Gutachten zum demografischen Wandel im Land Brandenburg

6 Bertelsmann Stiftung: Aktion Demographischer Wandel. Bund und Länder: ...... Anteile daran zugewiesen und dann den Handel mit diesen „Rechten auf.
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Berlin-Institut

für Bevölkerung und Entwicklung

Gutachten zum demografischen Wandel im Land Brandenburg Expertise im Auftrag des Brandenburgischen Landtages

+++ Brandenburg fehlen die Kinder +++ Der Generationenvertrag droht zu platzen +++ Brandenburg wird ärmer +++ die Brandenburger auch +++ Sagt uns, wo die Frauen sind +++ Zu wenig Autonomie +++ Ein neues Modell für die Zukunft Brandenburgs +++ Wer fährt nach Brandenburg? +++

Inhalt

1. Bestandsaufnahme...................................................................................................4 2. Analyse der Problemknoten......................................................................................7 3. Bewertung der Regierungungsaktivitäten...............................................................29 4. Lösungsvorschläge.................................................................................................34 4.1 Erfahrungen aus anderen Bundesländern und aus anderen Nationen............34 4.2 Lösungsmöglichkeiten und neue Konzepte...................................................39 4.3 Folgen für die Ressortzuständigkeiten...........................................................54 5. Fazit: Chancen und Risiken der Vorschläge...........................................................56

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Vorbemerkung Wir haben in dieser Expertise die demografische Situation Brandenburgs für die nächsten drei Dekaden betrachtet, die Schlüsselprobleme herausgearbeitet, die Reaktionen von Regierung und Verwaltung bewertet und Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Die in der Ausschreibung gestellten Fragen wurden im Laufe dieser Analyse gemäß unserem Angebot zur Ausschreibung beantwortet. Wir verfolgen in diesem Gutachten einen besonderen Ansatz. Wir zeigen auf, in welche Kernprobleme die grundsätzlichen Entwicklungshemmnisse des Bundeslandes Brandenburg verstrickt sind, warum diese oft eine Abwärtsspirale antreiben und wie sie eine Nutzung von durchaus vorhandenen Potenzialen und Chancen blockieren. Wir geben daher weniger detaillierte Vorschläge für einzelne Probleme, wie es etwa eine klassische Enquête-Kommission tun würde. Wir verlegen uns vielmehr auf grundsätzliche Empfehlungen. Die einschlägigen Maßnahmen, mit denen auf den demografischen Wandel zu reagieren ist, haben ungeachtet davon auch für Brandenburg Bestand. Das BerlinInstitut – unter anderen – hat sie in seinen entsprechenden Publikationen umfassend dargestellt.1 Zu den wichtigsten Standards, die eine demografietaugliche Politik entwickeln muss, gehören etwa eine erhöhte Familienfreundlichkeit, Investitionen in frühkindliche Bildung, das Angebot von Ganztagesbetreuung, eine differenzierte Schulbildung mit mehr individueller Förderung, bundesweite Bildungsstandards, ein früherer Berufseinstieg, die Umsetzung der Idee des lebenslangen Lernens, höhere Frauenerwerbsbeteiligung etwa durch flexible Arbeitszeitmodelle, eine finanzielle Entlastung von Eltern, eine bessere Bildung und Integration von Migranten, das gezielte Anwerben und anschließende Fördern von Einwanderern, die Förderung von Kernstädten und Mehrgenerationshäusern, die Stärkung bürgergesellschaftlichen Engagements, die Senkung von Lohnnebenkosten und die Beseitigung von anderen Hemmnissen am starren Arbeitsmarkt. Darüber hinaus hat Brandenburg einige drängende Probleme, auf die sich gar keine Empfehlungen geben lassen, weil sie kaum auf Länderebene zu lösen sind. Diese Probleme resultieren aus den künftig zum Teil stark steigenden Versorgungslasten für arbeitslose und alte Menschen. Diesen Lasten werden aufgrund der mittelfristigen demografischen Entwicklung vermutlich keine adäquaten Einnahmen gegenüberstehen. 1

Siehe etwa Kröhnert, Steffen/ Medicus, Franziska/ Klingholz, Reiner (2006): Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? München; Hauff, Volker/ Bachmann, Günther (2006): Unterm Strich. Erbschaften und Erblasten für das Deutschland von morgen. Eine Generationenbilanz. München.

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1. Bestandsaufnahme Die demografische Entwicklung wird das Land Brandenburg in den nächsten Jahrzehnten vor bisher nicht da gewesene Herausforderungen stellen. Sinkende Kinderzahlen, die Auswirkungen des scharfen Geburtenknicks der frühen 1990er Jahre, ein immer weiter ansteigendes Lebensalter und eine hohe Rate von Fortzügen insbesondere junger Frauen aus den ländlichen Landesteilen führen zu einer Situation, in der fast überall ein Schrumpfungsprozess das Wachstum verdrängt hat. Brandenburg wird zwischen den Jahren 2004 bis 2030 rund 13 Prozent seiner Bevölkerung verlieren.2 Schon heute zeigt diese Entwicklung spürbare Folgen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen: Schulen werden geschlossen, Dörfer entvölkern sich, Siedlungen stehen leer und verfallen, Kanalisationssysteme und notärztliche Versorgung drohen zusammenzubrechen, die öffentlichen Haushalte verschulden sich immer tiefer. Diese Entwicklung wird sich in Zukunft beschleunigen. Denn ein Kennzeichen dieser Art von demografischem Wandel ist es, dass sich Schrumpfungsprozesse auf nahezu allen sozioökonomischen Ebenen gegenseitig verstärken. Fehlendes Wirtschaftswachstum etwa bringt junge Menschen zur Abwanderung; ihre Arbeitskraft steht dann einem möglichen Wirtschaftswachstum nicht mehr zur Verfügung. Die Rückkopplungen dieser Dynamik sind schwer zu durchbrechen: Wenn sich der Staat aus Kostengründen aus Bereichen der Daseinsvorsorge zurückzieht, treibt er das Schrumpfen weiter an. Aber auch wenn er versucht, mit Subventionen gegenzusteuern, kann er paradoxerweise den Verfall noch beschleunigen. Zu diesen schwer lösbaren Problemen kommt die ungewisse finanzielle Zukunft des Landes. Im Jahr 2019 soll planmäßig der Solidarpakt II auslaufen. Ein großer Teil des bisherigen Finanztransfers nach Brandenburg würde dann eingestellt. Damit werden zeitgleich verschiedene Ereignisse eintreten, die eine bisher in dieser Größenordnung nicht bekannte finanzielle Belastung für das Bundesland mit sich bringen: Neben dem Wegfall der Solidarpakt-Mittel kommen die letzten geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre in das Alter der Pensionsansprüche. Mit dem Ende der Erwerbstätigkeit dieser Jahrgänge entfällt auch eine wichtige Gruppe von Steuerzahlern. Schließlich werden zu diesem Zeitpunkt die in den 1990er Jahren nicht geborenen NachwendeKinder als neue Generation fehlen, die Sozialbeiträge erwirtschaftet und ihrerseits Kinder – also zukünftige Wirtschaftsteilnehmer – bekommt und aufzieht. Im Jahr 2030 2

Ministerium für Infrastruktur und Raumordnung (MIR), www.mir.brandenburg.de

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dürfte jeder dritte Brandenburger älter als 65 Jahre alt sein. Heute ist es nur jeder fünfte.3 Brandenburg fehlen die Kinder Die Zahl der neu geborenen Kinder in Brandburg sinkt aus zwei Gründen: Erstens wird sich bis zum Jahr 2030 die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter gegenüber 2004 landesweit halbiert haben.4 Hauptgrund dafür ist der extreme Geburtenknick der 1990er Jahre mit einem 5 historischen Tiefstand von 0,7 Kindern pro Frau. Zweitens gleicht sich zwar die

Fertilitätsrate Brandenburgs jener der alten Bundesländern an – 2004 lag sie bei 1,28. Jedoch entspricht dies weniger als zwei Dritteln der für die Reproduktion der Elterngeneration rechnerisch notwendigen 2,13 Kinder pro Frau. Im Saldo – ohne Abwanderungsverluste und ohne die Wanderungsgewinne der Berlin nahen Region – ist somit für Brandenburg im Jahr 2030 von einem Verlust von 470.300 Menschen gegenüber 2004 auszugehen. Die peripheren Regionen werden dabei mit 334.500 Menschen um überdurchschnittlich viele Einwohner schrumpfen. Sie werden aber durch Abwanderung noch weit mehr als diese Bewohnerzahl verlieren. Brandenburg wird ärmer – die Brandenburger auch Diese demografische Entwicklung führt heute schon dazu, dass die öffentliche Daseinvorsorge nicht mehr flächendeckend im gewohnten Umfang möglich ist. Durch die gegenseitige Verstärkung von finanziellen und demografischen Problemen werden künftig die Kosten zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur (öffentlicher Nahverkehr, Wasserver- und entsorgung etc.), für Pflege und medizinische Einrichtungen weiter ansteigen, die Einnahmen jedoch sinken. Die finanziellen Belastungen werden aufgrund dieses Ungleichgewichts selbst bei strenger Ausgabendisziplin spätestens von 2019 an keinen verfassungsgemäßen Haushalt mehr gewährleisten. Für die öffentlichen Haushalte werden neben den fehlenden Mitteln des Länderfinanzausgleiches zunehmend auch Steuereinnahmen wegfallen. Die Pro-KopfVerschuldung des Landes wird durch den Bevölkerungsrückgang ebenfalls zunehmen: Lag

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Senioren in Brandenburg (Zahlen von 2005). Landesportal Brandenburg, www.brandenburg.de Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik. Dezernat Informationsmanagement (Hrsg.) 2006: Bevölkerungsprognose des Landes Brandenburg für den Zeitraum 2005-2030. Potsdam, S.16. 5 Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik. Dezernat Informationsmanagement (Hrsg.) 2006: Bevölkerungsprognose des Landes Brandenburg für den Zeitraum 2005-2030. Potsdam, S.10. 4

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diese im Jahre 2003 bei 6.358 Euro, so würde sie bei einem „Business-as-usual“-Szenario 2020 bei 40.448 Euro liegen und zehn Jahre später schon bei 103.605 Euro.6 Aber nicht nur die Mittel des Landes, auch die der Bürger schwinden. Heute verfügen zwar insbesondere Rentnerhaushalte in den neuen Bundesländern noch über vergleichsweise viel Geld. Ihr Einkommen ist im Mittel höher als das im Westen – dort hat meist nur ein Ehepartner gearbeitet und bezieht heute eine Rente, im Osten beide. Doch sobald diese Generation verschwunden ist, wird auch in Brandenburg die Armut zunehmen. Die meisten der heute Arbeitslosen oder prekär Beschäftigten, besonders die Alleinstehenden, schlecht qualifizierten Männer können künftig nur noch mit minimalen Zuwendungen rechnen. Kinderlose Menschen werden später auch nicht auf familiäre Unterstützung zählen können. Anders als im Westen, wo viele der heute 20- bis 50-Jährigen den Rückgang staatlicher Leistungen durch das Ersparte ihrer Eltern kompensieren können, werden im Osten nennenswerte Erbschaften die Ausnahme bleiben. Brandenburg spaltet sich Brandenburg ist zunehmend durch eine polare Bevölkerungsstruktur geprägt. In weiten Teilen hat das Bundesland einen extrem ländlichen Charakter. In seinem Zentrum besteht es dagegen aus den Randgebieten der Bundeshauptstadt Berlin – dem „Speckgürtel“, zu dem auch die Landeshauptstadt Potsdam zählt. Diese Disparität spiegelt sich in der demografischen Situation des Landes wider. Während der Großteil Brandenburgs schon heute mit starken Bevölkerungsverlusten zu kämpfen hat, konnte der Speckgürtel Berlins zwischen 1994 und 2004 einen Bevölkerungszuwachs von 27 Prozent verzeichnen. Auf den dazugehörigen 15 Prozent der Landesfläche wohnten schon 2004 39 Prozent aller 7 Brandenburger. Die Entleerung der Fläche dagegen nimmt zu: 2030 wird nur noch etwa die

Hälfte aller Brandenburger im ländlichen Raum leben.8

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Bertelsmann Stiftung: Aktion Demographischer Wandel. Bund und Länder: Schuldenmonitor Brandenburg, http://www.aktion2050.de/cps/rde/xbcr/SID-0A000F0A-238E2E6C/aktion/Brandenburg.pdf. 7 Kröhnert, Steffen/ Medicus, Franziska/ Klingholz, Reiner (2006): Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? München, S. 84. 8 Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik. Dezernat Informationsmanagement (Hrsg.) 2006: Bevölkerungsprognose des Landes Brandenburg für den Zeitraum 2005-2030. Potsdam, S.17.

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2. Analyse der Problemknoten Der Bevölkerungsschwund ist die zentrale Perspektive, unter der sich heute jeder politische Sektor des Landes begreifen und neu denken lassen muss. Er ist Brandenburgs Politikthema Nummer eins. Ohne ihn zu berücksichtigen ist sinnvolle Politik nicht machbar. Das gilt auch für die wenigen Wachstumsräume. Aufgrund der Zweiteilung in Berliner Speckgürtel und ländliche Peripherie wirkt sich die lähmende demografische Entwicklung der entlegenen Regionen auch auf die Handlungsfähigkeit der eher prosperierenden und durch den (vergleichsweise bescheidenen) Hauptstadteffekt nach wie vor wachsenden Zentrumsregion aus. Eine Ursache, viele Probleme Doch so allgegenwärtig die Last des Bevölkerungswandels ist, so vielfältig und widersprüchlich sind die Schwierigkeiten, die er aufwirft. Sie machen in allen Ressorts die gängigen Reaktionsmuster obsolet, weil sich die Handelnden nicht mehr auf Wachstum verlassen können, sondern akzeptieren müssen, dass fast alles fast überall schrumpft. Die demografische Krise ist ein Problem mit vielen Facetten, das sich in jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens auswirkt. Einzelne Ressorts sind mit der Lösung der in ihrem Zuständigkeitsbereich auftauchenden Fragen schlicht überfordert. Dazu kommt: Trotz abnehmender Bevölkerung verstärken sich viele Einzelprobleme, statt wegen der abnehmenden Bevölkerung zu schwinden. So wird in einem dünner besiedelten Landstrich der öffentliche Nahverkehr schnell unbezahlbar. Der Individualverkehr nimmt dann überproportional zu. Es kommt also durch die Schrumpfung weder zu einer ökologischen Entlastung noch zu einer finanziellen. So lange die Straßen unterhalten werden, steigen die Infrastrukturkosten pro Steuerzahler. Der Bevölkerungsschwund drückt auf die Nachhaltigkeit. Weniger verbrauchen mehr. In diesem Abschnitt wollen wir die drängenden einzelnen Probleme des Landes Brandenburg analysieren und sie anschließend gemeinsamen Strukturen, den so genannten „Problemknoten“ zuordnen. Auf diese Weise lässt sich in einem weiteren Schritt feststellen, welche – möglicherweise auch unorthodoxen – Veränderungen die Situation zu verbessern vermögen. Die Idee der „Problemknoten“ Zunächst scheint aus einer Menge von Problemen zu folgen, dass zu deren 7

Bewältigung auch eine große Zahl von Lösungen nötig ist. Politiker sehen sich einem Wust von Anpassungsschwierigkeiten gegenüber. Doch löst man jedes Problem einzeln, so ergeben sich häufig kontraproduktive Effekte – und vor allem kann es gegen jede Detaillösung massiven öffentlichen oder politischen Widerstand geben. Eine solche Herangehensweise, die politisch in vielen Bereichen bis heute Standard ist, führt oft zu den alten Fehlern: Gesetze bleiben folgenlos, weil sie unerwünschte Nebeneffekte in anderen Bereichen nach sich ziehen; Fehlsubventionen entstehen, die etwas ganz anderes zur Folge haben, als der Gesetzgeber ursprünglich im Sinn hatte. So wollten viele Kommunen durch das Ausweisen von Gewerbe- und Neubaugebieten sowie die Bereitstellung der dazugehörigen Infrastruktur ihre Wirtschaftskraft und ihre Einkommen verbessern – nach dem bisher gängigen Wachstumsrezept. Gerade diese Ausdehnung in die Peripherie führt aber unter den Vorzeichen des Schwindens schon heute zu massiven Problemen einer unternutzten Infrastruktur (siehe weiter unten sowie Abschnitt 3). Umgekehrt stellt sich bei genauer Betrachtung der einzelnen Problemfelder und auch bei Betrachtung ihrer Beziehung untereinander heraus, dass es immer einige Faktoren gibt, die eine zentrale Rolle für das Entstehen verschiedener Problem spielen oder sogar eine Schlüsselrolle für mehrere verschiedene Bereiche einnehmen. Das sind die Knoten, in denen alle Fäden eines Problems zusammenlaufen. Von ihrer Behandlung hängt ab, ob sich eine Situation verbessert oder verschlechtert. Beispielhaft ist die essentielle Rolle des Bildungsangebotes für die peripheren Räume: Ohne gute und leicht erreichbare Schulen wandern vor allem solche (potenziellen) Eltern ab, die selbst einen hohen Bildungsstand haben. Eine Bildungserosion unter den Verbliebenen ist die Folge. Dieser Zerfallsprozess zieht fast zwangsläufig eine weitere Ausdünnung des Schulangebotes und auch der Qualität nach sich. Umgekehrt vermag eine gute Schule wie ein sozialer Anker zu wirken. Gegen diesen Trend kann man noch so viele Steuerungsmechanismen einführen, noch so viel subventionieren oder verordnen: eine Entwicklung wird ihre Richtung beibehalten. Ohne eine grundsätzliche Veränderung des „strukturellen Windes“ – jener wirtschaftlichen Wirkungen, von denen die Menschen real profitieren und an denen sie ihr Verhalten ausrichten – wird sich nichts ändern. Jahrzehnte der Förderung strukturschwacher Regionen etwa in Süditalien haben das gezeigt. Andersherum lässt sich vieles gewinnen, wenn ein Knoten an der entscheidenden Stelle gelöst wird. Zum Teil werden dann Synergien in Bereichen frei, die ursprünglich gar nicht positiv 8

beeinflusst werden sollten – oder von denen keiner etwas geahnt hat. Bildung: Keine Schulen, keine Schüler Besonders deutlich hat sich der demografische Erdrutsch in Brandenburg in der Zahl der Schüler bemerkbar gemacht. Nach dem Zusammenbruch der DDR sank im Jahr 1993 die Kinderzahl je Frau mit dem Wert von 0,7 auf einen welthistorischen Tiefstand. In der Folge wurden zwischen 1994 und 2003 allein 149 Grundschulen geschlossen – 9 fast 25 Prozent des Bestandes. Dieser Trend setzt sich auch in Zukunft fort. So wurden

zum Schuljahr 2006/07 weitere 44 Schulen in öffentlicher Trägerschaft abgeschafft. Die Zahl der Erstklässler hatte sich schon 1999 mit 15.000 gegenüber 1994 mehr als halbiert. Danach war ein leichter Anstieg zu verzeichnen, der aber mit knapp 21.000 Erstklässlern (2006/07) immer noch weit hinter dem Niveau der Vorwendezeit zurückbleibt.10 Mittlerweile sind von dem Geburteneinbruch nach der Vereinigung vor allem die weiterführenden Schulen betroffen. Das Land hat auf den Schülerschwund bisher vor allem mit Schulschließungen reagiert. So werden die Entfernungen, die Kinder zum Unterricht zurücklegen müssen, immer länger – der längste Heimweg nach Schulschluss dauert heute schon zwei Stunden und vierzig Minuten.11 Um die Pro-Kopf-Ausgaben pro Schüler zu wahren, müsste auch dieses weitmaschige Schulnetz ständig weiter ausgedünnt werden. Im Jahre 2030 wäre dann ein Schüler etwa in einem Dorf im besonders benachteiligten Landkreis Uckermark zu vertretbaren Kosten kaum mehr beschulbar. Diese Verschlechterung trifft einen demografisch außerordentlich sensiblen Bereich und kann schnell eine Abwärtsspirale auslösen. Lange Schülertransporte sind teuer, ökologisch fragwürdig und erfordern eine aufwändige Infrastruktur. Dazu kommt: Ein Ort ohne Grundschule ist ein Ort, aus dem die Menschen abwandern und in den die jungen Familien nicht zurückkehren. Müssen die Kinder schon zum Lernen emigrieren, werden sie auch später kaum zu halten sein. Auch der ohnehin dünner werdende Zufluss von Studierenden zu den landeseigenen Hochschulen nimmt dann weiter ab. Die Schule gehört wie der Kaufladen, die Kneipe, die Post oder das Amt zu den Basisdiensten des Gemeinschaftslebens, ohne die Menschen ein Gemeinwesen schnell 9

Weishaupt, Horst (2004): Veränderungen im elementaren und sekundären Bildungsbereich durch demographischen Wandel. Statistisches Bundesamt: http://kolloq.destatis.de/2004/weishaupt.pdf, S. 8/10 10 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (MBJS), www.mbjs.brandenburg.de, Siehe auch Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie (MASGF), www.masgf.brandenburg.de/media/1336/SEUREP99_04.pdf, S. 7, www.mbjs.brandenburg.de. 11 Görke, Christian (2004): Lange Schulwege in Brandenburg. PDS-Pressedienst 34, 20. August 2004, www.sozialisten.de

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als tot wahrnehmen und ihm dann den Rücken kehren. Schulen aufzugeben, auch mit der wohlmeinenden Begründung, diese in „Kernorten“ zu erhalten, heißt damit de facto, die Fläche aufzugeben. Alle anderen Probleme des Bevölkerungsschwundes verschärfen sich mit der Schließung von Schulen. Arbeit: Sagt uns, wo die Frauen sind Ein weiteres gravierendes Brandenburger Problem ist die Abwanderung gut ausgebildeter Frauen im reproduktionsfähigen Alter. Zurzeit verlassen das Land im Saldo jedes Jahr rund 6.500 Frauen zwischen 18 und 30 Jahren.12 Auffällig ist die regionale Verteilung: Während einzig Potsdam einen positiven Wanderungssaldo in dieser Altersgruppe verzeichnen kann (+554), verloren etwa im Jahr 2004 gerade Berlin ferne Landkreise wie die Uckermark (-625), Prignitz (-376) und Spree-Neiße (-682) bis zu sieben Prozent ihrer Frauen zwischen 18 und 30 Jahren.12 Dieser Effekt hält schon lange an. Seit 1991 haben das abgelegene Land viele zehntausende potenzielle Mütter mit gutem Ausbildungsstand verlassen – meist um in den westlichen Ländern Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, aber auch im Großraum Berlin eine Arbeit zu finden und gegebenenfalls dort auch eine Familie zu gründen. Auch die steigende Zahl zurückbleibender, junger Männer wird zu einem wachsenden Problem des Bundeslandes. Denn während es junge Frauen durch ihren durchweg besseren Bildungsstand leichter haben, abzuwandern, hinken junge Männer gerade in den peripheren Regionen in ihren Schulleistungen den weiblichen Altersgenossen immer weiter hinterher. In der Folge bleiben vor allem schlecht oder unqualifizierte junge Männer zurück, die es besonders schwer haben, Arbeit zu finden. Diese Männer verlieren auf dem Partnermarkt zwangsläufig an Attraktivität, denn Frauen orientieren sich in ihrer Partnerwahl tendenziell auf gleicher oder höherer Bildungsebene. In Kreisen wie der Uckermark oder Elbe-Elster kamen 2005 auf 100 Männer in der Altersgruppe der für die Partnerfindung und Familiengründung wichtigen Altersklasse der 18- bis 29-Jährigen nur noch 80,1 bis 85 respektive weniger als 80 Frauen13. Vermutlich ist es kein Zufall, dass gerade jene Kreise mit dem stärksten Frauenmangel den höchsten Anteil rechtsradikaler Wähler vorweisen. Dadurch sinkt wiederum die Attraktivität solcher Regionen für Zuzügler oder Unternehmen.

