Todeslogistik
Hans Lebek
MORD statt SPORT Sport‐Krimi
© 2009 AAVAA Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80, 13439 Berlin Alle Rechte vorbehalten www.aavaa‐verlag.de 1. Auflage 2009 Cover: Grundlage ist das Bild „Satory“ Der Münchner Künstlerin Sathya Schlösser Printed in Germany ISBN 978‐3‐941839‐64‐9 Überarbeitete Auflage des beim Gmeiner Verlag 2007 erschienenen Romans SCHATTENSIEGER ISBN 978‐ 3‐89977‐660‐7 2
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Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Ein durchdringender Schmerz durchfuhr Körper und Geist der zusammengesunkenen, muskulösen Person, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war. In ihren chaotisch verwirrten Gedanken vermischten sich Bilder eines Sturzes von einer langen, elegant ge‐ schwungenen Freitreppe mit den huschenden Frag‐ menten eines Lastwagens, unter dem sie sich ver‐ schwinden sah. Sie empfand die Ungerechtigkeit. So viele Siege hätten noch errungen werden können, wenn ... Leises, verzweifeltes Stöhnen war zu hören. Es war schon weit nach Mitternacht, der Himmel klar. Sterne waren jedoch keine zu sehen. Selbst um diese Zeit verbreitete die Großstadt noch so viel diffuse Helligkeit, dass der Glanz der Himmelskörper nicht durchdringen konnte. Die Temperatur war angenehm mild, und das genoss der Mann im Rollstuhl. Er wartete schon seit Stunden in einer dunklen Nische eines alten Patrizierhauses in der Rembrandts‐ 4
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traße und blickte starr auf die Stadtautobahn und die Saarbrücke – und er würde auch noch weitere Stunden warten. Geduld zu haben, hatte er in seinem Leben gelernt – ganz besonders in den letzten Jahren, seit er seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Die Quer‐ schnittslähmung machte ihm in diesem Moment wieder besonders zu schaffen. Heftige Stiche in den Wirbeln der Lendengegend ließen in ihm wieder den Hass hochsteigen, der ihn schon seit seiner frühesten Kindheit verfolgte und der prägend für sein Leben war. Er erinnerte sich wieder einmal, wie alles angefangen hatte. In seinem Kopf liefen solche Erinnerungen immer so ab, als würde er sie gerade in diesem Moment erleben. Es war, als würde ein Film ablaufen, in dem er die Hauptrolle spielte. Vergangen‐ heit und Gegenwart wurden eins. Als Sohn eines Lehrers und einer Kindergärtnerin war er vor über vierzig Jahren auf einem Restbauern‐ hof in einem kleinen Kaff in der Lüneburger Heide aufgewachsen. Seine Kindheit hätte so schön sein können, wenn da nicht der zwei Jahre ältere Bruder gewesen wäre. Er konnte sich noch an ein Erlebnis erinnern, welches er im Alter von ungefähr vier Jahren hatte. Sein Bruder, erheblich größer, schwerer und 5
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kräftiger als er, jagte ihn an einem Sonntag wieder einmal quer über den Hof. Obwohl er bereits ziemlich schnell laufen konnte, gelang es ihm nicht zu entkom‐ men. Das Resultat war, dass er an den Haaren in eine Pfütze gezerrt wurde, sodass er über und über mit Dreck bespritzt war. In diesem Moment empfand er tiefen Hass. Er mochte seinen Bruder zwar sowieso nicht sonderlich und wäre lieber ein Einzelkind gewesen, aber dauerhaft hassen konnte er ihn nicht. Als sie kurz darauf in das kleine, alte Fachwerkhäus‐ chen gerufen wurden, trottete er deprimiert hinter dem großen Jungen her, der vergnügt und falsch vor sich hin pfiff. Bereits in der Diele wurden sie von den Eltern empfangen. Seine Mutter war sauer, schlug vor Ärger und Wut die Hände zusammen und herrschte ihn wütend an, warum er so verdreckt aussähe. Noch ehe er antworten konnte, erzählte der Ältere, dass er beim Herumtollen ausgerutscht und in eine Pfütze gefallen sei, obwohl er selbst ihm verboten habe, derart zu toben. Das Hassgefühl war wieder da, zumal die Gemeinheiten und Schikanen seines Bruders sich beständig steigerten. In der Folgezeit fing er an, heimlich zu trainieren, damit er endlich schneller 6
