ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 46 Ksenia Hintze Entwicklung und Ausbildung des Gesundheitsbegriffs im Grundschulalter Gesundheitsbildung nach der Lehr- und Lernstrategie des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten
Ksenia Hintze
Entwicklung und Ausbildung des Gesundheitsbegriffs im Grundschulalter Gesundheitsbildung nach der Lehr- und Lernstrategie des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten
Berlin 2013
ICHS International Cultural-historical Human Sciences
ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.
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Ksenia Hintze Entwicklung und Ausbildung des Gesundheitsbegriffs im Grundschulalter Gesundheitsbildung nach der Lehr- und Lernstrategie des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten © 2013: Lehmanns Media GmbH • Verlag • Berlin www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-665-9 Druck: docupoint GmbH • Barleben
Inhalt Inhalt………………………………………………………………………………………………………5
Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................ 9 Vorwort…… .............................................................................................................................. 15
1.
Einleitung ..................................................................................................... 29
1.1
Problemlage .............................................................................................................. 29
1.3
Aufbau der Arbeit ................................................................................................... 36
1.2
Gegenstand, Zielstellung und zentrale Fragestellung der Arbeit ................................................................................................................... 36
2.
Theoretische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften .................................................................. 39
2.1
Zur Gesundheitssituation der Kinder in Gesamtdeutschland und Brandenburg, Problematik Übergewicht und Adipositas ........... 39
2.3
Der Gesundheitsbegriff ........................................................................................ 45
2.2
2.4
2.5
Die Bildungsaufgabe des Sachunterrichts und die Probleme der Gesundheitserziehung im Sachunterricht ........................................... 42
Salutogenese als wissenschaftliches Konzept der Gesundheit .......... 56
Andere wissenschaftliche Konzepte und Modelle der Gesundheit ......................................................................................................... 64
2.6
Das Pathogenetische Paradigma und dessen Auswirkungen ............. 69
2.8
Überblick über Gesundheitsprojekte an Grundschulen in Berlin und Brandenburg ................................................................................ 85
2.7
Das Salutogenetische Paradigma in den Gesundheitswissenschaften ............................................................................... 78
6
3.
Begriffliche Entwicklung und unterrichtliche Ausbildung des Begriffes ........................................................................ 89
3.1
Der Begriff als Wissen ........................................................................................... 89
3.3
Begriffsentwicklung und Begriffsbildung ..................................................100
3.2
3.4
Der Begriff als Gegenstand der Lern- und Entwicklungspsychologie.................................................................................... 94
Arten der Verallgemeinerung und dadurch bedingte Begriffsbildung.......................................................................................................104
3.5
Begriffliche Entwicklung und Aneignung wissenschaftlicher Begriffe im Unterricht .........................................................................................115
3.7
Die Bedeutung der Lehrstrategie des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten für die Wissensaneignung (Wissenstransfer, Überwindung der Antinomien, Motivation und Entwicklung der Lerntätigkeit) .....................................129
3.6
Ausbildung und Entwicklung der wissenschaftlichen Begriffe durch Unterrichtung ..........................................................................123
4.
Empirischer Teil ......................................................................................147
4.1
Ziel der empirischen Untersuchung .............................................................147
4.3
5.
Methoden ..................................................................................................................161
Ergebnisse ..................................................................................................177
5.1
5.2
Analyse der Intervention ...................................................................................177
6.
Diskussion und Zusammenfassung der Ergebnisse ...................233
6.1
Zum Niveau der begrifflichen Entwicklung ..............................................233
6.3
Zum Problem der Überwindung von Antinomien ..................................236
4.2
6.2
6.4
Fragestellungen und Hypothesen der empirischen Studie ................148
Analyse des Begriffsbildungsprozesses ......................................................180
Zum Problem des Wissenstransfers .............................................................235 Zum Problem der motivationalen Orientierung in Richtung intrinsischer Motivation (Selbstbezug vs. Fremdbezug) ....................237
Inhalt 6.5
7
Der Einfluss der Lehrkraft auf die Wirkung der unterrichtlichen Intervention ......................................................................... 238
6.6
Prüfung der Wirkung der Variablen (Geschlecht, Sozialstatus, Leistungsniveau und Intelligenzquotient) ..................... 242
8.
Quellenverzeichnis ................................................................................ 247
7.