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„Regionaldatenbank Deutschland“ – Statistische Ämter des Bundes und der Länder. Eigene Berechnung. Kröhnert, Steffen/ Klingholz, Reiner (2007): Not am Mann. Von Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht? Lebenslagen junger Erwachsener in wirtschaftlichen Abstiegsregionen der neuen Bundesländer. Berlin, S. 41.

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Fachkräfte: Mehr Arbeitslose und mehr leere Stellen Der demografische Niedergang führt zu einem scheinbaren Paradox: Aufgrund der kleiner werdenden Bevölkerung und dem überproportionalen Brain-Drain fehlen dem Land schon jetzt Facharbeiter, was das in den strukturschwachen Regionen ohnehin nicht begünstigte Gewerbe und die Industrie weiter unter Druck setzt. Bereits heute sind zudem manche offene Verwaltungsstellen nicht mehr besetzbar. Bis 2015 werden 200.000 Facharbeiterstellen mit neuen Mitarbeitern gefüllt werden müssen – wobei allerdings das Gros dieser Arbeitsplätze in der Berlin nahen Wachstumsregion liegt.14 Oft sind es nicht Arbeitssuchende, die sich aus Brandenburg weg bewerben, sondern Beschäftigte, deren Posten mit den verbleibenden schlecht Ausgebildeten nicht mehr besetzt werden können. Auch durch diese Entwicklung schwinden die gut situierten, gut qualifizierten Familien, die einer weiteren Bildungserosion entgegenwirken könnten. Es schwinden damit die Steuereinnahmen aus gut bezahlten Berufen und die Attraktivität der Regionen für Wirtschaftsunternehmen. Ein Gegensteuern mit den alten Rezepten – Wachstum des BIP, gewerbegebundene Einnahmen – ist kaum noch möglich. Brandenburgs Schwierigkeiten, Menschen mit einem hohen Ausbildungspotential zu halten, zeigen sich auch im Hochschulbereich. Im Jahre 2005 verließen 40,5 Prozent der Hochschulabsolventen nach ihrem Abschluss das Land. Brandenburg ist als Bildungsstandort interessant, bietet aber nicht genügend Perspektiven und vielleicht auch nicht genügend Attraktivität für eine dauerhafte Beschäftigung. Brandenburg erlebt mehr als alle anderen neuen Bundesländer einen Zustrom von ausländischen Studierenden (12,8 Prozent der Immatrikulierten), vermag diese aber nicht zu halten. Würden diese Menschen nach ihrem Abschluss in Brandenburg leben und arbeiten, könnten sie einen Teil des Fachkräftemangels beheben.15 Eine gute Hochschulbildung anzubieten ist heute auch dann wichtig, wenn das Land weiter einen hohen Anteil der Absolventen verliert, denn spätestens von 2015 an werden alle gut Ausgebildeten durch den dann herrschenden Mangel an Fachkräften auch in Brandenburg erheblich verbesserte Berufschance haben. Gesundheit: Ärzteschwund Besonders verschärft hat sich der Arbeitskräftemangel schon jetzt auf dem 14

Stuke, Angelika (2007): Demografischer Wandel in Brandenburg. Ursachen – Folgen – Strategien. Vortrag auf dem Ifok-Fachdialog „Folgen des demografischen Wandels für die Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik“. Berlin, 25.04.07. 15 Datenreport Wissenschaft weltoffen 2006: Ausländische Studierende in Ländern der Bundesrepublik Deutschland, www.wissenschaft-weltoffen.de.

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Gesundheitssektor. Die Zahl der Ärzte in der Fläche ist im stetigen Rückgang. Bereits heute sind 173 Hausarzt- und 20 Facharzt-Praxen vakant16. 2030 wird es in manchen Landkreisen bei fortgeschriebener Entwicklung nicht einmal mehr einen Allgemeinarzt geben.17 Spezialisten sitzen weitab, meist erst in Berlin. Die Daseinsvorsorge ist bereits heute kaum noch gegeben; medizinische Notfallversorgung wird zunehmend teuer und ist auf die eigene (Auto-) Mobilität von Patienten wie Medizinern angewiesen. Unter anderem weil kein Arzt seinen Tag vornehmlich im Auto verbringen will, wandern junge deutsche Mediziner heute lieber nach Irland oder Skandinavien aus als sich den Bedingungen der neuen Bundesländer zu stellen (2005 haben rund 4.000 deutsche Mediziner, das sind 1,3 Prozent des gesamten Ärztebestandes, das Land – und dabei überproportional die neuen Bundesländer – verlassen). In abgelegenen Landkreisen wird es somit zunehmend riskanter werden, krank zu sein. Altenversorgung: Der Generationenvertrag droht zu platzen Noch düsterer sieht die Situation in der Altenpflege aus. Im Jahre 2030 wird die Bevölkerung in einigen Orten zum Großteil aus Renten- und Pensionsempfängern jenseits der 65 bestehen. Aufgrund der nach wie vor steigenden Lebenserwartung werden darunter viele 80-, 90- oder sogar Hundertjährige sein. Da die Pflegebedürftigkeit jenseits der 80-Jahresgrenze bei derzeit mehr als 30 Prozent liegt, die über 85-Jährigen zu einem Drittel an einer Demenzerkrankung (durchweg Alzheimer) leiden, die Krankheitskosten bei ihnen mehr als das Sechsfache der 30Jährigen betragen18 und die Pflege in der eigenen Familie durch sinkende Kinderzahlen stark zurückgehen wird, stehen einzelne Regionen vor bisher unbekannten Herausforderungen.19 Das heißt: In manchen Brandenburger Dörfern wird die Bevölkerung 2030 mehrheitlich aus Alten und Hochbetagten bestehen, die dann prinzipiell einander pflegen müssten. Es werden kaum junge Menschen da sein, die diese Arbeit leisten – und es ist unklar, wer dafür aufkommt. Denn schon heute gibt es weder genug potenzielle Mitarbeiter noch ausreichend ökonomischen Spielraum für angemessene Pflegedienste.

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Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg, www.kvbb.de Landesärztekammer Brandenburg, www.laekb.de. Ärztestatistik 2006, eigene Berechnung. 18 Kröhnert, Steffen/ Medicus, Franziska/ Klingholz, Reiner (2006): Die demografische Lage der Nation. München, S. 33. 19 Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2006): Hauptrisiko Alter. Warum gibt es immer mehr Alzheimerkranke und wer versorgt die wachsende Zahl an Patienten? Newsletter 10. November 2006, www.berlin-institut.org. 17

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Infrastruktur: immer schwerer zu bezahlen Die im Verhältnis zur abnehmenden Bevölkerung zunehmend überdimensionierte, immer teurere, zugleich aber ihren Funktionen immer weniger gerechte Infrastruktur führt der Verwaltung den Schrumpfungsprozess drastisch vor Augen. Dennoch werden Investitionen in das Straßennetz fortgesetzt – etwa in die Bundesautobahn A 14, obwohl die Wirtschaft, die durch ein solches Vorhaben angekurbelt werden soll, in den betroffenen Gebieten oft gar nicht mehr funktionsfähig ist. Der gültige Bundesverkehrswegeplan aus dem Jahr 2003 spiegelt die demografische Realität bisher nicht wieder, sondern ist aus ökonomischem Wunschdenken gespeist. Langfristig wird der Staat jedoch die Aufrechterhaltung eines differenzierten Straßennetzes aus Kostengründen einschränken müssen – womit Brandenburg bereits begonnen hat. Schon jetzt hat das Land einige Abschnitte von Landstraßen (etwa Tremsdorf-Gräben oder Biesenthal-Eberswalde) auf den Status von Kreisstraßen zurückgestuft. Auch die Netze, etwa für Wasser, Abwasser, Fernwärme, Gas und Strom werden angesichts immer weniger Nutzer zunehmend unrentabler und unökologischer – bis hin zu einem Punkt, wo die Netze ihre Funktionskraft einbüßen. Ein Bereich der Infrastruktur ist bereits grundlegend geschrumpft: der ÖPNV. Die Länge der Bahnstrecken in Brandenburg fiel von 3359 (1990) um 21 Prozent auf 2673 Kilometer (2005), das Streckennetz für den Personenverkehr verkürzte sich dabei von 2930 (1991) 20 auf 2345 Kilometer (2005). Busse sind kaum ausgelastet, viele Linien wurden mit dem

Rückgang des Schülerverkehrs eingestellt. Übrig bleibt das Auto – mit dem die Strecken pro Kopf immer länger werden und das indirekt über die sich verteuernde Infrastruktur ebenfalls von der öffentlichen Hand subventioniert wird. Gleichwohl werden 2030 große Teile der hochbetagten Bevölkerung in der Fläche nicht mehr in der Lage sein, Automobile zu nutzen. Diese Menschen sind dann, will man sie nicht sich selbst überlassen, auf massive Hilfe angewiesen. Städte: Wenn Brachen aus Beton entstehen Doch nicht nur das weite Land hat mit den Folgen zu weitmaschiger Versorgung zu kämpfen. Gerade in Städten versagt die Infrastruktur, wenn immer mehr Wohnungen und Siedlungsblocks leer stehen. Allerdings wurden noch in jüngster Vergangenheit neue Siedlungen und Gewerbegebiete in Städten ohne Rücksicht auf künftige 20

Ministerium für Infrastruktur und Raumplanung (MIR): Verkehrsstatistik: Eisenbahnnetzlänge. www.mir.brandenburg.de.

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Erreichbarkeit ausgewiesen – und oft ohne Chancen auf eine wirtschaftliche Auslastung. So sind viele der mit jeweils bis zu 50 Millionen Euro EU-Mitteln geförderten kommunalen Gewerbeparks des Landes – etwa in Sergen, Storkow, Kyritz, Pritzwalk und Lauchhammer nicht einmal zu einem Viertel ausgelastet.21 Im gegenwärtigen kommunalen Finanzierungsmodell können die Gemeinden Einnahmen einzig aus Gewerbegebieten und aus der Ansiedlung neuer Bürger, möglichst in Eigenheimen, erwirtschaften – obwohl in Wahrheit die Kosten-NutzenRechnungen solcher Erschließungsmaßnahmen bestenfalls neutral sind.22 Diese Einseitigkeit der Einnahmemöglichkeiten führt dazu, dass in Städten wie Teltow (Fläming) in der Peripherie neu gebaut wird, zugleich aber funktionierende innerstädtische Gebiete schrumpfen – und dadurch neue Probleme schaffen.23 Schon in der DDR entstanden auf der grünen Wiese Neubaugebiete, in denen häufig die Werktätigen für künstlich angesiedelte Industriebetriebe untergebracht wurden. Viele dieser Plattenbausiedlungen haben mit dem Strukturwandel seit der Wende ihre Existenzberechtigung verloren. Leerstand verursacht hohe Kosten. Sind Gebäude unterausgelastet, kommt es zur starken Erhöhung der Aufwendungen für Ver- und Entsorgung, für Heizung und Instandhaltung. In den Jahren 2001 bis 2005 wurden gut 122 Millionen Euro für den Rückbau nutzlos gewordener Gebäude im Rahmen des „Stadtumbau Ost“ von Bund und dem Land Brandenburg bereitgestellt. Doch dieses Programm bringt für die Zukunft nicht ausreichend Entlastung, weil erneut ein Teil der heute noch bewohnten Gebäude verwaist sein wird. Einige Dörfer und Städte würden dann verstreuten Siedlungen mit weitläufigen Brachen gleichen. Dazu kommt, dass ein Rückbau, der die problematischen Versorungsnetze nicht noch weiter ausdünnt, sondern kappt, nicht möglich ist, weil einige (private) Gebäude bewohnt bleiben. Auch der Rückbau kann somit die Infrastrukturkosten pro Einwohner weiter ansteigen lassen. Verwaltung: Stetige Frontbegradigung Die Administration reagiert auf solche Entwicklungen „begleitend“. Sie zieht sich – meist zeitlich verzögert – aus den schwindenden Bereichen zurück. Die Zahl der Gemeinden wurde in Brandenburg seit 1991 stetig von 1479 auf 421 verkleinert; die

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Staatskanzlei des Landes Brandenburg, Referat Demografischer Wandel (2005): Strukturatlas. Tafel 7.5: Geförderte Gewerbegebiete 1991 bis 2003, www.stk.brandenburg.de. 22 Stiftung Europäisches Naturerbe u. a. (2006): Aktiv für Landschaft und Gemeinde. Leitfaden für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung. Bonn, S. 15. 23 Deutscher Naturschutzring u. a. (2007): Älter, weniger, weiter weg. Demografischer Wandel als Gestaltungsaufgabe für den Umweltschutz. Bonn, S. 37.

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Zahl der Orte mit Zentrumsfunktionen von etwa 150 auf 50 reduziert24 – zu Lasten der ehemals 115 „Grund- und Kleinzentren“.25 Schon heute müssen dadurch vor allem die Bürger der peripheren Regionen bis zu 90 Minuten mit dem ÖPNV zum nächsten Mittelzentrum fahren.26 Oft sind sie mehr als zwei Stunden zum nächsten Oberzentrum oder nach Berlin unterwegs.27 Die Regierung ist zufrieden mit ihren Konzentrationserfolgen und den damit verbundenen Einsparungen. eGovernment, mobile und temporäre Angebote von Verwaltungsfunktionen sollen den weniger präsenten Staat künftig genügend tief in der Fläche verankern helfen. Mit der Reduktion auf vergleichsweise wenige Orte mit vertiefter Daseinsvorsorge hat das Land in der Tat die einzig mögliche Entscheidung getroffen. Doch bergen die mit einem Abbau von Daseinsfürsorge in Verbindung stehenden notwendigen Konzentrationsschritte auch ihre Risiken. Doch selbst wenn sich denkbare Lösungsvorschläge (siehe Abschnitt 4) als hilfreich erweisen, werden sich bestimmte Regionen nicht mehr profilieren können. In diesem Fall muss das Land eine Strategie finden, wie sich der Abbau staatlicher Leistungen so weit wie möglich vorantreiben lässt, ohne die Einhaltung gewisser minimaler Standards einzuschränken – etwa Qualitätsstandards der gesundheitlichen Versorgung, Lerninhalte in Schulen, Qualitätsstandards der Wasserver- und -entsorgung, Bauleitplanung, Rettungsdienst (s. Abschnitt 3). Bürgergesellschaft: notwendig aber unzureichend Ein oft beschworenes Mittel gegen die Flucht des Staates aus Aufgaben und Leistungen, die er nicht mehr finanzieren kann, ist ein stärkeres Engagement der Bürger. Statt „Leistung“ soll der Staat nur noch „Gewährleistung“28 bieten. Für die darüber hinaus gehenden Aufgaben organisieren sich die Bürger selbst. Doch sind unter den herrschenden Auffassungen staatlicher Daseinsvorsorge – und nicht zuletzt mit dem Erbe der in der DDR herrschenden Totalversorgungsmentalität – bürgergesellschaftliche Anstrengungen und Erfolge in Brandenburg nicht überwältigend. 24

Stuke, Angelika (2007): Demografischer Wandel in Brandenburg. Ursachen – Folgen – Strategien. Vortrag auf dem Ifok-Fachdialog „Folgen des demografischen Wandels für die Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik“. Berlin, 25.04.07. 25 Metzner, Thorsten (2007): „Berlin strahlt aus.“. Der Tagesspiegel, 28. 02. 2007, http://www.tagesspiegel.de. 26 Staatskanzlei des Landes Brandenburg, Referat Demografischer Wandel (2005): Strukturatlas. Tafel 4.6: Reisezeiten zum nächsten Ort mit mittelzentralen Funktionen in Brandenburg 2003. www.stk.brandenburg.de. 27 Staatskanzlei des Landes Brandenburg, Referat Demografischer Wandel (2005): Strukturatlas. Tafel 4.5: Reisezeiten nach Berlin bzw. zum nächsten Oberzentrum in Brandenburg 2003. www.stk.brandenburg.de. 28 Stuke, Angelika (2007): Demografischer Wandel in Brandenburg. Ursachen – Folgen – Strategien. Vortrag auf dem Ifok-Fachdialog „Folgen des demografischen Wandels für die Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik“. Berlin, 25.04.07.

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Zwar sind 33 Prozent der Brandenburger Bevölkerung bereits in irgendeiner Form ehrenamtlich engagiert (2004). Besonders die Gruppe der 30- bis 59-Jährigen zeichnet 29 sich durch hohen Einsatz – vor allem unter den Frauen – aus. Aber die Jüngeren, die

eine Bürgergesellschaft der Zukunft aufbauen könnten, fehlen allerorten. Dazu kommt ein scheinbares Paradox: Solange der Staat, wenn auch immer reduzierter, die Versorgungshoheit für sich beansprucht, wird sich ein tief greifender Bürgereinsatz nicht formieren. Erschwerend wirkt in Brandenburg auch die vergleichsweise Armut der Bevölkerung, die nicht wie anderswo etwa zur Gründung einer Bürgerstiftung auf die Vermögen zahlreicher Mitbürger zählen kann. Lokale Bürgerstiftungen in ostdeutschen Kleinstädten verfügen im Schnitt nur über ein Vermögen von 30.000 Euro, aus dessen bescheidenen Erträgen sich keine erfolgreiche Stiftungsarbeit finanzieren lässt. Die Bürgergesellschaft wird vor dem Hintergrund der herrschenden Organisationsstrukturen die Verhältnisse im Jahre 2030 nicht entscheidend verbessern, sondern allenfalls punktuell einige Härten abfedern können. Staatshaushalt: Kollaps programmiert Zieht man die Zuflüsse des Länderfinanzausgleichs und verschiedene staatliche und europäische Strukturhilfen ab, verzeichnet Brandenburgs Haushalt doppelt so viele Ausgaben wie eigene Einnahmen.30 Die Logik des Bevölkerungsschwundes hat freilich zur Folge, dass diese Einnahmen stetig sinken werden. Hier ist Brandenburg jedoch anderen Bundesländern mit ähnlichen demografischen Problemen gegenüber dadurch im Vorteil, dass Wirtschaft und Demografie im Berliner Speckgürtel weiterhin stabil bleiben beziehungsweise sogar wachsen werden. Dennoch können daraus resultierende Einnahmen kaum die in den riesigen peripheren Räumen notwendigen Ausgaben ausgleichen. Vielmehr wird die Wirtschaftskraft der Wuchsregion eher unter der Lähmung des Außenraumes leiden. Mit dem vorgesehenen Auslaufen der Strukturhilfen 2019 (Solidarpakt II) scheint ein funktionsfähiger Haushalt nicht mehr denkbar, zumal die demografische Entwicklung nicht mittelfristig umzukehren ist. Dazu werden zusätzliche Lasten unter anderem durch Pensionen kommen. In den nächsten 40 Jahren werden alte Menschen angesichts der steigenden Lebenserwartung

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Gensicke, Thomas/ Geiss, Sabine (2006): Freiwilliges Engagement in Brandenburg 1999-2004 im Trend. Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftliches Engagement. TNS Infratest Sozialforschung. München, S. 7. 30 Ministerium der Finanzen. Vergleich Einnahme- und Ausgabestruktur des Landeshaushaltes 2006. www.mdf.brandenburg.de.

