit nicht oder nur als Problemfälle ›fremder‹ Kulturen diskutiert und nicht als auch der eigenen Religion zugehörig wahrgenom-

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men. Doch eignen sich diese »symbolischen Formen« – wie der Philosoph Ernst Cassirer solche kulturellen Zeichen mit Deutungsanspruch genannt hat – nicht nur für Diskurse von Wahrheit und Identität, sondern vielmehr auch für Untersuchungen der Vor- und Nachgeschichte von Bild-, Text- und Verhaltensmustern gerade aktueller Debatten: von der um das Kopftuch oder den Karikaturen bis hin zu derjenigen der Beschneidung. Sie sind alle Beispiele der »konfliktreichen Genese kultureller Deutungsmuster ebenso wie deren Durchsetzung in der sozialen Interaktion«, so Sigrid Weigel in ihrem Beitrag. Symbolische Formen der Religionskulturen sind jedenfalls vielfach Gegenstand von Verhandlungen, manchmal auch Kampfzonen, ebenso wie sich die ihnen eigenen Ordnungen bei genauerer Betrachtung als niemals selbstverständlich, sondern immer als auf komplizierte Weise hergestellt erweisen. Der oben mehrfach zitierte Bericht von Salomon Schweiggers Pilgerfahrt zum Heiligen Grab in Jerusalem war eines der Bücher, die in der Ausstellung »Sehnsucht nach Jerusalem. Wege zum Heiligen Grab« im Kloster Stift zum Heiligen Grabe in den Jahren 2008–11 zu sehen war. Diese Ausstellung (mit Begleitband) erfolgte im Rahmen einer Koproduktion des Museums Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin im Rahmen des Föderalen Programms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit dem Kloster Stift. Die Leitfrage dieser Ausstellung galt der Überlegung, wie der Ort im Norden Brandenburgs, mit seinem im 13. Jahrhundert gegründeten ehemaligen Zisterzienserinnenkloster zu seinem Namen kam. Das Heilige Grab in Jerusalem als Referenzort war unschwer auszumachen, doch welche historischen Linien verbanden die beiden christlichen Orte? Schweiggers Bericht macht eindrücklich deutlich, dass eindimensionale Deutungslinien ein Verstehen des heiligen Ortes in Jerusalem eher verhindern als ermöglichen. Die Präsenz der vielfältigen christlichen Denominationen in der Grabeskirche einerseits, die politischen Machtverhältnisse zwischen muslimischen, jüdischen und christlichen Bewohnern der Stadt Jerusalem andererseits, die alle unter osmanischer Oberherrschaft standen, schließlich die Zweifel der Pilger, deren Lust auf Abenteuer und Fremdartiges ebenso wie ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Familien

Ursula Röper und Martin Treml

und Traditionen im nordwestlichen Europa zeigen eine Komplexität, die mit dem Ursprungsort der Christenheit eng verbunden ist, was im Kontext der Ausstellung reflektiert werden sollte. Mithilfe der Kulturstiftung der Länder war es erfreulicherweise möglich geworden, zwei wissenschaftliche Fachtagungen zur Vertiefung des Themas im Kloster Stift zum Heiligengrabe in den Jahren 2010 und 2011 durchzuführen, deren Ergebnisse in diesem Band, in den auch noch andere, von uns erbetene Texte Aufnahme finden, der Öffentlichkeit zusammengefasst vorgelegt werden. Die erste Tagung zum Thema »Pilgersehnsucht. Die Prignitz als Ausgangsund Durchgangsort für Pilger« wurde im Frühjahr 2010 gemeinsam von der Äbtissin des Kloster Stift zum Heiligengrabe, Dr. Friederike Rupprecht, Prof. Dr. Konrad Vanja, dem damaligen Direktor des Museum Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin, und der Ausstellungskuratorin Dr. Ursula Röper durchgeführt. Für eine zweite Tagung »Heiliges Grab – Heilige Gräber. Aktualität und Nachleben von Pilgerorten« im Frühjahr 2011 konnten Prof. DDr. Sigrid Weigel, die Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL), samt einigen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die weitere Zusammenarbeit gewonnen werden. Während die erste Tagung das Thema der Pilgerschaft und ihrer in Stein gebauten Hinterlassenschaften im norddeutschen Raum in den Blick nahm, haben wir mit der zweiten Tagung sowohl die regionalen als auch die religionshistorischen Grenzen überschritten und den Blick auf interreligiöse, kultur- und religionswissenschaftliche Aspekte erheblich erweitert. Denn das Forschungsprogramm des ZfL umfasst auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Säkularisierung als des allmählichen und (scheinbar) unaufhaltsamen Verschwindens der Religion(en) aus den Lebenswelten, wollen diese nicht allein frommen Milieus zugerechnet werden. Doch dass sich eine angebliche intellektuelle Unbedarftheit mit einem reichen äußeren religiösen Leben notwendigerweise zusammenfügt, ist eine der Illusionen der säkularisierten Kulturen selbst, ihr blinder Fleck. Auch ist die Annahme falsch, Säkularisierung sei ein dem Verlauf der Vernunft oder dem Gang der Weltgeschichte hin zum eigentlich Besseren folgender Prozess. Es kommt heute nicht nur auf