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laufen konnte. Denn der Ältere war und blieb die Gehässigkeit in Person, und seine Eltern schienen es nicht einmal zu bemerken. Als er zur Schule ging, war er Klassenbester, was ihm den Neid und die Hänseleien vieler Mitschüler und seines Bruders eintrug. Speziell im Sport zeichnete er sich aus, denn er war schneller, wendiger und durch‐ trainierter als alle anderen seiner Klasse. Er übte das schnelle Laufen weiterhin und begann ab der dritten Klasse sogar noch mit einem selbst erdachten Kraft‐ training. Im nahe gelegenen Wald stemmte er heimlich Steine und Baumstämme und spürte bald seine strammen Muskeln. Aber dies reichte immer noch nicht, dem Bruder endgültig und dauerhaft zu entkommen. Als er elf Jahre alt wurde, kam der Tag, an dem er nicht mehr eingeholt werden konnte. Er ließ den Älteren eines Tages hinter sich herlaufen und nahm den Weg in Richtung einer einsamen Kiesgrube. Er wartete immer wieder mal ein wenig ab, damit sein Verfolger meinte, er könne ihn doch noch erwischen. Schwer atmend und keuchend ließ er ihn dann inmitten der Kiesgrube endlich aufholen. Als dieser auf ihn einschlagen wollte, wich er so geschickt aus, dass der Junge, geschwächt vom Laufen und getragen 7
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von seinem eigenen Schwung, lang hinschlug. Mit dem aufgestauten Hass der vergangenen Jahre im Kopf trat er mit dem Fuß mit voller Wucht den Kopf seines Gegners in den harten Kiesschotter. Er genoss es, Blut aus dessen Nase spritzen zu sehen und die Schmerzen zu ahnen, die der am Boden Liegende verspüren musste. Danach spazierte er erst einmal tief befriedigt eine längere Zeit durch den Wald, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte. Zu Hause angekommen wurde er vom Vater zur Rede gestellt. Die Mutter stellte sich auf seine Seite und versuchte ihren Ehemann davon zu überzeugen, dass der so viel kleinere und schwächere Kerl, doch unmöglich ... Zur Verwunderung aller gab er unum‐ wunden zu, dass er seinen Bruder wirklich derart schlimm zugerichtet habe. Noch heute konnte er sich an die Prügel erinnern, die ihm sein pazifistischer Vater, der bei jeder Friedensdemonstration in der Gegend mit von der Partie war, daraufhin verabreich‐ te. Und trotzdem war von diesem Zeitpunkt an der Hass auf seinen Bruder verflogen. Er fühlte den absoluten Triumph des Siegers in sich. 8
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Wieder war eine Stunde des Wartens vergangen. Da es inzwischen doch ein wenig kühler wurde, zottelte er mit geschickten Fingern eine kleine Decke aus einem breiten Ablagekorb an der rechten Seite des Rollstuhls hervor und legte sie sich um die Schultern. Die Laternen verbreiteten in der kleinen Straße nur schwaches Licht, welches sein markantes, etwas verhärmt wirkendes Gesicht düster aufleuchten ließ. Lediglich die Stadtautobahn war verhältnismäßig gut ausgeleuchtet. Wenn heute nicht das eintrat, was er schon seit knapp zwei Wochen erwartete, dann würde er auch die kommenden Nächte wieder an dieser Stelle sitzen und Ausschau halten müssen. Seine Gedanken schweiften wieder in die Vergangen‐ heit ... Die Hänseleien in der Schule wurden noch schlim‐ mer. Trotzdem wurden seine Leistungen immer besser. Er wusste, dass es genau das war, was ihn zum Einzelgänger machte. Für Freundschaften blieb sowieso keine Zeit. Das heimliche Trainieren hatte in ihm eine Befriedigung ausgelöst, die keinen Platz für 9