Schlusswort – Ausblick ......................................................................... 245
8.1 .........Literatur......................................................................................................................247
8.2..........Online ........................................................................................................................259
9.
Anhang ........................................................................................................ 265
Abbildungsverzeichnis Abb. 1.
Adipositas bei 6-jährigen Jungen und Mädchen ..................................... 40
Abb. 3.
Kontinuum ............................................................................................................... 58
Abb. 2. Abb. 4.
Abb. 5.
Abb. 6.
Adipositasraten bei Jugendlichen.................................................................. 41
Modell „Waage“ .................................................................................................... 59
Mandala-Modell der Gesundheit von Hancock ........................................ 68
Unterschiede Gesundheitserziehung – Gesundheitsbildung ............................................................................................ 84
Abb. 7.
Vergleich von Alltags- („empirischem“) Begriff und wissenschaftlichem („theoretischem“) Begriff ..................................... 112
Abb. 9.
Notendurchschnitt Mathematik/ Deutsch/ Sachunterricht der Versuchs- & Kontrollklassen ................................. 155
Abb. 8.
Abb. 10.
Schematische Darstellung des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten nach Lompscher 1996 .......................... 127
Sozialstatus............................................................................................................156
Abb. 11.
Lernmodell: Waage ............................................................................................ 160
Abb. 13.
Bewertungskriterien der Videoanalyse (nach Helmke 2006) .......................................................................................... 170
Abb. 12. Abb. 14. Abb. 15. Abb. 16.
Untersuchungsdesign ....................................................................................... 168 Beispiel Niveaustufentests/ Fragebogenerhebung ............................. 172
Beispiel Trennschärfetests/ Fragebogenerhebung ............................. 173 Beispiel Wissenstest .......................................................................................... 173
Abb. 17.
Kategorisierung der Interview-Antworten in Niveaustufen – (N1- N3) .................................................................................. 174
Abb. 19.
Anwendung der Lehrstrategie AK .......................................................... 178
Abb. 18.
Abb. 20.
Unterrichtsqualität (nach Helmke 2006) ................................................ 178
Vergleich der Versuchsklassen 3 & 4 - Mittelwert für Unterrichtsqualität/ Anwendung der Lehrstrategie .......................... 179
10
Abb. 21.
Vergleich des Mittelwerts in den Versuchsklassen 3 & 4 bezüglich der Unterrichtsqualität/ Anwendung der Lehrstrategie .........................................................................................................179
Abb. 22.
Ausgangsniveau des Gesundheitsbegriffes .............................................180
Abb. 24.
Vergleich der Summenwerte des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in den Versuchsklassen (Pre- Post- Postposttest) .................................................................................184
Abb. 23.
Abb. 25. Abb. 26.
Abb. 27.
Abb. 28.
Abb. 29.
Abb. 30.
Abb. 31. Abb. 32.
Abb. 33.
Abb. 34.
Abb. 35.
Ausgangsniveau des Gesundheitsbegriffes (als Grafik).....................181
Vergleich der Summenwerte des Niveaus der begrifflichen Entwicklung der Versuchsklassen (Pre- PostPostposttestvergleich)......................................................................................184 Vergleich der Niveaustufen in den Versuchs- & Kontrollklassen (Summenwerte) ................................................................185
Vergleich der Niveaustufen in den Versuchs- & Kontrollklassen (Summenwerte) ................................................................185
Vergleich der Summenwerte des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in den Versuchsklassen .............................186
Vergleich der Summenwerte des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in den Versuchsklassen .............................186
Vergleich der Trennschärfe in den Versuchsklassen (Pre- Posttest und Pre- Post- Postposttest) ............................................187
Vergleich der Trennschärfe des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in den Versuchsklassen (Pre-Post- Postposttest) ..................................................................................188
Vergleich der Trennschärfe des Niveaus der begrifflichen Entwicklung (Pre-Post-Postposttest) ............................188
Vergleich der Trennschärfe des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in den Versuchs- & Kontrollklassen ................................189
Vergleich der Trennscharfe des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in den Versuchs- & Kontrollklassen ...............................189
Vergleich der Trennschärfe des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in den Versuchsklassen (Pre-Post- Postposttest) ..................................................................................190
Abbildungsverzeichnis Abb. 36. Abb. 37. Abb. 38. Abb. 39.