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ihre Altersversorgung für einen fast anderthalb mal so langen Zeitraum wie heute beziehen.31 2030 wird jeder dritte Brandenburger im Rentenalter sein. Die Antwort auf solche Herausforderungen heißt meist: Haushaltskonsolidierung und Schuldenreduzierung, damit kommenden Generationen nicht noch höhere Lasten aufgebürdet werden. So vernünftig diese Überlegung ist, kann das Sparen weitere negative Rückkopplungen verursachen und die Lage weiter verschlechtern. Spätestens im Jahre 2030 könnte Brandenburg somit unausweichlich von einer massiven Alimentierung durch die reicheren Bundesländer abhängig sein. Weil zugleich fest steht, dass ein solcher Geldtransfer – wie hoch auch immer – die dann bestehende Systemlage nicht zu ändern vermag, stellt sich schon heute dringend die Frage: Wofür – das heißt für welches veränderte Anreizsystem – sollte das Land die derzeit noch als Ausgleich überwiesenen Mittel verwenden? Wie sollte es bereits jetzt seine Ausgaben lenken, um einen Weg aus der Schrumpfungsfalle zu finden? Einem solchen zukunftsorientierten Modell werden wir uns in Abschnitt 4 zuwenden. Natur und Landbau: Ein bisschen Öko, ein bisschen Gen Der Landbau in Brandenburg ist bis heute durch die kollektiven Strukturen der ehemaligen DDR geprägt: durch riesige, oft hart an der Grenze der Wirtschaftlichkeit arbeitende Agrargenossenschaften. Diese betreiben eine industrielle Landnutzung. Brandenburg ist daher einerseits Pionier im umstrittenen Einsatz gentechnisch veränderter Ackerpflanzen. Parallel dazu hat sich andererseits in Brandenburg in den letzten anderthalb Jahrzehnten eine lebendige Öko-Landbauszene entwickelt. Diese konnte im Rahmen der vor kurzem geänderten Gesetzgebung noch einmal an Aufwind gewinnen, muss aber beständig gegen die Konkurrenz einer industriellen Landnutzung kämpfen. Eine nachbarschaftliche Koexistenz von Biolandbau und Gentechnikpflanzen ist jedoch unter der bisherigen Rechtslage nicht möglich. An diesem Punkt werden darum gerade die Weichen für die Zukunft gestellt. Für Brandenburg ist künftig eine wieder stärkere Dominanz des großtechnischen Anbaus – unter anderem von Energiepflanzen – denkbar. Da aber grüne Gentechnik und Ökolandbau sich nicht nebeneinander betreiben lassen, würde eine solche Entwicklung ebenfalls als Verstärker des Schrumpfens wirken. Denn anders als der arbeits- und

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Stuke, Angelika (2007): Demografischer Wandel in Brandenburg. Ursachen – Folgen – Strategien. Vortrag auf dem Ifok-Fachdialog „Folgen des demografischen Wandels für die Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik“. Berlin, 25.04.07.

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personalaufwendige Biosektor ist der großtechnische Landbau energieintensiv und benötigt teure Infrastruktur, schafft aber wenige Arbeitskräfte und belässt die Gewinne kaum in der Region. Andererseits wird ein Teil der ehemaligen landwirtschaftlichen Fläche gar nicht mehr bewirtschaftet. Heute sind viele Grenzertragsstandorte aus der Nutzung gefallen, werden aber teilweise unter hohem Aufwand und mit EU-Subventionen künstlich als Brachen offengehalten. Hier wird die Natur teuer – und mit schädlichen Nebeneffekten, wie einer zusätzlichen Kohlendioxid-Freisetzung der Böden – gepflegt, statt ihre Dienste (Erholungswert, Bereitstellung von Leistungen wie CO2-Fixierung, für die anderswo in teure technische Maßnahmen investiert wird) gewinnbringend zu nutzen. Brandenburg ist enorm reich an ursprünglichen Naturlandschaften und hat mit 30,6 Prozent der Landesfläche einen hohen Anteil an Großschutzgebieten.32 Zurzeit erhöht sich dieses Naturpotenzial noch durch die demografische Veränderung – wenn auch nicht proportional zur Bevölkerungsabnahme. Vielerorts sind verschwunden geglaubte Arten zurückgekehrt.33 Die Stärkung der Natur ist also unter den gegebenen Umständen einer der wenigen Bereiche, die durch den demografischen Wandel keine neuen Probleme entfalten, sondern aus sich heraus bereits Chancen generieren, die aber noch kaum genutzt werden. Touristen: Wer fährt nach Brandenburg? Eng an die Potenziale Brandenburger Naturlandschaften schließt sich die Attraktivität des Landes für Reisende, besonders aus dem Berliner Stadtgebiet an. Zum einen vermag die beschriebene Ursprünglichkeit viele Menschen anzulocken, die ein gutes und ökologisch nachhaltiges Leben auf dem Lande genießen wollen. Doch dieses Potenzial hat Brandenburg als Nah- oder auch Fernziel bei weitem nicht so weit entfaltet, wie es denkbar wäre. Unterkunftsmöglichkeiten, Bewirtung, Empfang im Lande sind unterdurchschnittlich und gelten vielerorts als abschreckend, Gastronomie und Übernachtungsmöglichkeiten mit einem hohen Kulturstandard sind abseits der Landeshauptstadt rar. Der Eindruck von Trostlosigkeit überwiegt vielerorten – obwohl Brandenburgs einzigartige Kulturdenkmäler wie Kirchen, Klöster, gut erhaltene Innenstadtbilder (oft mit großem Aufwand restauriert) eine hohe Attraktivität entfalten könnten. Sie sind als 32

Succow, Michael (2000): Zehn Jahre danach. Der Weg der Großschutzgebiete im Osten Deutschlands. In: Naturschutz heute 3, www.nabu.de. 33 Succow, Michael, persönliche Mitteilung.

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Wiege Preußens, aus dem der moderne deutsche Staat hervorging, ein Zentralstück nationaler kultureller Identität. Aber gerade die Berliner Kreativen haben das Umland als inspirierenden Wohnort und erholsamen Ferienort noch nicht so wahrgenommen, wie es möglich wäre. Bei „weichen Faktoren“ wie diesem entfaltet Brandenburg nur eine schwache Attraktivität. Darum wird auch das touristische Potenzial Brandenburgs eher in die Abwärtsspirale hineingezogen als einen substanziellen Beitrag zu ihrer Überwindung zu liefern. Kernstädte / Hauptstadt: Stiller Ozean um eine finanzschwache Insel Das Verhältnis Brandenburgs zur Bundeshauptstadt macht die Lage dieses Landes zu einer Besonderheit in Deutschland. Im Grunde gibt es in Brandenburg nur eine einzige Stadt von nennenswerter Ausstrahlung: Berlin. Alle anderen Agglomerationen – mit Ausnahme von Potsdam – haben weniger Strahlkraft als gravierende Probleme. Cottbus, Eberswalde, Frankfurt/Oder, Brandenburg/Havel sind keine wachsenden Städte mit starker regionaler Ausstrahlung, auch wenn manche Wirtschaftsindikatoren zur Zeit nach oben zeigen, weil dort regional bestimmte Industrien konzentriert sind (im Großraum Cottbus etwa das Kraftwerk Jänschwalde / Vattenfall). Doch viele solcher Mittelstädte in den peripheren Regionen Brandenburgs werden im Jahr 2030 gegenüber 2004 bis zu 20 Prozent der Bevölkerung verloren haben34, eine höchst problematische Alterspyramide aufweisen und selbst für die existierenden Betriebe kaum mehr ausreichend Fachkräfte finden. Den Charakter einer wachsenden Metropole hat Brandenburg nur am Rand von Berlin. De facto ist der an Berlin angrenzende Kern des Landes ein Teil der Hauptstadt – nämlich ihre Peripherie, der Speckgürtel, in den die Familien der Mittelschicht immer noch ausweichen, weil es ihnen in der Hauptstadt zu teuer, zu laut oder zu dreckig ist; oder in dem Gewerbetreibende eine kostengünstige Infrastruktur antreffen. Hier wird heute und in Zukunft wirtschaftlich und demografisch Wachstum stattfinden – auch auf Kosten der finanziell angeschlagenen Hauptstadt. Eines der zentralen Probleme Brandenburgs ist darum die unnatürliche Insellage Berlins in seiner Mitte. An der Grenze der Bundesländer wird die Strahlwirkung der Metropole ins Umland zum Teil unterbrochen. Zusätzlich erschweren die an Berlin grenzenden, tortenstückartigen Landkreise Brandenburgs eine homogene Planung, weil sie fast immer in zwei Gebiete mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Qualitäten 34

Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik. Dezernat Informationsmanagement (Hrsg.) 2006: Bevölkerungsprognose des Landes Brandenburg für den Zeitraum 2005-2030. Potsdam, S. 23.

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zerfallen – in den „engeren Verflechtungsraum“ nahe bei Berlin und den entfernten „äußeren Entwicklungsraum“, der eigentlich als Schwundraum zu bezeichnen ist. Die Trennung von Berlin und Brandenburg ist noch in anderer Hinsicht unrentabel. So gibt es für zwei bevölkerungsmäßig kleine Bundesländer nahezu alle Verwaltungsinstanzen jeweils einmal. Und diese entscheiden nicht nur alles doppelt, sondern auch vieles anders. Trotz vieler Initiativen zur Verflechtung bestehen weiter Brüche. So strahlen zwar die S- und Regionalbahnlinien sternförmig ins Umland aus, nahräumlich enden aber viele Busse an den Landesgrenzen, was etwa den südlichen Berliner Bezirk Spandau von Potsdam künstlich abtrennt, obwohl dort die Brandenburger Landeshauptstadt näher liegt als der Berliner Bezirk Mitte. Während also Brandenburg händeringend versucht, seine Regionen durch „Anker im Raum“ zu befestigen, kann es den einzigen und wahren Anker nicht richtig fassen. Synergien durch geringere Informationskosten (nur noch eine Verwaltung) und Skaleneffekte (etwa höheres Gewicht im Bundesrat) und Netzwerkstrukturen (Kulturszene) werden verschenkt – obwohl sie schon in wenigen Jahren überlebenswichtig sein werden. Aber auch anders herum gilt: Die Probleme Brandenburgs sind die Probleme Berlins. Die deutsche Hauptstadt ist mit zurzeit knapp 16.000 Euro pro Einwohner so verschuldet wie kein zweites Bundesland. Berlin ist weltweit die einzige Metropole, die nicht wächst, sondern demografisch stagniert. Doch trotz seiner wirtschaftlichen Probleme – Berlin hat nach dem Krieg und nach dem Fortfall der Berlinförderung den Großteil seiner Industrie verloren – ist die Stadt im Hinblick auf „weiche“ Faktoren von extremer Attraktivität und zieht gerade heute wieder eine Welle internationaler Intelligenz an. Eine von Daniel Müller-Jentsch durchgeführte Clusterstudie für BerlinBrandenburg37 zeigt, dass die Berliner Stärken in dieser Kultur- und DienstleistungsBranche liegen, die sich trotz bürokratischer Hürden, geringer Förderung und öffentlicher Sparmaßnahmen eigenständig zu einer profitablen Größe organisiert hat. Diese ist ein Beispiel für eine Stärke, die es weiter zu stärken gilt – statt sie zu behindern. Brandenburg käme in einem auf Synergie ausgerichteten Verbund beider Länder die Rolle des Berliner Umlandes zu – als Naturreservoir und Naherholungsgebiet, als Lieferant nachhaltig erzeugter Lebensmittel und als Dependance (potenziell) wohlhabender Hauptstädter. In all diesen Bereichen ist zurzeit wenig Entwicklungszuwachs zu verzeichnen. Hier liegen riesige Potenziale brach. 37

Müller-Jentsch, Daniel (2004): Clusterstudie Berlin-Brandenburg. Eine wirtschaftliche Entwicklungsstrategie für die Hauptstadtregion. Unveröffentlichter Entwurf.

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Vom Problemgewirr zu den Problemknoten Fast alle Bereiche des sozioökonomischen Lebens in Brandenburg stehen unter dem Einfluss des Schrumpfens. Wachstum – sowohl der Bevölkerung wie auch der volkswirtschaftlichen Leistung – wird sich aufgrund dieses sich selbst verstärkenden Systems unter den gegebenen Vorzeichen nur noch an wenigen Stellen herbeiführen lassen. Wo aber liegen die Motoren einer solchen Entwicklung? An welchen Stellen laufen die verschiedenen Fäden der Probleme zusammen? Und wie lässt sich an einem solchen Problemknoten gestalterisch eingreifen, womöglich sogar ein Systemsprung erreichen? Problemknoten 1: Bildung Die bedeutendste Bündelung von Schwierigkeiten findet sich in der Bildung. Bildung ist ein Element, das in alle Bereiche der menschlichen Existenz abstrahlt. Sie ist damit zugleich ein „harter“ und ein „weicher“ Faktor. Der Bildungsgrad der Bevölkerung – die Lebensbildung jedes einzelnen – beeinflusst das Angebot an Arbeitskräften, ihre Fähigkeiten, die Art von Jobs, die sie nachsuchen. Aber er hat auch Auswirkungen auf die Art des Lebens, das Menschen für sich wünschen und das sie anderen zumuten wollen. Bildung ist somit ebenso ein Kulturgut wie ein Wirtschaftsgut – und ihr Fehlen in Brandenburg führt zu der beklemmenden Kombination, dass beide, Kultur und Wirtschaft, auf dem Lande schwinden. Gute Bildung schenkt Autonomie. Sie ermöglicht einer Person, in einer Situation mit einem Optimum an Entscheidungsfreiheit (nicht: totaler Freiheit) zu handeln. Das heißt, der Akteur kann das für ihn Bestmögliche in seiner Eingebundenheit in ein größeres System suchen. Bildung ist damit nicht nur Wirtschaftsfaktor und Humankapital, weil sie den Marktwert der Gebildeten erhöht, sondern auch eine Fähigkeit, die zur optimalen marktwirtschaftlichen Ressourcenverteilung (aber auch zu mehr Gerechtigkeit und zur Beurteilung von Nachhaltigkeit) unbedingt erforderlich ist. Bildung bedeutet ein Maximum an Subsidiarität, jener Lebensregel, die Selbstverantwortung vor staatliches Handeln stellt. Mangelnde Bildung verschärft nahezu alle Probleme des demografischen Wandels, während Investitionen in Bildung positive Auswirkungen auf beinahe alle Problembereiche haben. Leerstellen in der Bildungsbiografie sind kaum zu beheben und verursachen hohe Folgekosten, etwa Langzeitarbeitslosigkeit, Integrationsprobleme, 21

mangelnde Elternkompetenz. Die zur Kompensation nötigen Mittel sind wesentlich effizienter für Bildung schon vom frühen Kindesalter an einzusetzen. Der demografische Wandel in Brandenburg verschlechtert das Bildungsangebot. Zwar ist das Thema der frühkindlichen Betreuung hier wegen ausreichender Krippenplätze weniger ein Problem als etwa in Westdeutschland, doch bedeutet Betreuung ja noch nicht Bildung. Deren Resultate sind laut PISA-Studie nicht optimal. So lag etwa die Lesekompetenz der Brandenburger Schüler im Ländervergleich 2003 35 zusammen mit Hamburg an drittletzter Stelle. Das Brandenburger Bildungssystem

entlässt zu viele Schüler ohne Abschluss, vermag die Unterschiede der Elternhäuser kaum auszugleichen, kann Besonderheiten der Schüler wenig fördern – und bietet vor allem für Jungen zu wenige Möglichkeiten, angemessene Abschlüsse zu erzielen.36 Die stetige Ausdünnung des Schulnetzes verschärft diese Entwicklung weiter – und diese wird ihrerseits wieder vom durch die Schulschließungen beschleunigten Absterben dörflicher Strukturen angetrieben. Es ist unwahrscheinlich, dass sich eine bildungsbewusste Familie – also eine Familie mit einem potenziell höheren Einkommen und einem hohen Potenzial zu Bürgerverantwortung und kultureller Stabilität – angesichts dieser Situation freiwillig für ein Leben im ländlichen Brandenburg entscheiden würde. Auch die dem Land bescheinigte Kulturferne und mangelnde touristische Attraktivität ist ein Bildungsproblem. Die Bürgergesellschaft ist ebenfalls eine Bildungsfrage. Aber gerade Lernen – also seine eigenen Möglichkeiten entfalten zu üben – birgt in einer Region, die jahrzehntelang unter der Kommandowirtschaft gelitten hat, die wichtigste Chance für einen Neuanfang. Sich seelisch in einer Gegend zuhause zu fühlen erhöht das Bestreben, auch dort zu bleiben – so hat Bildung auch etwas mit Heimat zu tun. Aber selbst wenn eine verbesserte Bildung vor allem junger Menschen zur Folge hätte, dass deren Abwanderung zunähme, wäre das für die Betroffenen noch die bessere Alternative. Ein Brandenburger mit einer Beschäftigung in Stuttgart ist aus gesamtvolkswirtschaftlicher Sicht einem Brandenburger ohne Stelle in Schwedt oder Herzberg vorzuziehen. Problemknoten 2: (utopische) Wachstumsorientierung Der demografische Wandel kehrt die Prämisse um, unter der sich die moderne Politik

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Kröhnert, Steffen/ Medicus, Franziska/ Klingholz, Reiner (2006): Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? München, S. 26. 36 Kröhnert, Steffen/ Klingholz, Reiner (2007): Not am Mann. Von Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht? Lebenslagen junger Erwachsener in wirtschaftlichen Abstiegsregionen der neuen Bundesländer. Berlin.

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und ihre sozioökonomischen Instrumente entwickelt haben. Jahrhunderte lang konnte Wachstum – der erklärte Motor des marktwirtschaftlichen Modells und seine „unsichtbare Hand“ zur effizienten und gerechten Ressourcenverteilung – schlicht für gegeben angenommen werden. Jetzt bestimmt Schrumpfen die Realität. Fast alle sozioökonomischen Rückkopplungen führen heute im Saldo nicht zu mehr Wachstum, sondern zu einem beschleunigten Schwinden. Zum Teil haben sogar die alten Rezepte, die einst für mehr Wachstum sorgten, diesen Effekt. Beispielsweise kann das Ausweisen neuer zu verbrauchender Flächen – vor dem Hintergrund des Schrumpfens – zusätzliche Kosten verursachen. Dadurch würde die Infrastruktur für die Bürger noch teurer. Leer stehende Häuser würden die abschreckende Botschaft des Niedergangs verkünden und so zu noch rascherem Schrumpfen führen. Dennoch plant die öffentliche Hand in Teilbereichen nach wie vor wachstumsorientiert: Ein Beispiel ist der Bundesverkehrswegeplan, der trotz der demografischen Diskussion ohne Demografie-Prüfung verabschiedet wurde – offenbar in der Annahme, dass neue Verkehrsadern automatisch zu Wirtschaftswachstum führen. Auch der kommunale Finanzausgleich honoriert Wachstum dadurch, dass er Kommunen belohnt, denen es gelingt, Anwohner und Gewerbe anzusiedeln. Diesen Mittel stehen absurderweise Subventionsmittel gegenüber, mit denen sich die Kommunen des Wachstums der Vergangenheit entledigen können – etwa durch den Abriss von Wohnungen im Programm des Stadtumbaus Ost. Gemeinden in einem Schrumpfungsprozess haben durch diese Art des Finanztransfers keine realistische Chance, eigenständig der Abwärtsfalle zu entkommen. Eine wachstumsorientierte Mittelallokation in einem Schrumpfungsprozess ist sinnlos. Wenn nicht mehr Wachstum gefördert werden kann, muss die Verteilung der Finanzmittel den Weg zu einer ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltigen Gesundung bahnen. Das heißt, es muss für diese ein neues Anreizsystem geschaffen werden (siehe Teil 4). Problemknoten 3: Fehlen der regionalen Verwaltung und Finanzautonomie Ein mit dem nicht mehr adäquaten finanziellen Anreizsystem verwandter Problemknoten betrifft die mangelnde Regionalität der Entscheidungen und Planungen. Das Prinzip der Subsidiarität – das nicht nur der Verfassung zugrunde liegt sondern auch von Ökonomen als marktwirtschaftliche Voraussetzung begriffen wird, besteht darin, dass die Ebene, auf denen Ursachen und Wirkungen eines Problems auftauchen, 23

auch über die Lösung des Problems entscheidet.37 Genau das ist aber meist nicht der Fall. Beispiel Bildungspolitik: Die Gemeinde, in der eine Schule geschlossen wird, hat darüber keine Entscheidungshoheit – die hat das Land, das die Schule auch finanziert. Die Wirkung der Schließung spielt sich aber auf Gemeindeebene ab. So gibt es in Brandenburg zwar einerseits ein staatlich organisiertes Programm der „Kleinen Schulen“, um den Schwund in der Fläche einzudämmen – andererseits aber wird aufgrund staatlicher überregionaler Kontrollmechanismen die spontane Bildung freier Schulen extrem erschwert (siehe Abschnitte 3 und 4). Ähnlich verhält es sich mit der Infrastrukturplanung, mit großen Teilen der Gesundheitsvorsorge, letztlich auch mit dem Arbeitsmarkt und der Landwirtschaft. Oft weisen die einzelnen Planungsregionen so große innere Unterschiede auf – etwa im Falle der von Berlin sternförmig ausgehenden Landkreise, die halb Wachstumskerne und halb Schwundregionen sind –, dass eine zentrale Planung unweigerlich zu Verzerrungen führt. Die öffentliche Verwaltung ist nicht Bottom-up, sondern Top-down organisiert, hierarchisch, was insbesondere in Preußen zum historischen Erbe gehört. Neuerdings überlagern gesamteuropäische Regelungen diese Hierarchie um eine weitere Top-downVerwaltungsebene. Dazu kommt noch die sektorale Aufteilung verschiedener Aspekte desselben Problems auf die einzelnen Ministerien. Aber die vielfältigen Facetten des Schrumpfens lassen sich nur geschlossen bekämpfen – in einem regional gebündelten, nicht ministeriell aufgesplitterten Ansatz. Allerdings werden sich solche Lösungen und die dazu notwendigen Schritte von Region zu Region unterscheiden. Problemknoten 4: Verfehlte Inwertsetzung von Natur Brandenburg ist eine ländliche Region. Daran ändert nichts, dass in der Mitte eine der großen europäischen Metropolen liegt – und auch nichts, dass zu Zeiten der DDR viele Industriestandorte künstlich aufgewertet wurden – etwa Schwedt/Oder oder Eisenhüttenstadt. Brandenburg ist eine Region von großer natürlicher Schönheit – man denke an die Seen der Uckermark, die Havelseen, die Schorfheide, die Feldberger Seenlandschaft, die Lausitz, die stille Prignitz – Regionen, in denen sich in den letzten Jahren vielfach spontan und ungeplant Biodiversität wieder eingestellt hat. Der Wert dieser Natur wird vergleichsweise wenig wahrgenommen. In der Natur und der in sie eingebetteten Kulturlandschaft liegt jedoch eine große Chance regionaler 37

Daly, Herman/ Farley, Joshua (2006): Ecological Economics. Washington, S. 363.