Einleitung: Zur Aktualität heiliger Gräber

verschiedenen Ebenen zur Wiederkehr von religiösen Phänomenen und gelebter Religiosität, sondern es wird auch zunehmend sichtbar, wie spannungsreich und paradox in (West-)Europa der Umgang mit Religion stets gewesen ist. So lassen sich nicht nur Konflikte und Ungleichzeitigkeiten zwischen verschiedenen Religionskulturen beobachten – neben den christlichen Kirchen in Ost und West auch Judentum und Islam –, sondern auch die komplexen Übersetzungen und Verschiebungen zwischen unterschiedlichen kulturellen Formen wie Religion, Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Politik müssen neu beschrieben werden. Sie stellen eine Dialektik der Säkularisierung, von Entzauberung und Wiederverzauberung der Welt dar und können als Nachleben von Religion in literarischen Genres, Artefakten und Wissensformen, in Affektordnungen, Identitätsdiskursen und Bildentwürfen begriffen werden. Die Attraktion heiliger Gräber ist dafür ein wichtiges Argument, dem im vorliegenden Band in ihrer Allgegenwart und Ungleichzeitigkeit Rechnung getragen werden soll. Den Ausgangspunkt bildet hierfür die Faszination des Grabes Christi, dem jedoch das Paradox eingeschrieben ist, dass es ein leeres Grab und gerade deshalb heilswirksam ist. Dies garantiert ein »Medienwechsel«, wie Daniel Weidner in seinem Beitrag zeigt, der davon spricht, dass »sich der Wechsel vom Tod zum Leben narrativ eben durch diese Ersetzung des toten Körpers durch das Leben spendende Wort vollzieht«. Wo Jesus war, soll Christi Evangelium sein. Die beiden weiteren Beiträge der ersten Abteilung »Faszination des Grabes Christi« untersuchen Konkretisierungen dieses religiösen Affekts und seines Ausdrucks in frommer christlicher Reiselust. Denn immerhin stellte die Pilgerfahrt eine der seltenen Gelegenheiten in vormodernen Zeiten dar, den engeren Lebenskreis und Wohnort temporär zu verlassen. Jürgen Krüger widmet sich vergleichend den drei wichtigsten Pilgerorten der westlichen Christenheit vor allem auch in ihren architektonischen Besonderheiten und Bezügen, von denen Santiago im spanischen Galizien in den vergangenen Jahren eine unerwartete Renaissance auch jenseits der eigentlichen Frömmigkeit erfahren hat. Thomas Benner berichtet von einer Urszene der deutschen, um nicht zu sagen: preußischen Beziehung

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zu Jerusalem. Der letzte deutsche Kaiser neigte dem Heiligen Land und seinen Stätten sowohl aus persönlich gläubigen als auch aus machtpolitischen Gründen in einem Maße zu, dass er sogar für Theodor Herzl und dessen zionistische Ideen interessant wurde. In der zweiten Abteilung »Pilgersehnsucht« wird in den Blick genommen, was von solchen frommen Reisen noch nach der Rückkehr nach Europa fortbestehen sollte. Denn die dabei gemachten Erfahrungen und gewonnenen Einsichten wollten festgehalten, die erworbenen Gegenstände und Güter vorgezeigt, die heiligen Stätten Jerusalems in heimatliche Orte und Artefakte transloziert und heilswirksam weitergegeben werden. Ist auch die Pilgerfahrt einmalig, so soll sie doch über ihr Ende hinaus Gewinn spenden. Hartmut Kühne zeigt an Beispielen von der mittleren Elbe, wie die Topografie des Kalvarienbergs in Jerusalem und des Weges dorthin in Umgestaltung und Neuschaffung baulich nachvollzogen wurde als Ausdruck einer »Passionsfrömmigkeit«, die in der Zeit vor und während der Reformation reich auffind- und beobachtbar ist. Ein anderer starker religiöser Affekt einer solchen Translozierung findet seine Bestimmung im Sammeln und Besitzen kostbarer Reliquien. Das Horten heiliger und schöner wie kunst- und wertvoller Gegenstände eignet nicht nur dem Christentum, sondern findet sich auch in anderen Religionskulturen, etwa im Islam oder im Buddhismus. Lothar Lambacher macht in seinem an Funden reichen Beitrag, der zwischen den Behältnissen und dem Inhalt – den eigentlichen Reliquien – unterscheidet, deutlich, dass es zu »Umfunktionierungen von sakralen Gerätschaften« kommen konnte, ohne dass diese an Faszination oder Wirkung verlören. Konrad Vanja wiederum beschäftigt sich mit der longue durée von religiösen Imaginationen, die durch populäre Bildprogramme forciert wurden und führt dies beispielhaft aus an der seit der Renaissance populären Übersetzung des Leidensweg Christi und des Pilgerwegs als eines Modells des christlichen Lebens überhaupt. In Gestalt der so genannten Tabula Cebetis, der dem antiken griechischen Philosophen Kebes von Theben (einem angeblichen Schüler des Sokrates) zugeschriebenen und Bild gewordenen Vorstellung von der Mühsal und dem gleichzeitigen Höherstreben menschlichen Tuns, wird die Pilgersehnsucht zur Metapher für ein geglücktes Leben.