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andere ließ. Sogar seinen Eltern hatte er sich entfrem‐ det, obwohl er sich alle Mühe gab, sie dies nicht merken zu lassen. Die Mutter schien es manchmal ebenfalls zu spüren, sprach ihn aber nie darauf an. Aus seinen überragenden, bestens antrainierten sportlichen Fähigkeiten machte er in Schulsportwett‐ kämpfen keinen Gebrauch und ließ sogar andere nach Belieben gewinnen. Als er allmählich in das Alter kam, wo ihn Mädchen zu interessieren begannen, fiel ihm seine Isolation, in die er geraten war, verstärkt auf, und er hasste die anderen dafür. Noch schlimmer wurde es, als er versuchte, einem bestimmten Mädchen, einer sommersprossigen, rothaarigen Mitschülerin namens Susi zu gefallen. Diese gab ihm aber deutlich zu verstehen, dass sie ihn für einen schleimigen Versager und Streber hielt. Sie stehe nur auf sportliche Sieger. Dies war für ihn das Startsignal, sein heimliches Training noch mehr voranzutreiben und an offiziellen Wettkämpfen teilzunehmen. Bereits die ersten Herausforderungen gewann er lässig – es handelte sich um eine ganze Serie von Laufwettbewerben von der Kurzstrecke bis zur Langstrecke über fünf Kilometer. Er ging überall als Sieger hervor und war plötzlich der gefeierte Held der Schule. Nur Susi zeigte ihm 10
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weiterhin die kalte Schulter und schäkerte mit einem grobschlächtigen Architektensohn mit riesigen Händen und großen Muskelpaketen, der ihm in der Vergangenheit schon oft zugesetzt hatte. Wieder begann er zu hassen und die Welt als unge‐ recht zu empfinden. Und wieder überlegte er intensiv, wie er diesen Angeber und Muskelprotz in die Schranken weisen und Susi für sich gewinnen konnte. Reiner Kraftsport war nicht seine Sache, eher der Ausdauersport. Aber es half nichts, wollte er siegen, musste er sich dieser Aufgabe stellen. Und so begann er zusätzlich mit einem Muskelaufbautraining. In dieser Zeit verflog seine kurzfristige Beliebtheit schnell wieder. Allerdings ließ man ihn jetzt weitgehend in Ruhe. Seine Lehrer und Eltern sahen es mit Besorgnis, aber er ließ keinen an sich heran. Er benötigte mehr als ein halbes Jahr, bis er endlich das Gefühl hatte, gegen Susis Freund antreten und ihn besiegen zu können. Durch einige Sticheleien hatte er ihn schnell so weit, dass dieser ihn während einer Pause vor allen Mitschülern und vor allem vor Susi auf dem Schulhof angriff. Wieder war er erstaunt, wie schnell und problemlos er diesen Kerl flachlegen konnte. Noch größer wurde sein Erfolg, als er drei 11
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Freunde seines Gegners, die sich plötzlich einmischten, im Handumdrehen ausschaltete. Er hätte am liebsten laut gejubelt und sich noch stundenlang an den Schmerzen und der Niederlage seiner Gegner gewei‐ det. Es entschädigte ihn für die fiesen Sticheleien der vergangenen Jahre. Der Sieg war perfekt, und der Applaus enorm. Susi schaute ihn jetzt nicht mehr achtlos an, sondern begann sogar, ihm schöne Augen zu machen. Um ihren alten Freund kümmerte sie sich von dieser Sekunde an nicht mehr. Voll von Glück nahm er sie wenige Tage später in die Arme und ihre Beziehung, seine erste Liebe, hielt fast ein halbes Jahr. Dieser Kampf war sein endgültiger Durchbruch. Er trat in den örtlichen Sportverein ein, trainierte weiter wie besessen und gewann alles, was an kleinen Wettkämpfen in seinen Disziplinen angesetzt wurde. Jeder im Ort und sogar im Landkreis kannte und beachtete ihn nun. Er war jetzt ein Jemand, kein Niemand mehr. Der Hass hatte ihn zu Höchstleistun‐ gen getrieben, und er war erst sechzehn Jahre alt ... Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es kurz vor zwei Uhr war. Er befürchtete nun schon, dass er auch diese Nacht wieder vergeblich warten würde. 12