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Identität, die sich nicht nur stabilisierend auf die Fläche auswirken kann, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor ist. Ein abgelegenes Dorf in schöner Landschaft ist ein Anziehungspunkt, gerade weil es abgelegen ist. Der Wert einer Kulturlandschaft liegt im Schnittpunkt zwischen Ökologie und Bildung. In Deutschland konnten bereits mehrere ländliche Regionen aus öffentlichen Gütern wie sauberer Umwelt, attraktiver Landschaft, Kulturerbe und lukullischer Attraktivität Kapital schlagen – etwa die Region Hohenlohe bei Heilbronn, das Weserland, die Mecklenburgische Seenplatte.38 Die hier weiter entwickelten Qualitäten sind jene weichen Werte, die in Brandenburg vergleichsweise schlecht entwickelt sind – aber gerade sie können zu harten Wirtschaftsfaktoren werden. Auf der Mecklenburger Seenplatte hat allein der MüritzNationalpark direkt und indirekt über 450 Arbeitsplätze geschaffen.39 Für einen hier möglichen Paradigmenwechsel ist Brandenburg bis heute unzureichend vorbereitet. Die schon lange angemahnte Nachhaltigkeitswende wird eine Rückkehr zu mehr Regionalität bedeuten müssen. Die künftigen ländlichen Wachstumsfaktoren werden unter anderem an der Schnittstelle zwischen (regionaler) Bioenergie-Erzeugung, nachhaltigem Landbau und (marktwirtschaftlich honorierter) Bewahrung von Ökosystemfunktionen liegen. Problemknoten 5: Ungeklärtes Verhältnis Berlin-Brandenburg Ein weiteres Dilemma, das allen Brandenburger Schwierigkeiten seinen eigenen Stempel aufprägt, ist die ungelöste Beziehung des Bundeslandes zu seinem eigenen Zentrum, das aus einem anderen Bundesland besteht. Die Ungereimtheiten, die sich aus der mangelnden Abstimmung, der doppelten Verwaltungsstruktur und der vielfach herrschenden Konkurrenz zwischen den beiden Ländern ergeben, sind bereits bei der Darstellung der Einzelprobleme zur Sprache gekommen. Die herrschende unnatürliche Spaltung steht beiden Ländern entgegen und wird daher de facto schon heute durch eine Reihe von Kooperationen (Rundfunk, Landesämter, ÖPVN (VBB) aufgeweicht – aber eben nicht aufgelöst. Die Trennung ist auch historisch ein Novum, dem Berlin-Status nach der Deutschen Teilung geschuldet. Die Hauptstadt wurde erst 1877 eigener Stadtkreis und war bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine Stadtgemeinde im Freistaat Preußen.

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BMELV (2006): So haben ländliche Räume Zukunft. Regionen Aktiv: Ergbnisse 2002-2005 und Neuer Ansatz bis 2007. Köln, S. 29. 39 So der Abteilungsleiter im BMU, Jochen Flasbarth, mündlich auf dem Syposium „Konto für den Kuckuck“, Berlin, 22. 05. 2007.

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Zentralproblem: zu wenig Autonomie Lassen sich die Problemknoten unter einer gemeinsamen Perspektive betrachten? Gibt es ein grundsätzliches Dilemma, dem viele der Schwierigkeiten des Landes Brandenburg zugrunde liegen? Auf den kleinsten Nenner gebracht zeichnet sich ab: Was real schrumpft und schwindet, sind Chancen. Darum muss man Chancen fördern – durch ein Anreizsystem, welches nicht plant sondern Möglichkeiten eröffnet. Dafür muss sich die Politik klar machen, dass ihr nicht gelingen wird, den Wandel aufzuhalten, indem sie einzelnen seiner Symptome gegensteuert. Diese Erfahrung hat die Brandenburger Landesregierung bereits gemacht und daher weitgehend alle Symptomkuren eingestellt (siehe Teil 3). Doch zur Dynamik des Wandels gehört, dass es schwer abzusehen ist, was sich wo und wann im Lande als ein neuer, halbwegs stabiler Zustand einstellen könnte. Ein solcher aber müsste für eine seriöse Planung voraussehbar sein. Weil die durch den demografischen Wandel ausgelösten raschen Veränderungen eben diese Stabilität ausschließen, ist vorausschauendes Planen kaum möglich. Es lohnt sich beispielsweise nicht, eine Kläranlage, die einst für 30.000 Einwohner dimensioniert war, auf 20.000 Einwohner umzubauen, wenn die Kommune letztlich auf 14.000 oder noch weniger Einwohner zusteuert. In dieser Situation bleibt nichts anderes übrig, als sich entweder permanent (und kostspielig) an neue Situationen anzupassen oder aber in der Planungsunsicherheit kein Manko, sondern eine Chance zu sehen. Die kreativen Ideen, mit den Umbrüchen effizient umzugehen, reifen eher auf jenen Ebenen, auf denen die Probleme auftauchen. Was aber den Akteuren auf solchen niedrigen, lokalen Handlungsebenen fehlt, ist Autonomie. Es zeigt sich, dass alle identifizierten Knotenpunkte Fragen der Autonomie berühren: So in der Bildung, die (hinsichtlich der Inhalte, der Schulstandorte, der Schulgrößen, der Verteilung von Mitteln zwischen etwa Lehraufwendungen und Schülertransport) bisher landesweit vorgeplant wird. So in der Frage der kommunalen und regionalen Budgetierung, in vielen Fragen der Infrastruktur, in Fragen der Inwertsetzung von Natur und ihren Dienstleistungen. Die Frage der Autonomie berührt auch die des eingeforderten bürgergesellschaftlichen Engagements. Wie hoch sind die bürgergesellschaftlichen Spielräume wirklich? Lohnt es sich für Bürger, sich zu engagieren oder werden die wichtigen Entscheidungen in Wahrheit auf höherer Ebene gefällt? Haben die Bürger die 26

Chancen, die sie wahrnehmen sollen, wirklich? In vielen Fällen – etwa bei der Gründung von Privatschulen, beim Ökolandbau, bei der regionalen Produktvermarktung – werden staatliche Regelwerke als entmutigende Freiheitseinschränkung erfahren, die Initiativen leicht ersticken können. Genau diese Initiativen sind aber wichtig, damit Modelle für den Umgang mit dem demografischen Wandel erprobt werden können. Mit Autonomie hat auch der wichtigste Aspekt der in den neuen Ländern herrschenden Massenarbeitslosigkeit zu tun: Erwerbslose haben die Autonomie verloren, einer selbst gewählten und als sinnvoll empfundenen Beschäftigung nachzugehen. Diese Frage der persönlichen Autonomie bestimmt aber die Zukunft der Arbeit und die Frage, mit welchen Mitteln die Politik die heute herrschende strukturelle Unbeschäftigung bekämpfen will: Gibt es so etwas wie ein Recht auf Teilnahme an der Einkommensverteilung? Eine Pflicht zur Arbeit? Das Anrecht, seine Persönlichkeit frei zu entfalten? Vieles spricht dafür, dass unter den herrschenden Bedingungen Vollbeschäftigung nicht herstellbar ist – auch das ist ein gewaltiger Einschnitt in der Autonomie des Einzelnen. Mit einem an alle gezahlten bedingungslosen Grundeinkommen beispielsweise könnten die negativen Anreize hoher Arbeitsplatzkosten abgebaut und so jene Tätigkeiten wieder attraktiv werden, die sozial oder ökologisch erwünscht, aber unter heutigen Marktbedingungen volkswirtschaftlich kaum bezahlbar sind – etwa die Pflege von Bedürftigen oder landwirtschaftliche Handarbeit. Die Freiheit, Sinnvolles zu tun und neue Tätigkeiten zu erfinden, würde stark erhöht. Ein-Euro-Jobs, Nachqualifizierungsmaßnahmen, der gesamte staatlich alimentierte „zweite Arbeitsmarkt“ bieten allem Anschein nach wenige Möglichkeiten, Arbeitslose dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt zurückzuführen. Im Gegenteil zementieren sie oft die Abhängigkeit der Arbeitslosen, führen zu Frustration und verschlingen mit ihrer Bürokratie wertvolle Mittel. Generell sollten nur Maßnahmen gefördert werden, mit denen Arbeitslosen zu mehr Autonomie und Initiative verholfen wird. Das Land sollte darum verschiedene alternative Modelle zur bisherigen Arbeitslosenversorgung erproben.40 Um die Kreativität der Bürger und der Gesellschaft zu wecken, ist es nötig, größere Handlungsfreiheiten auf allen Ebenen, von der persönlichen über die kommunale bis zur

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Hauff, Volker/ Bachmann, Günther (2006): Unterm Strich. Erbschaften und Erblasten für das Deutschland von morgen. Eine Generationenbilanz. Für eine hervorragende Übersicht der heute diskutierten Modelle s. auch Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, Hg. (2007): Reformkonzepte zur Erhöhung der Beschäftigung im Niedriglohnbereich. ifo Schnelldiens (Sonderausgabe) 60, Nr. 4.

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regionalen zu schaffen. Dieser Zugewinn an Autonomie bedeutet jedoch nicht, dass sich die öffentliche Hand aus ihren Pflichtaufgaben zurückzieht. Vielmehr sollte der Staat seine Planungsvorgaben und Standards an den demografischen Erfordernissen orientieren, für die Umsetzung den lokalen Akteuren aber die größtmögliche Handlungsfreiheit garantieren. Diese Aufteilung zu verwirklichen macht für die brandenburgische, aber auch für die Politik des Bundes ein radikales Umdenken erforderlich.

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3. Bewertung der Regierungsaktivitäten Wie die meisten anderen Landesregierungen Ostdeutschlands hat die Brandenburger Staatskanzlei die epochalen Umbrüche des demografischen Wandels erkannt. Anders als bei vielen Körperschaften in den alten Bundesländern und auch in Berlin wird über das Thema offen gesprochen – es ist „Chefsache“. Die Landesregierung hat verstanden, dass die Information der Bevölkerung oberste Bedingung ist, um den Problemen zu begegnen. Doch Reaktionen auf das Schrumpfen sind nicht nur verbal präsent. Die Landesregierung hat eine Reihe von zum Teil außergewöhnlichen Schritten unternommen und weitere geplant, um auf den Wandel zu reagieren. Besonders begrüßenswert ist die jüngste Einrichtung eines Nachhaltigkeitsbeirates im März 2007. Ein solches übergeordnetes Gremium ist aufgrund der Probleme, die sich nicht mehr an die einzelnen Ressorts halten, essentiell und muss für die Zukunft Brandenburgs eine zentrale Rolle spielen. Allerdings ist bisher unklar, welche Wirkung der Nachhaltigkeitsbeirat entfalten kann: Wird er eher die begleitende Rolle einer klassischen Enquête-Kommission einnehmen oder wird er so weit mit Kompetenzen ausgestattet, dass er wie ein echter Zukunftsrat (s. Abschnitt 4) handeln kann? Das Land versteht seine Aktivitäten dabei vornehmlich in den Alternativen von „Gegensteuern“ und „Gestalten“ – oder „Anpassen“. Diese Definitionen und die in ihnen zum Ausdruck kommende Auffassung über das politisch Machbare bedeuten freilich eine Verengung des Handlungsspektrums. Wichtig erscheint uns eine dritte Gestaltungslinie: Die des „Ermöglichens“. „Anpassen“ Seit den frühen 1990er Jahren zieht sich die Verwaltung Brandenburgs systematisch aus der Fläche zurück. Gemeinden werden aufgelöst, Schulen geschlossen, Straßen deklassiert, die Zahl der kleineren Zentren kontinuierlich gesenkt – aus finanziellen Gründen. Ziel ist eine demografisch angepasste Haushaltskonsolidierung. Das Land ist stolz auf diese Leistung und darauf, dass es der Bevölkerung die Notwendigkeit der Eingriffe ohne größere Widerstände vermitteln konnte. Doch der Rückzug wird nicht aufhören – eine Frontbegradigung nach der anderen wird künftig nötig werden. Diese Fluchtstrategie wirkt – wie in Teil 2 diskutiert – zwar finanziell entlastend, beschleunigt aber vielfach, was sie abmildern soll: den Tod der Fläche. Dennoch ist es 29

eine Tatsache, dass in manchen Regionen – etwa der Prignitz oder der nördlichen Uckermark – der Schwund nicht aufhaltbar ist. Die demografische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte wird an manchen Orten kaum noch eigene Entwicklungsdynamik zulassen. Bestimmte Gebiete werden sich, gerade wenn die von uns (siehe Abschnitt 4) vorgeschlagenen Maßnahmen zur Identifikation der je eigenen Stärken oder Schwächen von Regionen greifen, von der weiteren Entwicklung abkoppeln und beständig schrumpfen. Hier den Erosionsprozess künstlich aufzuhalten, wäre Mittelverschwendung. Die Regierung sollte daher zum einen entschieden das Überleben unterstützen (also vorhandene eigene Potenziale von Regionen nutzen und fördern – „Stärken stärken“). Zum andern sollte der Staat in Landstrichen, in denen sich die Lage kontinuierlich verschlechtert, den Rückzug bis hin zur Streichung von Versorgungs- oder Gewährleistungsstandards unterstützen – also eine Entleerung geradezu fördern. Angesichts rückläufiger Einwohnerzahlen und anhaltender Abwanderung ist diese Entwicklung aus rein arithmetischen Gründen unvermeidlich. Freilich darf das Land seine hoheitlichen Aufgaben und auch die medizinische Notfallversorgung nicht außer Kraft zu setzen. Unterhalb einer bestimmten Präsenzschwelle kann der Staat seine Funktionen nicht ausdünnen. Für diese Präsenz werden in den entlegenen Regionen dauerhaft finanzielle Hilfen nötig sein – und damit vermutlich Instrumente (Folgekonstruktionen des Solidarpaktes II), die zur Finanzierung auch die reicheren Gemeinden im übrigen Deutschland heranziehen. Um Aufwendungen für die verbleibenden Schwundstandorte so gering wie möglich zu halten, muss das Land versuchen, die Menschen dort, wo kein anderer Impuls möglich ist, zum Abwandern zu motivieren. Dies könnten etwa Prämien für das Verlassen einer sich entleerenden Region sein, die einem bestimmten Anteil des dort pro Einwohner und Lebenszeit im Schnitt eingesetzten Unterhaltungsbeitrages entsprechen. Der für solche Maßnahmen eingesetzte Betrag sollte aber möglichst nicht höher sein, als der Unterhalt der gegebenenfalls Verbleibenden pro Kopf kosten würde. Denkbar wäre auch, dass der Staat seinen Versorgungsanteil pro Kopf an die Bewohner ausschüttet, dann aber bis auf die existentiellen Bereiche (Ordnungskräfte, Rettungsflüge) alle anderen Vorsorgeleistungen wie etwa Be- und Entwässerung, elektrischen Anschluss, Aufrechterhaltung von Landstraßen mit Asphaltdecke und

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regelmäßiger Schneeräumung, Wegesicherungspflicht systematisch einstellt.41 Solche Maßnahmen werden jedoch wenig populär sein und möglicherweise sogar Widerstand in der Bevölkerung hervorrufen. Die Regierung muss also vermitteln, dass eine teilweise Entsiedelung auch ohne ihr Eingreifen unausweichlich ist – dann aber wesentlich teurer würde, sich schlechter beherrschen ließe und zu Lasten der Potentialförderung anderer Gegenden ginge. Der staatliche Rückzug aus manchen Regionen könnte umgekehrt das Ausschöpfen neuer Potenziale genutzt werden: So wäre denkbar, eine Landschaft zu einem Naturerlebnisgebiet „Wildnis“ umzuwidmen, das Besucherströme anziehen und somit gerade durch die Aufgabe staatlicher Leistungen neue Geldzuflüsse erschließen könnte. Als Leitlinie sollte immer gelten, jeder Reduzierung eine qualitiative Verbesserung in einem anderen Bereich entgegenzusetzen. „Gegensteuern“ Viele Brandenburger Regionen besitzen ausreichend eigenes Potenzial, dass sich in ihnen etwas Neues entwickeln könnte. Hier lässt sich also dem gegenwärtigem Verfall „gegensteuern“. Freilich versteckt sich in dieser Formulierung noch immer die Auffassung, dass sich die Symptome bestimmter Entwicklungen von außen aufhalten oder abmildern ließen. Typisch für solch einen Versuch, eine Entwicklung zu bremsen, war die langjährige kriterienlose Aufrechterhaltung der Unter- und Nebenzentren nach dem Gießkannenprinzip. Diese Förderung ist inzwischen abgeschafft, weil sie nicht in der Lage war, den Trend zu brechen. Dafür wären „Systemsprünge“ notwendig. Brandenburg braucht daher als Handlungsoption neben „Anpassen“ und „Gegensteuern“ etwas Drittes – eine gewendete Sicht darauf, wie der Staat Chancen zulassen und neue Stärken gezielt fördern kann. Eine solche Haltung lässt sich unter dem Stichwort „Ermöglichen“ fassen. Unter diesem Blickwinkel müssen alle Versuche des Landes, den Folgen des Schrumpfens zu begegnen, daraufhin bewertet werden, wie viel Raum sie für die Eigenständigkeit lokaler Entwicklungen lassen. „Ermöglichen“ bedeutet einer neuen Entwicklung von unten her Raum zu gewähren, nicht sie durch Planung zu verordnen. Die dafür notwendigen Entfaltungsspielräume können erst entstehen, wenn alte 41

Große Flächenstaaten haben mit solchen reduzierten Versorgungsmodellen schon lange Erfahrungen. Eine Anerkennung – und damit Förderungswürdigkeit – besonders dünn besiedelter und häufig demografisch benachteiligter Gebiete haben etwa die USA mit der Definition des „Frontier state“ geschaffen, bei dem die Bevölkerungsdichte und Infrastrukturnetz unterhalb eines bestimmten Grenzwertes liegen müssen. Siehe www.frontierus.org.