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Die dritte Abteilung des Buches ist dem »Nachleben von Pilgerorten« gewidmet, wobei die Denkfigur des ›Nachlebens‹ von Vertretern der Ersten Kulturwissenschaft um 1900 wie dem Hamburger Kunstund Kulturhistoriker Aby Warburg geprägt worden ist. Dieser versuchte unterschiedliche Vorstellungen von Wiedergeburt – dies ja die wörtliche Bedeutung von ›Renaissance‹ – mit Formen von verändernder Weitergabe, Rezeption, Übernahme bis hin zur (Ver-) Fälschung theoretisch zusammenzubringen, ein Ansatz, der sich noch immer als sehr fruchtbar erweist. So erläutert der Beitrag von Martin Treml, welche religiösen Ideen sich in der Frühen Neuzeit hinter Vorstellungen von wundertätigen Hostien verbergen, die man als dem Frevel von Juden, Frauen und anderen ausgesetzt wähnte. Ruth Slenzcka verweist wiederum auf ein offensichtliches Paradox des Protestantismus. Wie konnte eine, den Formen äußerlicher Frömmigkeit so kritisch und offen feindselig gegenüber stehende Konfession ihrerseits die Entstehung von Reliquien zulassen? Denn, so die Autorin, der Umgang mit Luthers Grabplatte nach seinem Tode, den sie in ihrem Beitrag anhand von Archivrecherchen nachzeichnet, lässt wohl keinen anderen Schluss zu. Ursula Röper begibt sich auf eine Spurensuche des Nachlebens des Jerusalemer Heiligen Grabes in Brandenburg, denn das im 18. Jahrhundert in Neuzelle entstandene und bis heute weitgehend erhaltene größte Heilige Grab Europas scheint in seiner heutigen Rekonstruktion und damit seiner Deutung noch immer den konfessionellen Folgen der Säkularisation von 1817 verhaftet. Die Beiträge der vierten und letzten Abteilung »Heilige Gräber« lassen schließlich das Christentum hinter sich und widmen sich heiligen Gräbern in nichtchristlichen oder säkularisierten (Religions-)Kulturen. Im ersten Aufsatz von Lucia Raspe ist vom Judentum in Aschkenas (dem mittelalterlichen Deutschland), im zweiten von Maryam Palizban von der Schia, der hauptsächlich in Persien (dem heutigen Iran und umliegenden Gebieten) existierenden Form des Islam, die Rede. Beide Religionskulturen kennen heilige Gräber in prominenter Form und vielfältiger Gestalt, die zudem ein reiches Brauchtum aufweisen. So sehr es sich hier um eigene und starke Ausprägungen jüdischen und muslimischen Totengedenkens handelt, so erstaunlich bleibt doch, wie osmotisch sie sich gegenüber entweder