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Der Verkehr war inzwischen abgeflaut. Hin und wieder brauste noch ein Fahrzeug die Autobahn entlang. Noch seltener passierten Lastwagen die Straße. Die kleine Parallelstraße zur Autobahn war schon seit mehreren Stunden kein Fahrzeug mehr entlang gefahren, und Passanten gab es ohnehin keine mehr. Ein Gähnen unterdrückend, bewegte er kreisend seine Arme, um sich wach und seine muskulösen Schultern beweglich zu halten. Plötzlich fuhr er hoch und starrte auf die Saarbrücke, die in hohem, langen Bogen über die Autobahn führte. Auf dem Bürgersteig der Brücke schien sich eine Person auf einem Fahrrad dem Geländer zu nähern. Mit flinken Fingern nahm er aus einem geräumigen Kasten, der auf der linken Seite seines schweren, übergroßen Elektrorollstuhls angebracht war, ein massives, wuchtiges Fernglas, drückte auf einen kleinen Schaltknopf und hielt es an seine Augen. Nach kurzem Suchen hatte er die Person, die inzwischen am Geländer stand und nach unten auf die Autobahn blickte, ganz deutlich im Ausschnitt des Restlichts verstärkenden Fernglases. Ein Fahrrad lehnte schief am Geländer. 13
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„Wusste ich es doch“, zischte er vor sich hin und lachte hart auf. „Dich hab ich, du Schwein!“ Er vergewisserte sich noch einmal, dass es sich wirklich um die richtige Person handelte. Befriedigt stellte er fest, dass ein Irrtum ausgeschlossen war: Am Geländer stand ein dunkelhaariger Mann, noch keine zwanzig Jahre alt, mit Jeans und Jeansjacke bekleidet. Er trug einen Gürtel, an dem verschiedene längliche Behälter befestigt waren, und hatte ein langes Seil um die Schulter gewickelt. Dieser junge Mann sah wiederholt prüfend auf die Autobahn hinunter und begann dabei, das Seil von der Schulter zu nehmen, das eine Ende am Geländer mittels eines Karabinerha‐ kens zu befestigen und danach das andere Ende am eigenen Gürtel anzuhängen. Erst jetzt erkannte er, dass der Jüngling auf der Brücke sogar zwei Seile mit mehreren Karabinerhaken am Körper trug und nun das andere Seil gute zehn Meter entfernt ebenfalls am Brückengeländer verklinkte, das zweite Ende ebenfalls an der Seite des Gürtels festmachte, weitere unver‐ ständliche Verklinkungen an einem Rollensystem vornahm, wieder an das Geländer trat und nach unten schaute. 14
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Mit überlegenem Lächeln holte der Mann im Roll‐ stuhl einen massiven Bügel, an dessen beiden Enden Zapfen zu erkennen waren, aus einem geräumigen Kasten, der an der Rückseite seines Fahrzeugs angebracht war. Danach drückte er die Zapfen bedächtig in extra für diesen Zweck an den stabilen, breiten Lehnen vorgesehene Öffnungen und drückte so fest dagegen, bis er sie einrasten hörte. Der Bügel hätte als schmales Tischchen vor der Brust des Mannes dienen können, wenn nicht ein gut dreißig Zentimeter hohes, gabelartiges Gebilde diesen Eindruck gestört hätte. Nun nahm er aus den beiden vorderen, senk‐ rechten Teilen der Lehnen jeweils ein längliches rohrartiges Gestell, schraubte diese beiden Teile zusammen, klappte an einem Ende eine kleine Strebe aus und klinkte das entstandene Gebilde in die Gabel ein. Als Letztes griff er wiederum in den geräumigen Kasten, holte ein Zielfernrohr heraus und setzte es auf das röhrenähnliche Gebilde. Mit einem Schnalzen der Zunge sah er durch das Fernrohr und stellte am Okular die Sehschärfe ein. Er registrierte, dass sich der junge Mann inzwischen über das Geländer geschwungen hatte. Nun ließ dieser sich langsam an seinen eigenen Seilen absinken, bis er 15