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Hemmnisse abgebaut werden. Dies ist in mancher Hinsicht das Dilemma der von der Landesregierung eingeleiteten Schritte. Brandenburg ist keinesfalls untätig und versucht mit vielen Initiativen, denen es nicht an Visionen mangelt, auf den demografischen Schwund zu reagieren. Aber diese Projekte gehen oft nicht weit genug oder es fehlt der Schwung für ein Gesamtkonzept, mit dem ein Systemsprung ermöglicht wird. Das führt dazu, dass sich auch gute und notwendige Ansätze schnell abnutzen, dass sie sich in feindlicher Umgebung verschleißen und die öffentliche Zustimmung verspielen. Das gilt besonders für Wege, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen beschritten werden. So hat Brandenburg erkannt, dass sich die Form der künftig nötigen Arbeit von den klassischen Produktionsberufen zu „weicheren“ Tätigkeiten verlagern und dort der Bedarf stark steigen wird. Um dem zu begegnen, organisiert und fördert das Land Arbeitsangebote in der Altenpflege. In dieser (ökonomisch) wenig rentablen Branche wird sich das Arbeitsplatzangebot von allein kaum ausweiten. Doch die mangelnde Nachfrage nach Arbeit bleibt bei dieser Art Maßnahme bestehen, die staatlichen Subventionen für diese Art von Arbeitsplätzen werden künftig weiter steigen müssen. Um zu ermöglichen, dass sich ein Angebot von Stellen selbst organisiert, muss Arbeit billiger sein. Dafür gilt es, die Lohnnebenkosten erheblich unter das bisherige Niveau zu senken – etwa durch eine negative Einkommenssteuer oder durch ein bedingungsloses Grundeinkommen (Bürgergeld, siehe Abschnitte 2 und 4). Nur dann könnten die Maßnahmen, mit denen das Land den klassischen Arbeitsmarkt ergänzt, wirklich Erfolg haben. Eine andere Methode bestünde darin, im Rahmen von Zukunftswettbewerben solche Modelle der Pflege und Betreuung alter Menschen zu prämieren oder zu bezuschussen, die etwas ganz anderes als den klassischen Pflegemarkt entwickeln – etwa Mehrgenerationenhäuser. Beide Verfahren, die Senkung der Lohnnebenkosten und die Förderung neuer Lebensmodelle, können sich ergänzen. Ein weiterer Versuch des Landes, den Arbeitsmarkt zu erschließen, ist die Initiative INNOPUNKT, mit der die Landesarbeitsagentur für Struktur und Arbeit Brandenburg GmbH (LASA) einzelne arbeitspolitische Maßnahmen wie die Weiterqualifikation weiblicher Fachkräfte fördert. Aber auch hier zeigt sich ein ähnliches Problem: Im Rahmen von INNOPUNKT ist für jeden einzelnen neuen oder auch nur gesicherten Arbeitsplatz sehr viel teure Planung und Abstimmung erforderlich. Alle Erfolge müssen mühsam gegen den Widerstand des Marktes errungen werden. Obwohl die LASA unorthodoxe Methoden einsetzt, etwa Ideenwettbewerbe ausschreibt, die Verflechtung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft fördert und versucht, möglichst viele regionale 32

Akteure zusammen zu führen und zu gemeinsamen Planungen zu motivieren, gelingt ihr so kein grundsätzliches Umsteuern. Wie auf dem Arbeitsmarkt verhindert das Übergewicht der bisher gängigen Verfahren auch in anderen politischen Feldern, dass sich Innovationen als neue Standards etablieren. Die unproduktive Konkurrenz von „alter Bürokratie“ und „neuen Wegen“ sei noch einmal am Beispiel der „Kleinen Schulen“ illustriert: Diese werden vom Land nur als ein letzter Ersatz für stillgelegte normale Grundschulen behandelt, nicht als die neue Regel für den dünn besiedelten Raum – obwohl sie genauso gut oder besser funktionieren als die klassische „große“ Grundschule. Private Initiativen aber, die ebenfalls kleine Schulen aufbauen wollen und die so das lebenswichtige Bildungsangebot in den Dörfern halten könnten, werden vom Staat tendenziell behindert. Sie müssen ihre Förderungswürdigkeit mühsam nachweisen. Diese privaten Initiativen zeugen aber gerade von dem Willen der Bürger, aktiv an der Bewältigung des demografischen Wandels mitzuwirken. Statt sich in einer Vielzahl von hilfreichen und kontraproduktiven Ansätzen zu verlieren – und diese alle auch irgendwie zu finanzieren – sollte hier die Regierung einen Plan erarbeiten, wie nach dem Modell der „Kleinen Schule“ regionale Autonomie ermöglicht werden und diese dann auf andere Bereiche des sozioökonomischen Lebens abstrahlen kann (siehe Abschnitt 4).

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4. Lösungsvorschläge 4.1 Erfahrungen aus anderen Bundesländern und aus anderen Nationen Welche Potenziale aber bietet Brandenburg in seiner heutigen und künftigen demografischen Lage? Welche Systemsprünge sind nötig? Welche möglich? Wo lassen sich welche Konzepte verwirklichen? Erfolgreiche Beispiele für eine kluge Anpassung an schwierige Entwicklungsbedingungen existieren in anderen Staaten, aber auch in anderen Bundesländern. Das Nachahmen erfolgreicher Ideen – bei der industriellen Produktentwicklung ein Standardverfahren – ist freilich in der Politik nicht sonderlich stark ausgeprägt. Aber es könnte helfen, kostspielige Experimente zu vermeiden und Fehler nicht zu wiederholen. 1. Selbstverwaltete Schulbildung in Schweden In den dünn besiedelten Bereichen Schwedens findet die Schulverwaltung nach einem Bottom-up-Ansatz statt: Die Kommunen entscheiden selbst, auf welche Weise sie ihre Mittel für die Bildung (im Schnitt 45 Prozent des kommunalen Haushaltes) einsetzen.42 Dass auch arme, abgelegene Orte über ein ausreichendes Budget verfügen, bewirken zunächst Ausgleichszahlungen reicherer Gemeinden. Bei den zugewiesenen Summen können die Orte aber frei entscheiden, ob sie etwa lieber in dezentrale Zwergschulen investieren möchten oder in ein komfortables Beförderungssystem für Schüler. Auch steht es ihnen frei, statt Busse zu bezahlen, lieber Eltern zu bezuschussen, die ihre Kinder selbst fahren. Die finanzielle Eigenverantwortung hat sich gut bewährt. Sie ist auch eine entscheidende Voraussetzung für die hierzulande – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Pisa-Studie – immer wieder geforderte stärkere Autonomie der Schulen. 2. Polikliniken im finnischen Lappland Im finnischen Norden ist die Versorgung mit Allgemein- und Fachärzten in wenigen zentralen Orten in den einstigen Polikliniken vergleichbaren Gesundheitszentren organisiert.43 Die Ärzte – und auch Anbieter von anderen Gesundheitsdiensten – sind

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Arefäll, Eva-Lana (2003): Schulische Infrastruktur und Schülertransport in ländlichen Gegenden Schwedens. In: Informationen zur Raumentwicklung 12, S. 7555-759. 43 Varesma-Korhonen, Leena (2003): Die Gesundheitsversorgung und das TelLappi-Projekt in Nordfinnland. In: Informationen zur Raumentwicklung 12, S. 767-769.

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dort angestellt. So bleibt eine relativ nahräumliche Gesundheitsversorgung bezahlbar. Spezialisten in den entfernten Universitätskrankenhäusern untersuchen die Patienten erfolgreich per Bildschirmkonferenz – so werden Kosten gespart und nur die wirklich schwierigen Fälle in größere Städte überwiesen. 3. Kommunale Landwirtschaft auf Brachen in Detroit Ein Vorbild für die Entleerung von Städten in den neuen Bundesländern findet sich an ungewohnter Stelle: in den USA. Die einstige Autostadt Detroit verlor in den letzten 50 Jahren die Hälfte ihrer Einwohner – rund eine Million.44 Ein Drittel des Detroiter Stadtgebietes besteht heute aus Ruinen und Brachen. Diese nutzen die Bewohner inzwischen zunehmend wie vor der industriellen Revolution: als Ackerland. Knapp hundert kommunale Landbaubetriebe stellen mitten in der ehemaligen Industriemetropole vor allem Gemüse zur direkten Vermarktung an den Verbraucher her – oft biologisch erzeugt, nachhaltig, energetisch günstig und gesund. Die kommunalen Gärten haben sich bewährt: Sie verbinden Nachbarn und schaffen Gemeinschaft, sie versorgen kostengünstig Arme mit hochwertiger Nahrung und sie helfen Verbrechen zu verhüten.45 4. Private Naturparks in Südafrika Private Firmen konnten in den letzen Jahren zeigen, wie sich mit der südafrikanischen Natur viel Geld verdienen lässt – und sie dabei auch noch geschützt werden kann. Im Gegensatz zu den meisten staatlichen Nationalparks sind viele private Reservate wie etwa die Phinda Private Game Reserve im Süden des Landes hochprofitabel.46 Die Nutzung als Naturerlebnis-Landschaft ist dabei oft wesentlich wirtschaftlicher als der Ackerbau, Bodenpreise stiegen in den betreffenden Regionen um das Zehnfache. Südafrika beschäftigt 1,3 Millionen Menschen in Naturschutz und naturschutzrelevanten Branchen. Aber auch in Deutschland lassen sich erhebliche Wirtschaftseffekte wie die 450 direkt oder indirekt vom Müritz-Nationalpark abhängigen Arbeitsplätze nachweisen.

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de Jong, Alex/ Schuilenburg, Marc (2006): Detroit: Connecting the needle with the City. In: Cross Reference, Den Hague, www.studiopopcorn.com. 45 McKibben, Bill (2007): Deep Economy. The Wealth of Communities and the Durable Future. New York. Siehe auch: www.detroitagriculture.org/ 46 Dörner, Ulf (2007): Parkmanagement in finanzschwachen Gebieten. Vortrag auf dem Symposion Konto für den Kuckuck, Berlin, 22. Mai 2007.

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5. Budgetverteilung entsprechend ökologischer Nachhaltigkeit in Brasilien In manchen brasilianischen Staaten wird nach der Strategie des ICMS ecológico eine Steuer auf Waren und Dienstleistungen erhoben und ein Teil der Einnahmen dann den Kommunen zugewiesen – und zwar in dem Maße, in dem sie ökologische Ziele wie den Schutz von Wassereinzugsgebieten und Wäldern verwirklicht haben. Dieses System ist sicher noch nicht ausgereift (pauschale Besteuerung ohne Steuerungseffekt), hat sich aber bereits als unbürokratisches und marktwirtschaftliches Instrument für den Umweltschutz bewährt.

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6. Selbstverwaltete Mikroregionen in Mexiko Einige ärmere Provinzen Mexikos hängen nicht länger von zentralen Entscheidungen ab. 263 mexikanische Mikroregionen – Dörfer mit ihren natürlichen Einzugsgebieten – können seit einem Pilotprogramm in den späten 1990er Jahren über die Verwendung ihrer Mittel selbst entscheiden. Das hat zu einer gestiegenen Identifikation der Bewohner mit ihren Regionen, einer nachhaltigeren Nutzung der Natur und einer effizienteren Verwendung der Gelder geführt. Schwerpunkt der regionalen Aktivitäten, die jeweils von einer bürgergesellschaftlich organisierten Initiative eingeleitet, aber von einem „Mikroregionskommitee“ quer zu bestehenden Verwaltungsstrukturen angeführt wurden, war die Verzahnung der Ziele mehr Ökologie, mehr regionale Vermarktung, nachhaltigere Nutzung der Natur durch eine auf einen bestimmten Raum und von dessen Bewohnern selbst definierte Nachhaltigkeitsstrategie. Nach dieser werden die vorgeschlagenen Projekte hinsichtlich einer Förderung bewertet.

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7. Bürgergesellschaftliche Organisation des Nahverkehrs in Österreich Unter dem Stichwort „Dorfmobil“ hat die demografisch benachteiligte österreichische Gemeinde Klaus an der Pyhrnbahn ein System des bürgergesellschaftlich organisierten Nahverkehrs entwickelt. Das auf Anruf bereitstehende Dorfmobil ist flexibel wie ein Privatauto, billig und gibt zugleich Unbeschäftigten eine Aufgabe zurück. Die Kosten sind erheblich geringer als beim ÖPNV, die Flexibilität ist größer, und über die gemeinsame Organisation und Nutzung werden Gemeinschaft und individuelle Verantwortung gesteigert.49 47

Daly, Herman/Farley, Joshua ( 2006): Ecological Economics. Washington, S. 420. Placed-Based Policies For Rural Development. The Micro-Regions Strategy, Mexico (Case Study), OECD 2003. Siehe www.undp.org/sgp/download/document/LatinAmerica/Mexico%20CPS%20(English).rtf 49 Meth, Dagmar (2003): Verkehrsversorgung dünn besiedelter Räume in Österreich – das Projekt Dorfmobil. In: Informationen zur Raumentwicklung 12, S. 745-749. 48

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8. Vorrangiger Zugang zum Breitbandnetz in Estland Das dünn besiedelte Estland hat nach dem Abzug der sowjetischen Besatzer umfassend und erfolgreich auf Zukunftstechnologien gesetzt. Dazu gehört, dass auch die estnische Provinz inzwischen hervorragend mit elektronischen Datenleitungen erschlossen ist. Dieses Engagement ist ein Faktor, der dazu beiträgt, Estland mit 2006 elf Prozent Wachstum, zum wirtschaftlich dynamischsten der drei baltischen Staaten zu machen.50 9. eGovernment und universelles Verwaltungsportal in Norwegen Wie andere skandinavische Länder, die traditionell dünn besiedelt sind, hat Norwegen seine elektronische Verwaltung massiv ausgebaut. Unter dem einheitlichen Zugang www.norge.no können die Bürger den Staat über das Internet erreichen und von dort aus eine Reihe von Dienstleistungen abfragen, Formulare ausfüllen und abschicken, Informationen über Rechte und Services einholen und die Homepage jeder Gemeinde betreten. In einem eAdminstration-Chat haben die Bürger die Möglichkeit, auf Fragen sofort eine Antwort der „anwesenden“ Mitarbeiter zu erhalten – in Sekunden, ohne Wartezeit. Durch einen einzigen einheitlichen Zugang zum Regierungsportal werden Informationszeiten erheblich verkürzt, doppelte Wege abgebaut und die Handlungsschwelle der Teilnehmer verringert. 10. Partizipative kommunale Finanzplanung in Brasilien Um die Effizienz der Mittelverwendung zu steigern, hat die brasilianische Millionenstadt Porto Alegre auf ein archaisches demokratisches Instrument zurückgegriffen: die Diskussion und Entscheidung der wichtigen Punkte durch alle Bürger, die sich angesprochen fühlen. Während dreier Tage im Herbst wird in großen Hallen besprochen, für welche Ziele die kommunalen Finanzen verwendet werden sollen – mit mehreren zehntausend Teilnehmern. Auf diese Weise konnten in Porto Alegre bisher für unerreichbar gehaltene Ziele verwirklicht werden, etwa die armen Außenviertel an das Busnetz anzuschließen. Partizipative Demokratie hat zu einer effizienten Mittelverwendung und einer effektiven Problemlösung geführt. Die beteiligten – oft armen – Menschen fühlen sich ernst genommen, können Verantwortung für ihre Gemeinschaft übernehmen, was oft dazu führt, dass neue Kräfte 50

Thielbeer, Siegfried (2007): Beispielhaftes Estland. FAZ, 07. März 2007, S. 1.

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mobilisiert werden, die in einer anonymen Bürokratie versickern oder längst resigniert haben – ein gerade in Brandenburg gravierendes Problem.51 11. Zukunftsräte in der Schweiz In den Schweizer Kantonen Waadt und Graubünden sowie in anderen Städten und Regionen der Eidgenossenschaft sind die ersten Zukunftsräte im Gesetz verankert worden. Diese „prospektiven Organe“ haben die Aufgabe, die politischen Entscheidungen auf ökologische, soziale und technische Zukunftsfähigkeit auch über eine Legislaturperiode hinaus zu prüfen. Zukunftsräte– in Schulen, Gemeinden, Regionen, Kantonen und dem Bund – sollen langfristig gangbare Strategien vorschlagen und politische Entscheidungen auf deren Auswirkungen auf unser künftiges Leben hin kontrollieren. Ein Zukunftsrat ist also ein Organ zur Selbstreflexion der Politik und ihrer Auswirkungen. Viele andere Schweizer Städte und Regionen planen ein solches Gremium – unterstützt von der Stiftung Zukunftsrat.52 Auch der von Jakob von Uexküll ins Leben gerufene internationale World Future Council (WFC) arbeitet daran, ein Netzwerk von Zukunftsräten in Ergänzung zu staatlichen, aber auch regionalen Parlamenten zu entwickeln. Der WFC hat sich insbesondere vorgenommen, Lösungsmöglichkeiten für Probleme, die bereits lange existieren und längst ausgiebig diskutiert werden – etwa regionale ökologische Wirtschaft, Einsatz erneuerbarer Energien, partizipative Demokratie, Geld- und Steuerreformen) in die Realität umzusetzen. 12. Pauschalierung von kommunalen Fördermitteln in Sachsen Um die Top-down-Bewilligungswege zu verkürzen, hat das Land Sachsen erste Versuche in die Wege geleitet, die Budgets der Kommunen nicht mehr zweckgebunden aufzustocken, sondern den Körperschaften pauschal Mittel zuzuweisen, über die sie selbst und lokal verfügen können. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Regionalisierung und dazu, das Problem auf der Ebene lösen zu lassen, an der es aufgetreten ist. 13. Unterstützung freier Schulen durch Stiftungen in Deutschland Allein 2006 förderte die Software-AG-Stiftung aus Darmstadt freie Schulen mit über

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Cassen, Bernard (1998): Brazil’s New Experiment. Participative Democracy in Porto Alegre. In: Le Monde Diplomatique, Oktober 1998, www.mondediplo.com. Siehe auch: MOST Clearing House Best Practices: The Experience of Participative Budget in Porto Alegre, Brazil. http://www.unesco.org/most/southa13.htm 52 ds1.dreifels.ch/zukunftsrat/

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sieben Millionen Euro. Diese Mittel ermöglichten die Neugründung von neuen Bildungsstätten und halfen über hundert anderen, innovative Projekte mit dem Ziel einer ganzheitlichen Bildung anzubieten oder ihre veralteten Gebäude zu sanieren. Eine Stiftung ist gerade im Bildungsbereich eine unbürokratische Form, neue Ideen zu verwirklichen, bei diesem Ziel aber eigene, nicht vorher festgelegte Wege einzuschlagen. Das Interesse der Stiftungen, mehr Bürgergesellschaft zu ermöglichen, lässt sich über ein spürbares Engagement in der Bildung besser als irgendwo anders verwirklichen. Schulstifte haben sich auch historisch bewährt: Sie waren bereits in vergangenen Jahrhunderten ein Weg, philanthropische und gesellschaftliche Interessen gemeinsam zu nutzen. (siehe Vorschläge im Abschnitt 4.2).

4.2 Lösungsmöglichkeiten und neue Konzepte Ein neues Modell für die Zukunft Brandenburgs Was kann das Bundesland aus diesen Beispielen lernen und wie lassen sie sich erweitern? Brandenburg braucht in vielen Bereichen Sprünge zu anderen Systemen, die besser an niedrige oder rückläufige Bevölkerungszahlen angepasst sind. Dabei gilt es anzuerkennen, dass Brandenburg einerseits an den demografischen Folgen des durch die Wende extrem beschleunigten Strukturwandels leidet, andererseits aber auch mit den allgemeinen Problemen zu kämpfen hat, die ländliche Regionen weltweit im Zeitalter der Globalisierung treffen. Wirtschaftlich liegen die ruralen Gebiete des OECD-Raumes überall im Rückstand.53 In vielen abgelegenen Regionen der Welt, die keine besonderen kulturellen oder landschaftlichen Schätze besitzen, zeichnet sich eine ähnliche Spirale aus Schrumpfung und Verarmung ab, wie sie Brandenburg droht.54 Daher kann das Land von Modellen lernen, die anderswo auf der Welt mit einer Aktivierung ländlicher Strukturen hin zu mehr Unabhängigkeit und Selbstständigkeit geführt haben. Wie aber lässt sich das Szenario für ein zukunftsfähiges Brandenburg denken? Grundlage aller Bemühungen muss sein, die Autonomie der Akteure zu erhöhen. Wir schlagen daher einen stark Bottom-up orientierten Ansatz in einem klar definierten rechtlichen Rahmen vor, bei dem weit mehr Freiheit als bislang auf den betroffenen unteren Ebenen angesiedelt ist. Das heißt: Für die lokalen Akteure bleiben Weg und 53

OECD (2003): Placed-Based Policies For Rural Development. The Micro-Regions Strategy, Mexico, S. 12. Zur vergleichbaren Situation in abgelegenen Gebieten der USA s. etwa The National Clearinghouse for Frontier Communities (2003): Frontier Youth: Living on the Edge. Santa Fé.