Ursula Röper und Martin Treml

der christlichen Mehrheitsgesellschaft (bei Raspe) oder der eigenen Vorgeschichte (bei Palizban) verhalten. Es scheint so, als wären symbolische Formen kulturell umfassend wie übergreifend geprägt und darum fähig, in den Prozessen der Überlieferung (aus-)getauscht und kreativ angeeignet zu werden. Die beiden letzten Beiträge des Buches führen sowohl nach Europa als auch in die Gegenwart zurück. Sie zeigen, dass es entgegen der Behauptung vom ›Tod Gottes‹ in Philosophie und Kulturkritik, aber ebenso entgegen seiner in den letzten Jahren unter Künstlern und Intellektuellen, also ›Gebildeten‹, modisch gewordenen Wiederkehr einen ganz selbstverständlichen Fortbestand heiliger Gräber und ihres verehrenden Besuchs auch in nicht religiösen Zusammenhängen gibt. Dass an ihnen aber so etwas wie religiöse Reste kleben, belegen die Überlegungen von Giorgi Maisuradze ebenso wie die von Sigrid Weigel in all ihrer Unterschiedlichkeit. Bei Maisuradze betreten wir mit Georgien einen Raum, in dem sich die Jahrhunderte lange Erfahrung von unterschiedlichen Formen der Fremdherrschaft mit dem zähen Festhalten an eigenen Traditionen und Ordnungen mischt und der sich zudem an den Repräsentationsformen der Französischen Revolution orientiert, hier der Institution und Vorstellung des Pantheon als der Versammlung der ›unsterblichen Toten‹ der Nation. Dies geschieht in Georgien so, dass die heiligen Gräber dort häufigen Veränderungen, Umbettungen, Translationen unterliegen, was zu ihrer Vervielfältigung bei gleichzeitiger Hierarchisierung führt. Nie kann ein der Nation wichtiger Toter sicher sein, welchen Rang er tatsächlich auf Dauer im gesellschaftlichen Diskurs einnehmen wird. Im zweiten Fall zeigt Weigel, wie sehr das Konzept von Deutschland als einer ›Kulturnation‹ einem Gräberkult entsprungen ist: dem der Weimarer Klassiker. Deutlich wird dabei, dass sich dieses – wie sie schreibt – »als eine Kompromissbildung im Freud’schen Sinne begreifen [lässt], insofern sie den Begriff des Volkes überlagert und verdeckt, um ein geistig veredeltes, wenn nicht nobilitiertes Volk an dessen Stelle zu setzen: die Vereinigung zur Nation im Geistigen.« Deutschland, verspätete Nation par excellence, könnte sich somit auf Kultur- als eigentliche Gründungsheroen berufen, deren Gräber in Weimar dazu noch ebenso leer bleiben wie dasjenige von Jesus Christus in Jerusalem.

Einleitung: Zur Aktualität heiliger Gräber

Dank

Ein Band wie der vorliegende konnte nur durch die engagierte Zusammenarbeit mit vielen Kollegen und Kolleginnen aus Museen und Bibliotheken, mit finanziellen Förderinnen und Förderern, den am Projekt beteiligten Institutionen und nicht zuletzt mit den Autorinnen und Autoren sowie dem Verlag realisiert werden. Als Herausgeber danken wir darüber hinaus besonders: Dr. Friederike Rupprecht, der Äbtissin des Kloster Stift zum Heiligengrabe, für ihre Befürwortung und jahrelange Unterstützung des Projekts eines Interkonfessionellen Museums in Kooperation mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz; Prof. Dr.  Konrad Vanja, dem ehemaligen Direktor des Museum Europäischer Kulturen, für seinen tatkräftigen Zuspruch, sein Mitdenken an den Planungen für die Ausstellungen und Tagungen sowie für seine große Offenheit für dieses Projekt; Prof. Dr. Elisabeth Tietmeyer, seiner Nachfolgerin, und den Mitarbeiterinnen des Hauses für die großzügige Unterstützung; Prof. DDr. Sigrid Weigel, der Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, für ihr großes Interesse an diesem Thema und die Bereitschaft, die Publikation auch finanziell großzügig zu fördern; Dr.  Britta Kaiser-Schuster, Dezernentin der Kulturstiftung der Länder, für ihr langjähriges Engagement für das Interkonfessionelle Museum in Heiligengrabe, durch das die Tagungen in den Jahren 2010 und 2011 gefördert wurden; den Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann und seinem Nachfolger Prof. Dr. Dr.  h.c. mult. Hermann Parzinger, die beide seit 2003 das Projekt im Kloster Stift zum Heiligengrabe im Rahmen des Föderalen Programms der Stiftung immer sehr gefördert haben. Außerdem haben durch engagiertes Mitdenken bei der Konzeption oder durch Mithilfe bei Korrektur oder Bildrecherche und durch andere unabdingbare Hilfeleistungen an diesem Buch mitgewirkt: Tania Lipowski, Jutta Müller, Anja Schipke, Dr. Heike Schlie, Dr. des Christoph Schmälzle, Dr. Franziska Thun-Hohenstein, Susanne Werner, Dr. Irene Ziehe. Ihnen allen und vor allem den Autorinnen und Autoren dieses Buches sei von Herzen gedankt.

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