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Ziel unbestimmt – die Kriterien aber, unter denen Neues erreicht werden kann, werden definiert. Die Devise lautet für Brandenburg somit: mehr Freiheit – und mehr Vorgaben. Diese Idee setzt zentrale Prinzipien der Marktwirtschaft um und stellt bislang versteckte Fehlsubventionen ab. Ein gesundes Wirtschaftssystem gründet sich auf drei Kriterien: Erstens auf den richtigen Größenmaßstab, zweitens auf eine gerechte Verteilung von Dienstleistungen, Gütern und Wohlstand und drittens auf eine effiziente Verteilung der Produktionsfaktoren.55 Um eine sinnvolle Verteilung zu ermöglichen, gilt es zunächst, den Größenmaßstab – entsprechend den Kriterien ökonomischer, ökologischer und humaner Nachhaltigkeit – festzulegen. Denn die Frage nach dem Maßstab kann nicht der Markt alleine beantworten. Man denke etwa an soziale oder Menschenrechte, oder an das Maß, in dem die Natur für menschliche Zwecke dienstbar werden soll, ohne sie langfristig zu zerstören: Hier muss die Gemeinschaft, respektive die Legislative einen sinnvollen Rahmen setzen. Vorgaben sind darum für die nachhaltige Entwicklung eines sozioökonomischen Gesamtsystems nötig. Das Gemeinwesen muss zunächst erkennen, in welchem Rahmen ein prosperierendes, humanes und ökologisch verträgliches Leben sinnvoll ist. Auf der lokalen und individuellen Ebene aber ist die Freiheit der Akteure vonnöten, damit Güter und Dienstleistungen auf eine effiziente, individuelle, kreative und unbürokratische Weise an den Ort des Bedarfs gelangen. Dies erzwingt eine Abkehr von öffentlicher Durchführungsplanung. Die nötigen Vorgaben sollen keine staatlichen Richtlinien sein, sondern Entscheidungen über den Wert und die Menge einer Leistung, die dann marktwirtschaftlich verteilt wird. Dafür ein Beispiel: Um den Ausstoß von Luftschadstoffen zu senken, haben manche Länder eine insgesamt erlaubte Emissionsmenge festgelegt, den Verursachern bestimmte Anteile daran zugewiesen und dann den Handel mit diesen „Rechten auf Verschmutzung“ erlaubt. Luftverschmutzung kostet von nun an Geld. Das Recht dazu ist zu einem knappen Gut geworden, das sich verkaufen lässt – etwa um Abgasreinigungsanlagen zu finanzieren. Auf diese Weise konnten die USA ihre SO2Emissionen stark reduzieren – ganz ohne Verwaltungsvorschriften. Eine andere Möglichkeit, Zwecke zu definieren, aber den Weg unbestimmt zu lassen, verfolgen Stiftungen: Sie vergeben Fördermittel für Projekte, die den Stiftungszwecken entsprechen, lassen den Mittelempfängern aber freie Hand beim Erreichen der Ziele. Deren Handeln wird nicht reguliert, sondern von außen evaluiert, sodass eine 55

Daly, Herman/ Farley, Joshua (2006): Ecological Economics. Washington.

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Rückkopplung entsteht: Erfolgreiche Mittelverwendung hat mehr Mittel zur Folge. Bei unserem Vorschlag handelt es sich um ein ähnlich kombiniertes Bottom-up und Top-down-Modell. Das Gemeinwesen – hier also das Land – gibt die Standards vor, die seiner demografisch, wirtschaftlich und ökologisch dauerhaften Entwicklung zugrunde liegen sollen. Die Maßstäbe dafür sind vielfach bereits bekannt und müssen nur umgesetzt werden. Um aber eine effiziente Umsetzung zu gewährleisten, müssen die Ziele als Anreize so auf die Bürger wirken, dass diese die maximale Freiheit haben, über die Art der Umsetzung selbst zu entscheiden und ihre Kreativität zu entfalten. Das heißt: Die gewünschte Richtung muss für die Akteure mit wirtschaftlichen Vorteilen, jeder unerwünschte Effekt hingegen mit materiellen Nachteilen verbunden sein. Häufig kann ein Problem von den Betroffenen gelöst werden. Ein Gemeinwesen wird sich darum von selbst – wie von „unsichtbarer Hand“ gesteuert – auf die Erfordernisse einer Entwicklung einstellen, wenn entsprechende Handlungen Vorteile bringen und diese auf unbürokratische Weise ausgestaltet werden können. Welche neuen Anreize sind aber dafür in Regionen des wirtschaftlichen und demografischen Schrumpfens nötig? Kann ein neues Anreizsystem die alte Wachstumspolitik überhaupt ersetzen? Ist Wachstum nicht eine Art Naturgesetz, ohne das ein Gemeinwesen gar nicht bestehen kann? Die Antwort auf die letzte Frage lautet sicher nein. Gerade die boomende Marktwirtschaft ist langfristig weder ökologisch noch human nachhaltig. Spätestens seit das dynamische Wachstum auch ehemalige Entwicklungsländer erfasst hat, ist klar, dass die Ressourcen endlich und die „Senken“, also die Plätze für den natürlichen Abbau von Abfallstoffen und Treibhausgasen begrenzt sind. In gewisser Weise ist ein – quantitatives – Schrumpfen also dringend geboten. Politiker haben vielerorts erkannt, dass sie sich von einer Wachstumsfixierung lösen müssen. Weil aber quantitatives Wachstum, Wohlstand und Entwicklung auf einem einzigen Blatt zu stehen scheinen, befürchten sie, bei einem Abschied vom Wachstum jede Möglichkeit auf Entwicklung aufzugeben. So hat die Bundesregierung erst jüngst wieder die Wende zur Nachhaltigkeit beschworen, macht möglichst hohes Wirtschaftswachstum aber weiterhin zum Leitbild. Hier kommt der demografische Wandel ins Spiel. Was für die davon betroffenen Regionen bittere Not ist, nämlich schrumpfen zu müssen, wird angesichts der negativen Folgen des Wachstums zu einer Chance. Die aber steht all jenen Regionen gerade nicht zur Verfügung, denen die Segnungen und Verheißungen wirtschaftlicher Dynamik 41

derzeit Nutzen bringen. Der demografische Schwund zeigt hier somit einen Ausweg, der aus der Not eine Tugend machen kann. Fast immer sind Anpassungslösungen an den demografischen Wandel zugleich die ohnehin geforderten Nachhaltigkeitslösungen (etwa der Ersatz der zentralen Abwasserentsorgung durch Biogaserzeugung oder die Aufgabe von überbauten Flächen zum Nutzen der Artenvielfalt). Noch ein Umstand spricht für das Potential eines neuen sozioökonomischen Leitbildes anstelle der Umwelt und Klima bedrohenden klassischen Wachstumsphilosophie: Rein quantitative Wirtschaftsdynamik jenseits einer bestimmten Qualitätsschwelle vermag die Menschen schon lange nicht mehr glücklicher zu machen. Was das Wohlergehen der Menschen betrifft, hat sich das „Mehr“ vom „Besser“ längst entkoppelt. Untersuchungen ergeben, dass in den letzten fünfzig Jahren zwar das BIP der Industrieländer, vielfach aber nicht das subjektive Wohlergehen ihrer Bewohner gewachsen ist. Das ist sogar oft gefallen56. Das heißt: Solange durch quantitatives Schrumpfen nicht zentrale Bedürfnisse der menschlichen Existenz wie Geborgenheit, Gesundheit und Sicherheit verletzt werden, muss Schrumpfen keinen Abstrich an Lebensqualität bedeuten. Im Gegenteil: Für viele Menschen in den benachteiligten Regionen ist heute die Wachstumsorientierung eine Belastung. Gesellschaftlich nötige Arbeiten wie Pflege und Fürsorge sind gerade deshalb so teuer, oft unbezahlbar geworden, weil sie in der klassischen ökonomischen Bilanz keinen Mehrwert schaffen. Empfehlungen für eine Zukunftswende in Brandenburg Im Folgenden wollen wir im Detail darstellen, welchen Bedingungen ein demografiefähiges Anreizsystem folgen muss. l. Bildung massiv fördern Mangelnde Bildung verschärft so gut wie alle Probleme des demografischen Wandels – aber umgekehrt wirken sich Investitionen in bessere Betreung und Bildung auf fast alle Bereiche positiv aus. Der Bildungshaushalt sollte zum wichtigsten Finanzposten des Bundeslandes gemacht werden – in jeder einzelnen Kommune, aber auch im Landeshaushalt. Zugleich muss die Verwaltung ein hohes Maß an Subsidiarität gewähren: Wie im Beispiel Schwedens muss jede Schule selbst entscheiden dürfen, wie die Mittel eingesetzt werden. Spiegelbildlich sollte auch höheren Bildungseinrichtungen 56

McKibben, Bill (2007): Deep Economy. New York; Diener, Ed/ Seligman, Martin E. P. (2004): Beyond Money. Toward an Economy of Well-Being. In: Psychological Science in the Public Interest 5 (1).

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(Universitäten, Fachhochschulen) Autonomie gewährt werden. Eine Evaluation der Methoden und ihrer Erfolge muss durch staatliche Vorgabe der Ziele und Prüfung der Ergbnisse stattfinden. Sinnvoll dafür ist unter anderem ein Zentralabitur. 2. Verwaltung zur Dienstleistung umbauen und eAdministration einrichten Bei Verwaltungsreformen ist das sogenannte „Human Benchmarking“ derzeit sehr populär. Dabei wird geprüft, wie effizient vergleichbare Organe in jeweils unterschiedlichen Länderverwaltungen ihr Personal einsetzen („Brauchen wir diesen Arbeitsplatz wirklich? Wieviele Mitarbeiter hat ein anderes Bundesland für diese Aufgabe?“). Noch einen viel größeren Effekt könnte es haben, wenn Brandenburg ein bürokratisches Benchmarking einführen würde – eine Prüfung, wieviel bürokratischen Aufwand ein Gesetz verursacht. Dafür gibt es schon Vorbilder. So muss etwa in den Niederlanden jedes neue Gesetz darauf hin geprüft werden, ob es Bürokratie abbaut. Wenn es voraussichtlich mehr davon schafft, ist es nicht verfassungsgemäß. Bürokratie verursacht nicht nur Mühe, sondern vor allem Kosten – nicht nur beim Staat, der für gegebenenfalls unsinnige Prüfverfahren Angestellte bezahlen muss, sondern auch bei der Wirtschaft und beim Steuerzahler – etwa wenn die Ausstellung eines Gewerbescheins 40 Tage dauert. Brandenburg sollte darum die Verwaltung in eine Dienstleistungsstruktur umbauen, bei der zum Beispiel die generelle Regel gelten könnte: „Was in einer bestimmten Frist nicht bearbeitet ist, gilt als genehmigt.“ Zusätzlich sollte das Land eine koordinierte staatliche Offensive zur Verbesserung und Vereinheitlichung der elektronischen Verwaltung starten. Die Bürger in der Peripherie müssen über ein universelles Zugangsportal alle Funktionen der Verwaltung rasch, sicher und ohne Barrieren erreichen können – so, wie es manche skandinavische Länder schon heute erfolgreich praktizieren.57 Voraussetzung ist die ausnahmelose Ausstattung des gesamten Landes mit Möglichkeiten zum Breitbandzugang. 3. Zukunftsräte einrichten Nach dem Vorbild des Word Future Councils und der ersten Zukunftsräte in der Schweiz sollte Brandenburg so rasch wie möglich einen landesweiten Zukunftsrat als Verfassungsorgan einrichten, der die politischen Entscheidungen begleitet und über die Dauer einer Legislaturperiode beobachtet (zu weiteren Funktionen siehe Abschnitt 4.1). In einem Bottom-up-Verfahren sollten auch Regionen und Gemeinden beziehungsweise 57

S. dazu etwa die „20 Reformvorschläge für die neue Verwaltung“ der European Society for Government e. V. (http://www.egov-europe.de/staatsmodern.htm)

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Mikroregionen solche Gremien einrichten. Diese dürfen aber nicht Teil der Verwaltung sein und damit möglicherweise ein weiteres bürokratisches Element, sondern sollten sich als eigenes Netzwerk mit den regionalen Akteuren organisieren. Die Diskussion planerischer Entscheidungen durch den Zukunftsrat muss Bestandteil der Verwaltungsentscheidungen sein. 4. Bestehende Förderprogramme den Akteuren erklären und miteinander verbinden Schon heute besteht eine große Zahl regionaler Förderprogramme auf Landes-, Bundes-, und Europa-Ebene: EQUAL/RECHOKE, INNOPUNKT, Regionen Aktiv, LEADER+, EU-Strukturförderung, EU-Agrarförderung, EU-Ökoprämien. Diese muss das Land den Menschen in den Regionen durch eine neue transsektorale Koordinationsstelle viel stärker nahe bringen. Damit wird es leichter, groß angelegt Projekte mit Hilfen aus ganz verschiedenen „Töpfen“ zu verwirklichen, was bisher nur wenigen geschickten „Förderprofis“ vorbehalten ist. So ließe sich etwa ein regionales Naturpark-Projekt anteilig durch Mittel aus INNOPUNKT (innovative Arbeitsplätze), Regionen Aktiv (Verbreitung von Dachmarken wie „Zum Wohl. Die Pfalz.“), LEADER (Schaffung neuer Erwerbsmöglichkeiten außerhalb der klassischen Landwirtschaft, etwa als Ranger), Strukturförderung (Bau des Naturparkzentrums) und Ökoprämien (naturnahe Nutzung von Land) fördern. 5. Dezentrale Bürgerverwaltung als Recht und als Pflicht einführen Gerade in der wirtschaftlich besonders aktiven Altersgruppe zwischen 30 und 59 Jahren ist eine hohe Bereitschaft vorhanden, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Hinderungsgründe für mehr Engagement sind zum einen fehlende Mittel, die von Bürgern gerade in Ostdeutschland nicht aufgebracht werden können, aber vor allem fehlende Befugnisse. So können Bürgerstiftungen oftmals nur dekorative Arbeit leisten. Das frustriert viele Menschen, die wirklich etwas bewegen wollen. Bürgerarbeit – etwa im Rahmen einer gemeinschaftlich organisierte Schule – wird zwar von oben angemahnt, muss dann aber viele Verwaltungshürden überwinden. Um die Bürger zur Bürgerarbeit zu ermuntern, wäre es wichtig, diese zu einer Unabdingbarkeit, zu einem festen Bestandteil des Gemeinwesens zu machen – wie es etwa in Porto Alegre geschieht, wo die gemeinsame Bürgerentscheidung über den Haushalt gesetzlich vorgeschrieben ist (s.o.). Eine solche Beteiligung könnte dazu führen, dass der Rückzug staatlicher Verwaltung aus der Fläche teilweise durch eine bürgergesellschaftliche 44

Selbstverwaltung ausgeglichen werden könnte. Auf diese Weise könnte die kleinste heimatliche Identität auf dem Lande zu neuem Leben erweckt und für viele derzeit perspektivarme Menschen mit neuem Sinn gefüllt werden. 6. Mikroregionen selbst ihre Stärken finden lassen Oft sind die Verwaltungsräume nicht mit wirtschaftlichen, sozialen oder natürlichen Funktionseinheiten identisch. Dies gilt in Brandenburg gerade für die sternförmig auf Berlin hin orientierten Landkreise, die im Außenbereich unter Schwundproblemen leiden, an der Berliner Grenze aber vom Wachstum des „Speckgürtels“ profitieren. Diese Mischung führt dazu, dass selbst LEADER-Anträge für ein in sich gegensätzliches Gebiet ausgelegt werden (etwa im Fall des an Berlin grenzenden Landkreises Havelland), obwohl der Bezug dieser Förderungsart nicht an Verwaltungsgrenzen gekoppelt ist.58 Ein anderes Beispiel ist die Gemeinde Wismar im Norden Brandenburgs, die sozioökonomisch in Richtung Mecklenburg-Vorpommern orientiert ist. Durch die „künstliche“ Ausrichtung auf Brandenburg hat Wismar Nachteile – so kommt der Notarzt aus dem entfernten Prenzlau statt aus dem wenige Kilometer nahen Strasburg. Eine Mikroregion definiert sich über die realen Bedürfnisse der lokalen Ebene, aus den alltäglichen sozioökonomischen Aktivitäten der Menschen. Sie ist geprägt durch ähnliche wirtschaftliche Ausrichtung, ähnliche Bedürfnisse, Bekannten-Netzwerke sowie die Abhängigkeiten von den gleichen Faktoren. Versuchte man die Mikroregionen Brandenburgs darzustellen, würde sich auch die Beziehung zwischen Brandenburg und Berlin in eine Reihe eng mit einander verbundener Einzugsräume mit je eigener Problematik auflösen (etwa Potsdam-Zehlendorf, Spandau-Falkensee-Henningsdorf, Kladow (Berlin)-Großglienicke). 7. Nachweislast bei der Förderung umkehren Bisher muss ein innovatives Projekt große Hürden überwinden, bevor es staatliche oder öffentliche Förderung erhält. Meist ist eine substantielle, eigene Finanzausstattung Voraussetzung, da ausschließlich Teilförderung gewährt wird. Oft muss sich das Projekt mehrere Jahre beweisen, bevor es unterstützt wird (beispielsweise Freie Schulen). Solche Hemmnisse ersticken in dünn besiedelten Regionen die meisten Initiativen. Förderung müsste hier sofort einsetzen, nachdem sie einen Demografie- und Ökologiecheck bestanden hat. Das Risiko, wertlose Projekte zu unterstützen, sollte 58

Dr. Szalmatorski & Partner GbR (2007): Gebietsbezogene lokale Entwicklungsstrategie (GLES) für die LEADER-Region der LAG Havelland. Rathenow und Berlin.

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dadurch eingeschränkt werden, dass die Förderung nach einem Wettbewerbsverfahren vergeben wird. Zusätzlich sollten alle Projekte durch Zukunftsräte oder erfahrene externe Gutachter beurteilt werden. 8. Förderung konsequent durch Wettbewerbe vergeben Die Förderung innovativer Projekte sollte verstärkt über Wettbewerbe erfolgen, damit ein Anreiz zur beständigen Weiterentwicklung geschaffen und einer kriterienlosen Großraumförderung vorgebeugt wird. Auch die Ideen für die Themen der Wettbewerbe sollten von lokalen Akteuren kommen und stets praxisrelevant sein. Denn ein vorgegebenes Thema wie „Unser Dorf soll schöner werden“ verurteilt die Einwohner zur bloßen Reaktion – sie dürfen sich etwas überlegen, das zu diesem Wettbewerb passt, was aber nicht unbedingt einen Bezug auf drängende Schwierigkeiten und meist keine wirklich Nachfrage hat. Die Attraktivität des eigenen Lebensortes zu verbessern, sollte ohnehin das ureigenste Interesse der örtlich Handelnden sein. Aber eine gute unabhängige Energieversorgung aufzubauen, eine Schule zu halten, neue Steuern zahlende Einwohner anzuziehen ist nicht nur im Interesse der Kommunen sondern kann auch erheblichen Mehrwert schaffen. Darum sollten die Ziele des Wettbewerbes nicht starr festgelegt sondern nur der gewünschte Zweck als Rahmen vorgegeben werden – der Weg dorthin sollte sich selbst organisieren. Zum Auftakt wäre etwa ein genereller, landesweiter Wettbewerb zum Thema „Kommune mit Zukunft“ denkbar. Jede Bewerbung – die eine externe Fachkommission bewertet – sollte dafür Konzepte für folgende Themen vorlegen: Schulversorgung, ÖPNV, Existenzgründungen, Bürgerengagement, Altenbetreuung, Mehrgenerationenhäuser. Eine längerfristige Förderung sollte nur nacch vorweisbaren, positiven Zwischenergebnissen erfolgen. 9. Neue Anreize für Arbeit einführen Schon heute gibt es viel Arbeit, die trotz einer Arbeitslosenquote von teilweise über 20 Prozent ungetan bleibt, obwohl sie sozial und ökologisch wünschenswert wäre. Dazu gehört etwa die Pflege Alter und Kranker, die Erziehung, die Handarbeit im ökologischen Landbau, die Pflege von Ortsbildern, die Organisation gemeinschaftlicher Aktivitäten. Vieles davon ist unter dem gegebenen Verteilungssystem schlicht nicht bezahlbar. Diese Lage wird sich bis 2030 angesichts der Zunahme der betagten Bevölkerung extrem verschärfen. Schon lange jedoch werden verschiedene Modelle diskutiert, wie der Staat niedrig entlohnte Tätigkeiten besser zugänglich machen kann – etwa über ein Bürgergeld beziehungsweise ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ 46

oder andere Formen zu Reform und Förderung der Erwerbstätigkeit.59 Jetzt sollte ein solches Instrument einmal ausprobiert werden. Es könnte die Arbeitsplatzkosten radikal senken und ließe sich nach manchen Berechnungen allein aus den bereits bisher stattfindenden Sozialtransfers finanzieren. Es würde ansonsten unbeschäftigten Menschen ermöglichen, wichtige Gemeinschaftsaufgaben wahrzunehmen. Ein solches Instrument wäre auch eine ideale Voraussetzung für eine erhöhte Autonomie der kommunalen bürgergesellschaftlichen Organisation.60 10. Regionale Währungen ausbauen Nur in einer Region gültige Zahlungsmittel wie der bayerische „Chiemgauer“ oder das „Rheingold“ in Düsseldorf sind ein neues Instrument, um die heimatlichen wirtschaftlichen Verbindungen zu stärken und Wertflüsse lokal zu begrenzen. Inzwischen haben über 30 Regionen Deutschlands solche zusätzlichen Zahlungsmittel eingeführt. Die meisten dieser Währungen sind nicht zinsfähig, sondern im Gegenteil nach der Idee des „fließenden Geldes“ angelegt: Sie verlieren aufgrund einer „Umlaufsicherungsgebühr“ einen Teil des Wertes, wenn sie nicht ausgegeben werden.61 Das hat einen starken Effekt auf Investitionen: Es lohnt sich nicht, das Geld zu behalten. Weil aber die Regio-Währungen bei der Ausgabe immer zum hundertprozentigen EuroGegenwert verkauft werden, macht die ausgebende Stelle mit der Währungsherstellung einen Profit. Dieser entspricht der Differenz zwischen den Herstellungskosten und der Kaufkraft (in Euro) des neu geschöpften Zahlungsmittels. Diese Summe kommt so regionaler Wertschöpfung zugute.62 11. Nachhaltige Energiekreisläufe einführen Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern ist ein wichtiges ökologisches und ökonomisches Ziel. Ländliche Regionen wie Brandenburg haben hier gute Startbedingungen. Gerade im Bereich der Bioenergie zeichnen sich steigende Gewinnspannen für Landbesitzer ab. Wichtig ist bei der Biomassenutzung allerdings, dass sie im Einklang mit anderen (auch wirtschaftlich bewertbaren) Leistungen der Biosphäre erfolgt und nicht zur Monokultur wird. Mit einem Verbund verschiedener 59

Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, Hg. (2007): Reformkonzepte zur Erhöhung der Beschäftigung im Niedriglohnbereich. ifo Schnelldienst (Sonderausgabe) 60, Nr. 4. 60 Hauff, Volker/ Bachmann, Günther (2006): Unterm Strich. Erbschaften und Erblasten für das Deutschland von morgen. Eine Generationenbilanz. München. 61 zum Konzept s. etwa Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung, www.inwo.de. 62 Huber, Joseph (2004): Reform der Geldschöpfung – Wiederherstellung des staatlichen Geldregals durch Vollgeld. In: Zeitschrift für Sozialökonomie 142, S. 13 – 21.

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Nutzungsarten der Natur ließe sich die Leistungsfähigkeit ländlicher Regionen stark erhöhen. Denkbar wäre auch, Gemeinden entsprechend ihrer Energieautarkie pauschal zu fördern. Die Kommunen könnten dann selbst entscheiden, wie sie die Mittel einsetzen – in Windparks oder als Starthilfe für Privatleute, die sich ein PhotovoltaikSystem aufs Dach setzen möchten. Die Folge könnten lokale energetische Kreisläufe sein, Null-Emmissions-Gemeinden, der Ersatz von Abwassersystemen durch Biogaserzeugung. Solche Aktivitäten ziehen dann auch die Zukunftsindustrien des Energiesektors an und stärken eine Region weiter. 12. Regionale Nahrungskreisläufe bevorzugen Regionale Direktvermarktung erhöht die Gewinnspanne der Erzeuger, für die sich dann der Einsatz von weniger Technik lohnt, die sie durch teurere, aber ökologisch und arbeitsmarktpolitisch gewünschte Handarbeit ersetzen können. Mit der Metropole Berlin und ihrer großen Zahl von Bewohnern, die Öko-Lebensmittel schätzen, liegt ein riesiger Absatzmarkt quasi vor der Tür. Eine Kombination von regional vermarkteten Landwirtschaftsprodukten mit ökologisch verträglichem Energiepflanzenanbau ist ohne weiteres möglich. Aber regionale Ökolandwirtschaft ist nicht nur ein Wirtschaftskonzept für die Fläche. Sie hat auch mehr Gemeinschaftsgefühl und mehr heimatliche Identität zur Folge. 13. Ökosystemdienstleistungen anrechnen Bisher kostet jeder Quadratmeter Land den Besitzer Geld. Ein großer Spielraum für mögliche Verschlankungen liegt darum in der Landschaftspflege, wo bislang viele Mittel ökologisch und ökonomisch unsinnig eingesetzt werden. So wird das CO2produzierende Offenhalten von Brachflächen subventioniert (während bei Kraftwerken das Zurückhalten von CO2 mit teurer Technik gefördert werden müsste). Ökologisch fragwürdig und ökonomisch aufwändig sind meist auch die Flurbereinigung, der landund forstwirtschaftliche Wegebau, die so genannte Verkehrssicherungspflicht, die Programme der Wasserverbände und viele Naturpflegeauflagen. Des weiteren schlummert in der Landschaft eine zusätzliche Einnahmequelle: Im Rahmen eines ernstzunehmenden Handels mit Emissions- und Entnahmerechten müssten die natürlichen ökologischen Leistungen einer Landschaft angerechnet werden. So ließe sich etwa die CO2-Bindung in Wäldern und Hochmooren nach einem ähnlichen finanziellen Maßstab bewerten, wie die CO2-Einsparung durch die Sanierung alter 48

Häuser oder Kraftwerke. Damit bekämen unbesiedelte ländliche Gegenden plötzlich einen wirtschaftlichen Wert, einfach nur dadurch, dass dort eine natürliche Sukzession zugelassen würde. Einen weiteren Markt könnten sich Regionen erschließen, wenn sie statt in industrielles Wachstum in eine stärkere Vermarktung ihrer Natur investieren würden (eintrittspflichtige Naturparks, Reservate). In Deutschland sind solche Verdienstmöglichkeiten, die nebenbei auch immer dem Naturschutz dienen, noch sehr wenig entwickelt. 14. Rechtehandel für Landnutzung einführen Eine zentrale, doch oft vernachlässigte sozioökonomische Größe ist die Verfügbarkeit von Land. Boden leistet Dienste als landwirtschaftliche Nutzfläche, als Bauland für Privatpersonen oder Gewerbe, sowie als Natur, die Grundwasser regeneriert, CO2 festlegt, Biodiversität ermöglicht und andere lebenswichtige Funktionen ausübt. Ein Problem des demografischen Schrumpfens besteht darin, dass es wenige Instrumente gibt, die eine Rückverwandlung städtischer und industrieller Brachen und Altlasten – also von nicht mehr benötigter Fläche – in Naturraum finanzieren könnten. Denn die einstigen Standorte abgerissener Häuser gewinnen nicht automatisch ihre natürlichen Lebensfunktionen zurück. Neben dieser Schwierigkeit, verbrauchte Flächen wieder zurückzuführen, besteht ein Bedarf, den Verbrauch neuer Flächen von vorneherein zu beschränken. Ein Verfahren, mit dem beide Regelungsziele verkoppelt werden können, bietet der Rechtehandel für benutztes Land. Der Staat setzt die Menge der überbauten Flächen fest und erlaubt dann einen Handel mit dem Anrecht, unbebautes Land zu erschließen – nach einem ähnlichen Muster, wie der Emissionshandel mit Schwefeldioxid in den USA funktioniert. Der Eigentümer kann seine Rechte an den freiwerdenden Flächen verkaufen und mit den Einnahmen die Sanierung bezahlen. Das Verfahren ließe sich erweitern, beispielsweise indem die bisherige Grundsteuer in eine Ökosteuer für die Benutzung von Land zu Siedlungszwecken umgewandelt würde. Damit ließe sich dann anstatt des Wertes und des Alters der Gebäude deren ökologische Qualität bewerten– etwa über die Art der Überbauung beziehungsweise Flächenversiegelung.63 15. Berlin und Brandenburg zusammenlegen 63

Siehe dazu Sächsisches Staatsministerium des Inneren (2005): Zukunftschancen in Sachsen. Regionale Modellvorhaben zum demografischen Wandel. Dresden: Sächsisches Druck- und Verlagshaus, S. 17, sowie BUND (2004): Zukunftsfähige Raumnutzung. Boden gut machen. Positionen 40.

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Die beiden Bundesländer halten eine künstliche Trennung aufrecht, die wesentlich mehr Nach- als Vorteile bringt. Angesichts der schwieriger werdenden Finanzlage wird eine Fusion schon aus Kostengründen eines Tages unvermeidlich sein. Um nicht weiter Geld zu verschwenden und dringend erwünschte Vorteile durch Synergien und größeres politisches Gewicht zu verspielen, sollte der Zusammenschluss der beiden Länder schon jetzt mit Priorität vorangetrieben werden. 16. Mehr Initiativen über Stiftungen organisieren Stiftungen setzen in ihrer täglichen Arbeit einige der hier gestellten Forderungen in die Tat um: Die von ihnen geförderten Projekte müssen einem übergeordneten und vorher festgelegten Ziel entsprechen (nämlich dem vom Stifter bestimmten Stiftungszweck), überlassen den Weg aber weitgehend den Geförderten selbst. Diese Situation kommt einem Ideal von Subsidiarität sehr nahe. In einer Stiftung lassen sich auch private, privatwirtschaftliche und staatliche Elemente verbinden. Die großen Bürgerstiftungen der Städte, etwa in Hamburg, spielen bereits heute die Rolle regionaler Netzwerke, die ergänzend zum Staat notwendige Initiativen fördern. Die Stiftungslandschaft Deutschlands befindet sich zur Zeit im Aufschwung. Heute steht eine nie da gewesene Menge privaten Kapitals zur Verfügung und viele Erben denken darüber nach, als Stifter aufzutreten. Ihre Mittel könnten noch viel leichter Nutzen stiften, wenn die wirtschaftlichen Bedingungen dafür – etwa die steuerliche Absetzbarkeit – weiter verbessert würde. Weil in den neuen Ländern aufgrund ihrer Vergangenheit erheblich weniger Vermögen zur Verfügung stehen, sollten sich die großen deutschen Stiftungen, die aus historischen Gründen vornehmlich im Westen bestehen, verstärkt für Ziele in den neuen Bundesländern engagieren.64 17. Breitflächige Anwendung der Vorschläge in einer Modellregion Viele der hier vorgeschlagenen Maßnahmen werden umfassend diskutiert – so etwa das Bürgergeld um den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern oder die Regionalisierung der Finanzplanung. Manche dieser Instrumente sind auch modellhaft – aber meist nur einzeln - in Kraft. Um die Wirksamkeit viel versprechender, integrierter Konzepte zu prüfen, müssen Menschen real mit ihnen arbeiten. Das gilt besonders für den Vorschlag, wirtschaftliche Förderung konsequent auf Zukunftsfähigkeit und nicht länger auf quantitatives Wachstum auszurichten. Es ist daher dringend erforderlich, ein ganzes Bündel zueinander passender Ideen in einer Modellregion zu testen. In dieser 64

Fleisch, Hans/ Brickwedde, Fritz (2007): Stiftungsreport 2007. Berlin.

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sollten aber – anders als in bestehenden Modellprojekten zum demografischen Wandel etwa im westlichen Erzgebirge im Bundesland Sachsen65 – wirkliche Systemsprünge gewagt werden. Überschaubare Modellregionen sind auch deshalb zu empfehlen, weil sich im Falle des Scheiterns die eingesetzten Maßnahmen ohne großen Aufwand wieder zurücknehmen lassen. Eine solche Modellregion wäre ein Musterbrandenburg in klein. Ein hier gelingendes Experiment könnte Antworten auf drängende Fragen geben: Sind die Menschen bereit, in ihrer Heimat zu bleiben oder sogar zurück zu kommen? Kriegen sie mehr Kinder? Entwickeln die Kommunen neue Wirtschaftsmodelle, mit denen niemand gerechnet hätte? Finden die Älteren eine neue Rolle in der Gemeinschaft? Denken wir uns einen Landkreis, in dem die Menschen heute stark unterdurchschnittliche Chancen haben – etwa die Prignitz. Dieser Kreis wirbt noch immer (erfolglos) damit, dass er seine „wirtschaftliche Zukunft in der Ansiedlung und Entwicklung von Industrieunternehmen“ sehe. Doch seit der Wende ist die Einwohnerzahl mit 42 Menschen pro Quadratkilometer auf das Niveau von 1890 gesunken – die Prignitz ist der am dünnsten besiedelte Landkreis Deutschlands. Zweiundzwanzig Schulen sind hier in den letzten drei Jahren geschlossen worden. Was könnte sich in der Prignitz unter den Bedingungen einer Modellregion ändern? Das Land würde bunter an Ideen. Den Aktiven jeder Gemeinde stünde es frei, eine Schulform und Schulgröße ihrer Wahl zu organisieren und dafür selbst die Lehrer auszusuchen. Teilregionen könnten eigenständige Ziele verfolgen und dafür eigene Regeln definieren – so wäre etwa ein attraktiver Naturpark in den einmaligen Elbauen denkbar, in dem ein großer Teil der Zahlungen für Planung, Pflege und Infrastruktur eingestellt werden könnte und der im Gegenzug international Wildnistouristen anziehen würde. Die gesparten Mittel – da nicht ressortmäßig gebunden – könnte die Region für die Förderung ausgesuchter vorbildlicher Gastronomie entlang des Elbe-Radwanderwegs nutzen. Durch das Bürgergeld könnte es sich für manche Akteure lohnen, ganze Dörfer zu Modellen eines generationenübergreifenden Wohnens zu machen, für andere, biologische Nahrungsmittel für einen Direktverkauf in der Region anzubauen. Die Wettbewerbe „Ort mit Zukunft“ und Instrumente wie der Rechtehandel für Landnutzung könnten dazu führen, dass bestimmte Orte mit Initiative und Einsatz in ihrem historischen Stadtbild als kompakte Siedlungskerne neu erstarken würden, 65

Sächsisches Staatsministerium des Inneren (2005): Zukunftschancen in Sachsen. Regionale Modellvorhaben zum demografischen Wandel. Dresden: Sächsisches Druck- und Verlagshaus, S. 23ff.

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gestützt auf umweltverträgliche und regenerative Ver- und Entsorgungssysteme, stark besucht von Touristen und an vielen Stellen neu bewohnt von Menschen, die staatlich gefördert, weniger attraktive Winkel des Bundeslandes verlassen haben. Die Mikroregion Pritzwalk-Putlitz würde vielleicht einen Schwerpunkt „alternative Energien“ mit Windkraft und nachhaltiger Biomassenutzung aus den Wäldern aufbauen und könnte den Kreis autonom versorgen. Zusammenfassung: Ein integriertes Nachhaltigkeitskonzept als Kriterium für die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltförderung einführen Entscheidend ist, dass die Politik Nachhaltigkeit zum Leitbild macht, auf eine spezifische Nachhaltigkeitsplanung von oben aber verzichtet. Neue Ideen sollten von lokalen Akteuren gefunden werden. Es genügt für die öffentliche Hand – wie im Beispiel der Emissionsrechte – Kriterien vorzugeben, den Weg und die Ziele aber offen zu lassen. Politik und Verwaltung sind in einem solchen System gemeinsam mit Zukunftsräten und Stiftungen für die Definition und Evaluation der oben beschriebenen Ziele zuständig – nicht länger für Genehmigungen und Sonderlösungen im Einzelfall. Nur so bleibt Raum für Lösungen, die heute noch gar nicht bekannt sein können. Erst unter diesen Bedingungen ist eine Mittelallokation selbstverstärkend: Je nachhaltiger eine Körperschaft handelt, desto mehr wird sie über die Steigerung der ihr zur Verfügung stehenden Mittel befähigt, nachhaltig zu handeln. Das vorgeschlagene Nachhaltigkeitskonzept bewertet somit den Grad der autonomen Selbstorganisation verbunden mit einer nachhaltigen Vernetzung. Es ist ein Kriteriensystem, an dem sich Initiativen und Innovationen messen und marktwirtschaftlich umsetzen lassen. Regionalisierung der Vorschläge Die von uns empfohlene Systemumkehr wird in den unterschiedlichen Regionen Brandenburgs unterschiedlich anschlagen und dort verschiedene Wirkung hinterlassen: Einige Räume werden gedeihen, manche davon mit einem neuen wirtschaftlichen Schwerpunkt - der Natur. Andere werden sich schneller als bisher entleeren. Wie eine genau passende Ausrichtung auszusehen hat, ist freilich immer Sache der Region selbst, die über ihre eigenen Schwerpunkte und Steuerungsinstrumente entscheidet und die es in der Hand hat, sich im Rahmen von Wettbewerben zu profilieren und Mittel anzuziehen. Grenzen sind hier nur im Rahmen der Nachhaltigkeitsziele gesetzt. Aufgrund der unterschiedlichen Anfangsbedingungen würde die Entwicklung zu einer 52

großen regionalen Diversität führen. In Brandenburg dominieren vor allem fünf ökonomisch-demografische Modelle: Erstens: peripheres Land mit schrumpfender und alternder Bevölkerung Zweitens: angeschlagene Ex-DDR-Industriestädte wie Eisenhüttenstadt oder Schwedt Drittens: schrumpfende Mittelstädte wie Cottbus, Brandenburg oder Eberswalde Viertens: wachsende Berliner Außenbezirke mit Gewerbe und neuen Siedlungsgebieten wie Teltow Fünftens: die prosperierende Verwaltungs- und Wohnmetropole Potsdam. Viele Regionen haben eigene Stärken, auf die sie sich besinnen können. In welche Räume aber könnte sich Brandenburg dadurch differenzieren? Bereits jetzt lassen sich einige ökonomisch erfolgreiche Nutzungsszenarien vorstellen: Erstens: hochwertiger Kulturlandschaftstourismus in gut restauriertem historischem Ambiente und exklusive Naherholung mit Musikfestivals etc. (Potsdam, Region Neuruppin-Rheinsberg-Fürstenberg, Region Märkische Schweiz, Region WerderKetzin-Havelseen, Region Spreewald) Zweitens: Wildnis-Dienstleistungen wie Biodiversität, Klima, Naturtourismus, Jagd – verbunden mit einer beschleunigten Aufgabe nicht mehr funktionaler Siedlungen (Region Wittenberge-(Havelberg)-Rathenow (Elbtalaue), Region Schorfheide-Chorin, Region nördlichce Uckermark, Region Beeskow-Lieberose, teilweise Region Spreewald, Region Oderbruch, Dosse-Niederung) Drittens: klassische und regenerative Energie-Technologien. Hierzu gehören Unternehmen genauso wie Ausbildungsstätten oder Versuchsanlagen (Region Uckermark-Schwedt/Oder, Region Cottbus-Jänschenwalde (zukunftsfähiger Ersatz der Braunkohle), Region Pritzwalk-Putlitz (Wind)) Viertens: innovativer Mittelstand, in direkter Verknüpfung mit Forschung und Hochschule (Region Potsdam, viele Standorte in den Berliner Außenbezirken, so etwa – beispielhaft – für die Biotechnologie Berlin-Adlershof und –Buch, Henningsdorf, Potsdam und – weiter entfernt –Luckenwalde) Fünftens: ökologischer Landbau, innovative Lebensformen und Kulturtourismus in der Kulturlandschaft (Region Fläming, Region Gransee-Zehdenick-Templin, Region Angermünde-Prenzlau, Region Beelitz-Belzig, Region Wittstock-Kyritz, Region Müncheberg-Seelow, Region Finsterwalde) Sechstens: bürgerliches Mittelzentrum mit Verwaltungsfunktionen und/oder 53

Hochschulstandort (Brandenburg/Havel, Eberswalde, Prenzlau, Frankfurt/Oder, Cottbus) Siebentens: Verwaltungshauptstadt des neu zu formierenden Landes BerlinBrandenburg (Potsdam) Achtens: historische Sonderstandorte als Freilichtmuseen und Anziehungsorte für Geschichtstouristen. (Seelower Höhen, Eisenhüttenstadt. Gerade hier wäre es lohnend, die Zeichen der Umbrüche – etwa DDR-Produktionsruinen, Plattenbau, Leerstand systematisch zu thematisieren und in einen historischen Themenpark umzuwandeln, an den sich aber auch historisch-soziologische Forschungsstätten anschließen können.) 4.3. Folgen für die Ressortzuständigkeiten Zeitliche Umsetzbarkeit der Vorschläge und Vereinbarkeit mit den vorhandenen Institutionen Von unseren Anregungen sind einige sofort umsetzbar (Entbürokratisierung, Zukunftsräte), andere kurzfristig (Autonomie der Schulen, Regionalbudgets), weitere zumindest der Struktur nach mittelfristig (Umstellung der finanziellen Förderung). Andere erfordern eine längerfristige politische Willensbildung und Koordinierung (Bürgergeld). Viele Vorschläge erfordern eine Abkehr von bisher als unumstößlich geltenden Praktiken wie der sektoralen ministeriellen Zuständigkeit. Diese Veränderungen sind nicht von heute auf morgen zu erreichen. Darum setzen unsere Vorschläge wie beschrieben auf einen Ausbau neuer Organe subsidiär zu den existierenden Verwaltungsgremien beziehungsweise an Stellen, wo diese sich ohnehin aus ihrer Verantwortung zurückziehen (etwa in dem Vorschlag einer bürgergesellschaftlichen Regionalverwaltung). Wie in anderen Ländern entsteht eine solche lokale Selbstverwaltung dann weniger durch Verwaltungsakte, sondern neben der Verwaltung durch Zusammenschlüsse der Betroffenen, zu denen Bürger, Unternehmer, Schulen, Verbände, Erzeuger, Landbesitzer etc. gehören. Überflüssig gewordene bisherige Strukturen können parallel schrittweise abgebaut werden. Angesichts der Dringlichkeit der Probleme und ihres exponentiellen Wachstums ist sofortiges Handeln nötig. Darum schlagen wir vor, so schnell wie möglich einen landesweiten Zukunftsrat einzurichten und rasch die subsidiäre Bildung von lokalen Zukunftsräten zu ermutigen. Der im März 2007 geschaffene Nachhaltigkeitsrat ist bereits der richtige Schritt. Hier sollte das Land rasch eine Verbindung mit dem von 54

Jakob von Uexküll im Mai 2007 in Hamburg gegründeten World Future Council suchen. Zu erwägen ist auch die Gründung einer Stiftung „Zukunft BerlinBrandenburg“, welche wichtige Beraterfunktionen übernehmen könnte.

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5. Fazit: Chancen und Risiken der Vorschläge Die nötigen Veränderungen, mit denen Teile Brandenburgs aus der Logik des demografischen und ökonomischen Abstiegs entkommen könnten, sind radikal und bedeuten einen Bruch mit vielen Verfahren der bisherigen politischen Praxis. Doch ohne auf neue sozioökonomische Anreize zu vertrauen, ohne andere wirtschaftliche, humane und politische Ziele als die bisherigen zu verfolgen, wird sich die demografische Krise, die eine Krise des Gemeinwesens ist, weiter beschleunigen – selbst wenn den zugrunde liegenden Prozessen mit enormem Mitteleinsatz „gegengesteuert“ wird. Die Maßnahmen, die hier vorgeschlagen sind, um einige Schwächen des bisherigen Verteilungssystems zu überwinden, bedeuten keine Revolution. Viele haben Vorbilder in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern, die meisten werden hierzulande bereits diskutiert. Nur hat sie noch niemand in einer Region gebündelt, entschlossen und konsequent eingesetzt. Die Instrumente sind neu und ungewohnt – eine Garantie für ihr Funktionieren in Brandenburg kann es kaum geben. Im Fall des Scheiterns wäre die Brandenburger Peripherie noch stärker als bisher von externen Hilfen abhängig. Das wird sie aber auch im Falle des Nichtstuns, beziehungsweise des Weiterarbeitens mit heutigen Mitteln sein. Die vorgeschlagenen Veränderungen bieten nicht nur die Hoffnung, streckenweise das System des Niedergangs zu durchbrechen und umzukehren. Sie zeigen auch die historische Chance für Brandenburg, aber auch für andere Regionen der neuen Bundesländer, eine Vorreiterrolle bei der Bewältigung des demografischen Wandels zu spielen. Brandenburg – und in seinem Herzen die Bundeshauptstadt Berlin – haben die Chance, der immer wieder angemahnten „Nachhaltigkeitswende“ einen Schritt voraus zu sein, und daraus den Keim einer ökonomischen, ökologischen und kulturellen Renaissance zu setzen.

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In diesem zweiten Teil des Gutachtens werden Fragen und Kritikpunkte aufgegriffen, die nach der ersten Vorstellung des Gutachtens im Hauptausschuss des brandenburgischen Landtages seitens des Hauptausschusses aufgekommen sind.

2. Antworten auf die Kritik des Hauptausschusses und zusätzliche Erläuterungen

Entwurf einer sinnvollen Kommunikationsstrategie für den demografischen Wandel und die politischen Reaktionen darauf Dieser Punkt war nicht Teil der Aufgabenbeschreibung, soll hier aber in einigen Grundzügen vorgestellt werden. Die Kommunikation der unabwendbaren Änderungen und der unserer Meinung nach sinnvollen Reaktionen darauf fügen sich zudem in die im ersten Teil der Expertise vorgeschlagene Strategie des Berlin-Instituts ein, offensiv mit dem Wandel umzugehen und seine Dynamik für einige ohnehin dringend notwendige sozioökonomische Veränderungen zu nutzen (etwa Nachhaltigkeitswende, Vollbeschäftigungskrise, industrieller Strukturwandel). Zunächst: Es ist essentiell, dass Politiker die demografische Wahrheit kommunizieren. Jede Beschwörungsformel, jeder übertriebene Optimismus werden von Bürgern und Medien erfahrungsgemäß rasch entlarvt und führen zu verstärkter Skepsis. Wo einerseits eine Schule geschlossen wird, anderseits aber von der hohen Industriedichte geschwärmt wird, ist die Kommunikation gescheitert. Brandenburg geht in dieser Hinsicht im Vergleich zu manchen anderen Ländern mit großer Offenheit vor. Die Michendorfer Rede des Ministerpräsidenten Platzeck 2005 kreist um das Kernthema, die vorhandenen Potenziale zur Geltung zu bringen und dafür die regional Beteiligten zu motivieren – also jene, bei denen die herrschenden Probleme entstehen und die darum am ehesten in der Lage sind, zu einer Lösung beizutragen. Diese Haltung unterstützt das Berlin-Institut. Wir halten freilich die bisher begonnen und auch kommunizierten Maßnahmen für nicht weitgehend genug. Wie wir im ersten Teil unserer Expertise analysiert haben, werden die auf das Land zukommenden demografischen Änderungen gravierender sein als den Menschen bisher vermittelt wird. Diese Entwicklung wird dazu führen, dass sich der immer noch herrschende 57

Optimismus von gleichwertigen Lebensverhältnissen als Fehleinschätzung erweisen wird. Das muss aber kein Anlass für Pessimismus sein: Denn gleichzeitig steigen die Chancen, in Brandenburg eine grundlegende Wende einzuleiten, die zur Lösung anderer Probleme beitragen kann, unter denen die Gesellschaft heute leidet (Stichwort Nachhaltigkeit). Wir halten demnach eine noch offensivere Öffentlichkeitsarbeit als bislang für notwendig. Die empfohlene Kommunikationsstrategie stützt sich auf drei Säulen: auf die bisher praktizierte Vermittlung des Sachverhaltes durch die Politik, auf die Ausschreibung von Zukunftswettbewerben und auf die schnellstmögliche Einrichtung von Modellregionen. Es geht bei diesen Maßnahmen vor allem um die Motivation zum Handeln: Darum, zu zeigen, dass die Dinge in Bewegung kommen, und dass sich etwas erreichen lässt. Es geht darum, eine Diskussion ins Rollen zu bringen, die Innovationskräfte der Gesellschaft weckt. Das Potenzial hierzu ist noch nicht ansatzweise ausgeschöpft. Konkret: Zunächst sollte das ganze Ausmaß der Entwicklung den Menschen und den Multiplikatoren in der Öffentlichkeit in einer hochwertigen Broschüre dargestellt werden – in einer Broschüre, die nicht Erreichtes feiert, sondern die Herausforderungen, aber auch die Chancen neutral darstellt und vor allem konkrete Anregungen zum Handeln der Bürgerinnen und Bürger setzt. Es wäre beispielsweise sinnvoll, die vorliegende Expertise zu veröffentlichen – nicht als Ergebnis politischer Bemühungen, sondern als Aufforderung an die Gesellschaft, sich aktiv in die Diskussion einzuschalten und an der Bewältigung der anstehenden Probleme mitzuarbeiten. Gleichzeitig mit einer Veröffentlichung müssten die vorgeschlagenen Wettbewerbe für Zukunftsfähigkeit (Bd. 1, S. 46) ausgeschrieben und der Gedanke einer Modellregion ins Spiel gebracht werden. Gerade diese halten wir für ein probates Mittel, die Sachlage einer breiten, bundesweiten Öffentlichkeit vorzuführen. Natürlich haben solche Wettbewerbe LaborCharakter. Sie zeigen den Brandenburgern aber lediglich, dass sie sich vielerorts de facto in einem Labor des demografischen Wandels befinden, sie aber aufgefordert sind, die Ergebnisse des Wandels aktiv mitzugestalten. Solche Wettbewerbe sind notwendig, um die Rezepte für Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit, von denen viele heute diskutiert werden, auf ihre Wirksamkeit zu testen. Die an ein solches Vorhaben anschließende Diskussion wäre für das Land ein kommunikativer Durchbruch. Das Land Brandenburg hätte damit die Möglichkeit, bestimmte Veränderungen in der kommunalen Finanzplanung und der regionalen 58

Autonomie durchzusetzen und sich damit an die Spitze der bundesdeutschen Diskussion über die Folgen des demografischen Wandels, aber auch der künftigen Nachhaltigkeitswende zu setzen. Wir sind in unserer Expertise zu dem Schluss gekommen, dass die Potenziale Brandenburgs nicht nur in den schlummernden Stärken des Landes auf klassischen wirtschaftlichen Gebieten beruhen, die es lediglich zu aktivieren gilt. In vielen Bereichen des Landes wird eine herkömmliche Wirtschaftsblüte nicht mehr zu erreichen sein. Die Chancen Brandenburgs – abseits der Metropolregion um Berlin – liegen darin, Pionier bei einem qualitativen Wachstum zu werden und Wege zu einer nachhaltigeren Wirtschaft zu finden.

Verfassungsmäßiger Haushalt ab 2019 In unserer Expertise gehen wir davon aus, dass Brandenburg ab dem Jahr 2019 (Wegfall des Solidarpakts II) aus eigenen Mitteln keinen verfassungsmäßigen Haushalt mehr aufstellen können wird. Diese Prognose wird von den Projektionen etwa des Bertelsmann-Schuldenmonitors 2005 unterstützt. Auch kurzfristige Konjunkturerholungen wie zurzeit der Fall können keine langfristige Nachhaltigkeitslücke in den Haushalten schließen, da spätestens 2010/2011 mit einem zyklischen Wirtschaftsabschwung zu rechnen ist und dann die alten strukturellen Probleme erneut zutage treten (Gernot Nerb und Manuel Birnbrich (2007): „Industriekultur bleibt robust“. ifo Schnelldienst 13/2007, S. 27). Bisher lässt sich für eine seriöse Zukunftsplanung nicht voraussetzen, dass der Solidarpakt II verlängert wird. Der Schuldenmonitor 2005 extrapoliert von den heutigen Gegebenheiten im Jahr 2020 für das Land Brandenburg einen Schuldenstand von etwa 150 Prozent, zehn Jahre später sogar von fast 300 Prozent des BIP. Diese Last abzuwenden erfordert einen gigantischen Einsparbedarf. Die Einnahmen des Landes werden aber – wie die aller demografisch schwachen Regionen – langfristig weiterhin sinken. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass eine Haushaltskonsolidierung im Rahmen des bisherigen Finanzierungssystems gelingen wird. Es ist gleichwohl auch nicht davon auszugehen, dass dieses Defizit unproblematisch vom Bund gedeckt wird. Denn im Jahr 2020 wird eine Reihe weiterer Regionen – auch im Westen – vor erheblichen demografischen Problemen stehen. Aus dieser Situation folgen zwei Punkte: 1) Brandenburg wird künftig massiv auf 59

äußere Hilfen angewiesen sein. 2) Schon jetzt sollte massiv über eine Umstellung der nicht nachhaltigen Strukturen nachgedacht werden, und zwar so, wie in der Expertise vorgeschlagen, dass die Mittel klarer nach den Kriterien Zukunftsfähigkeit, ökologischer und regionaler Nachhaltigkeit vergeben werden. Nur dann lässt sich hoffen, dass in der Peripherie neue Potenziale aus eigener Kraft entstehen, die weniger auf externe Hilfen angewiesen sein werden.

Kleine Schulen In unserem Gutachten plädieren wir für den Erhalt kleiner Schulen in den Gemeinden. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Landesmittel begrenzt sind. Schulen kosten aber Geld. Wie lässt sich das miteinander vereinbaren? Zunächst: Bildung hat sich in der demografischen Frage als der entscheidende Eckstein herausgestellt (s. ausführliche Diskussion in unserer Expertise, S. 21ff). Eine gut gebildete Bevölkerung, gut bebildete Frauen und Männer sind die Voraussetzung für eine nachhaltige demografische Entwicklung. Hier zu investieren ist also die beste Möglichkeit, Zukunft zu schaffen. Selbst wenn andere Bereiche (etwa die Infrastruktur) leiden müssen, sollte in Bildung weiter – oder verstärkt – investiert werden. Gebildete Menschen sind in der Lage und bereit, eigene Initiative zu entwickeln. Gerade Brandenburg hat aber ein Problem mit schlecht ausgebildeten, oft männlichen Jugendlichen, die keinen adäquaten Platz in der Gesellschaft finden. Wir halten es für richtig, auch bei knapper werdenden Mitteln vordringlich in Bildung zu investieren. Zugleich schlagen wir vor, die für Bildung vorgesehenen Gelder von den Gemeinden selbst verwalten zu lassen (wie es etwa in Schweden geschieht). Auf diese Weise kann regional sinnvoll und flexibel über die beste Schulform entschieden werden – oder darüber, dass mit dem zur Verfügung stehenden Geld ein hervorragender Transportdienst zu einer entfernten Zentralschule eingerichtet wird. Nach diesem von uns vorgeschlagenen Subsidiaritätsmodell werden sich die Orte, in denen eine Schule nicht rentabel ist von selbst herausstellen. Wir halten diesen Prozess autonomer Entwicklung für den Schlüssel, die Idee „Stärken zu stärken“ wirklich in die Tat umzusetzen. Gewiss werden sich nicht alle Schulen erhalten lassen – die Frage aber, welche zu schließen sind, sollte von den mündigen Bürgern an Ort und Stelle selbst beantwortet werden. 60

Noch ein Punkt ist wichtig: Die zurzeit durch bürokratische und teure Genehmigungsverfahren benachteiligten Privatschulen kosten den Staat schon bislang oft weniger als ein eigenes Institut. Das Land sollte solche Initiativen also unbedingt ermutigen und nicht mit bürokratischen Regeln behindern. Sie sind ein erster Baustein künftiger regionaler Autonomie und ein leuchtendes Zeichen der Bürgergesellschaft.

Halten von Studierenden im Land Es wird bemängelt, dass unsere Expertise nicht beantwortet hat, wie sich die überdurchschnittlich vielen an den Brandenburger Hochschulen ausgebildeten auswärtigen oder ausländischen Jugendlichen im Land halten ließen. Dieser Punkt betrifft die Attraktivität Brandenburgs als Lebensstandort zum einen und die Aufnahmefähigkeit der Brandenburger Wirtschaft zum anderen. Die aufgeworfene Frage ist ein gutes Beispiel dafür, dass verschiedenste Faktoren bei einem Problem eine Rolle spielen – hier etwa die kulturelle Atmosphäre, das Niveau der Fremdenfreundlichkeit und natürlich der Bedarf der Wirtschaft. Manche dieser Faktoren sind durch die Bundespolitik bestimmt. So ist das Angebot, ausländischen Studierenden nur dann den Aufenthalt zu erlauben, wenn sie hierzulande einen Arbeitsplatz mit einem sehr hohen Mindesteinkommen vorweisen können, kontraproduktiv. Eine ausreichende Attraktivität für Hochschulabsolventen wird Brandenburg erst dann entfalten, wenn es insgesamt zu einer neuen Dynamik findet. Diese muss freilich nicht auf dem Gebiet der klassischen industriellen Wirtschaft liegen. Gerade Zukunftstechnologien könnten ein boomender Bereich werden.

Bürgergesellschaftliches Engagement Wir behaupten in unserem Gutachten, dass eine Übernahme (und Finanzierung) vitaler Funktionen der Daseinsvorsorge nicht durch die Bürgergesellschaft eines so armen Flächenlandes wie Brandenburg gelingen kann. Dies gilt, obwohl Brandenburg mit 35 Prozent ehrenamtlich Tätigen einen sehr hohen Anteil bürgergesellschaftlich Aktiver vorweist. Das Problem besteht darin, dass anders als in reichen Stadtstaaten wie Hamburg oder wirtschaftsstarken Flächenländern wie Bayern und Baden-Württemberg 61

der Brandenburger Bürgergesellschaft kaum Mittel zur Verfügung stehen. Es gibt daher kaum Bürgerstiftungen. Die Möglichkeit, dass bestimmte Teile der staatlichen Daseinsvorsorge in die Hände Ehrenamtlicher übergehen, ist daher gegrenzt. Dazu kommt, dass die heutigen Träger der Bürgergesellschaft zusehends schwinden (Alterung, Geburtenschwund, Abwanderung). Vor allem jüngere Frauen, die sich bürgergesellschaftlich stark einsetzen, wandern ab. Verbleibende junge Männer engagieren sich hingegen oft nicht (Berlin-Institut (2007): Not am Mann. Von Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht? Lebenslagen junger Erwachsener in wirtschaftlichen Abstiegsregionen der neuen Bundesländer).

Landwirtschaft Wir unterstellen in unserem Gutachten eine mangelnde Wirtschaftlichkeit landwirtschaftlicher Großbetriebe. Das stimmt auf den ersten Blick so nicht. Gerade Großbetriebe mit zum Teil 10.000 Hektar Fläche, einem einzigen Geschäftsführer und wenigen Angestellten erhalten hohe an Agrarsubventionen, die einen beträchtlichen Teil der Einnahmen ausmachen (Flächenprämie für Getreide zurzeit 300 €/ha). Ökonomisch kann das unter den jetzigen Bedingungen aufgehen, aber für die demografische und ökologische Zukunft Brandenburgs sind agrarische Großunternehmen problematisch. Unser Grundgedanke bleibt daher gültig: Eine industrielle Landwirtschaft ist gesamtwirtschaftlich nicht sinnvoll. Sie zehrt von öffentlichen Subventionen, die zudem schrittweise rückgebaut werden sollen, sie bietet extrem wenig Arbeitsplätze, der Erlös bleibt nicht in der Region, die Produkte erreichen geringe Gewinnmargen durch Verkauf an Großhändler. Zudem ist sie nicht ökologisch nachhaltig (hochintensiver Anbau, nichtregionale Verwertung, Gen-Getreide). Ein Landwirtschaftsmodell, das sich am Mittleren Westen der USA orientiert, bietet keine Hilfe bei demografischen Problemen, sondern verschärft diese (demografischer „Frontier state“ in den Agrarsteppen des Mittelwestens, s. Expertise S. 31).

Länderfusion Berlin-Brandenburg Gegen ein Zusammengehen der beiden Länder wendet Brandenburg immer wieder 62

ein, dass es die Berliner Schulden nicht übernehmen will und im Falle einer Fusion eine noch größere finanzielle Belastung auf sich zukommen sieht. Diese Belastung würde alle Einspareffekte, die sich durch eine Fusion erzielen ließen, zunichte machen. Unter diesen Umständen empfehlen wir dringend den Einsatz einer Unternehmensberatung, um die genannten Effekte genau prüfen zu lassen und um festzustellen, welche Aufgaben mit welcher Effizienz wo erledigt werden. Dazu sollte analysiert werden, welche zusätzlichen positiven Effekte sich durch eine Fusion erreichen ließen. Das Berlin-Institut geht davon aus, dass bisher eine Menge möglicher Synergien eher behindert werden (etwa um den Wettbewerb zwischen Berlin und Brandenburg um Wirtschaftsunternehmen). Die positiven (und zum Teil bisher gar nicht diskutierten beziehungsweise nicht einmal erahnten) Auswirkungen eines neuen „Clusters“ Berlin-Brandenburg könnten die negativen weit in den Schatten stellen. Hier gilt es klar zu sehen, dass eines der Brandenburger Hauptprobleme in der Zweiteilung des Landes liegt (berlinlastiger Kernbereich; problematischer Außenbereich). Diese Spaltung verzerrt die Gesamtbilanzen, mit denen oft argumentiert wird. Im Metropolbereich ist Brandenburg quasi Berlin, ohne mit ihm verschmolzen zu sein, in den Randbereichen sind die Probleme ganz andere. Im Rahmen einer Länderfusion müsste natürlich auch neu diskutiert werden, wie weit sich die Bundesregierung in ihrer Hauptstadt und explizit für Hauptstadtzwecke speziell engagiert und auch, wie sehr das neu entstehende Bundesland bzw. seine Metropole entschuldet werden kann.

Umsetzbarkeit der Vorschläge Wir haben in unserem Gutachten versucht, die richtigen Empfehlungen auszusprechen und dabei auftragsgemäß eine Reihe von good-practice-Beispielen aus anderen Regionen und Staaten diskutiert. Brandenburg steht vor gravierenden Problemen, die durch die bisherigen sozioökonomischen Strukturen mitverschuldet werden und deren Lösung althergebrachte Verfahren und Praktiken – auf kommunaler, landesweiter aber auch nationaler Ebene – entgegenstehen. Wir können unsere Empfehlungen nicht auf die Vorschläge beschränken, die sich im Rahmen der eingefahrenen Praxis realisieren lassen. Es ist aussichtslos, zu hoffen, dass alles bleibt wie es ist, und dass man trotzdem alles besser machen könne. Gerade die halbherzigen Lösungen erweisen sich deshalb als nicht umsetzbar, sinnlos oder kontraproduktiv. 63

Wenn man nicht alles beim Alten belassen will, gilt es, die Optionen für einen Neustart vorurteilslos zu betrachten. Dabei muss das Prinzip gelten: „Geht nicht gibt’s nicht.“ Nur dann, nur wenn die Politik zeigen kann, dass Chancen und Freiräume für Neues wirklich existieren, wird sie die Bürger motivieren können, mutig und eigenverantwortlich neue Schritte zu unternehmen und in einem gewandelten Brandenburg mit Engagement und Heimatverbundenheit zuzupacken.

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