Abb. 40.
Abb. 41.
Abb. 42.
Abb. 43.
Abb. 44.
Abb. 45.
Abb. 46.
Abb. 47.
11
Vergleich der Trennschärfe des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in den Versuchsklassen (Pre-Post- Postposttest) .................................................................................. 190 Niveau der begrifflichen Entwicklung in den Versuchsklassen/ Ergebnisse des Wissenstests in den Versuchsklassen ..................................................................................................191
Vergleich des Niveaus der begrifflichen Entwicklung/ Ergebnisse des Wissenstests in den Versuchsklassen 3 & 4 ...................................................................................... 192
Niveau der begrifflichen Entwicklung/ Ergebnisse der Interviewauswertung in den Versuchsklassen ..................................... 193
Niveau der begrifflichen Entwicklung/ Ergebnisse der Interviewauswertung – Versuchsklasse 3 ............................................... 194
Niveau der begrifflichen Entwicklung/ Ergebnisse der Interviewauswertung – Versuchsklasse 4 ............................................... 194
Vergleich des Niveaus der begrifflichen Entwicklung in Abhängigkeit vom Sozialstatus..................................................................... 196
Pre-Post-Postposttestvergleich des Wissenstransfers – Gesundes Frühstück .......................................................................................... 201
Pre-Post-Postposttestvergleich des Wissenstransfers – Gesunder Nachmittag ....................................................................................... 201
Vergleich des Wissenstransfers in den Versuchs- & Kontrollklassen – Gesundes Frühstück..................................................... 202
Vergleich des Wissenstransfers in den Versuchs- & Kontrollklassen – Gesunder Nachmittag .................................................. 203
Vergleich des Wissenstransfers in den Versuchsklassen 3 & 4 – Gesundes Frühstück........................................................................... 204
Abb. 48.
Vergleich des Wissenstransfers in den Versuchsklassen 3 & 4 – Gesundes Frühstück........................................................................... 204
Abb. 50.
Vergleich des Wissenstransfers in den Versuchsklassen 3 & 4 – Gesunder Nachmittag ....................................................................... 205
Abb. 49.
Vergleich des Wissenstransfers in den Versuchsklassen 3 & 4 – Gesunder Nachmittag ........................................................................ 205
12
Abb. 51. Abb. 52. Abb. 53.
Abb. 54.
Abb. 55.
Abb. 56.
Pre-Post-Postposttestvergleich des Wissenstransfers – Messung der Differenz ......................................................................................206
Vergleich des Wissenstransfers/ Differenz zwischen „mag ich gern/ ist gesund“ in den Versuchs- & Kontrollklassen ....................................................................................................207
Vergleich des Wissenstransfers/ Differenz zwischen „mag ich gern/ ist gesund“ in den Versuchsklassen 3 & 4................208
Wissenstransfer/ Ergebnisse des Wissenstests in den Versuchsklassen ..................................................................................................209
Vergleich des Wissenstransfers/ Ergebnisse des Wissenstest in den Versuchsklassen 3 & 4 ..............................................209
Prüfung des Wissenstransfers mittels Interview in den Versuchsklassen ..................................................................................................210
Abb. 57.
Vergleich des Wissenstransfers/Ergebnisse des Interviews in den Versuchsklassen 3 & 4 ................................................211
Abb. 59.
Vergleich des Sozialstatus in Bezug auf den Wissenstransfer – Anteil geduldeter Lebensmittel (Pretest) ..................................................................................................................213
Abb. 58.
Abb. 60.
Vergleich des Wissenstransfers/ Ergebnisse des Interviews in den Versuchsklassen 3 & 4 ................................................212
Vergleich des Abbaus antinomischen Denkens in den Versuchsklassen (Pre-Post-Postposttest)................................................216
Abb. 61.
Vergleich des Abbaus antinomischen Denkens in den Versuchs- & Kontrollklassen .........................................................................217
Abb. 63.
Abbau des antinomischen Denkens/ Ergebnisse des Wissenstests in den Versuchsklassen .......................218
Abb. 62.
Abb. 64. Abb. 65.
Vergleich des Abbaus antinomischen Denkens in den Versuchsklassen (Pre-Post- Postposttest) ..............................................217
Vergleich des Abbaus antinomischen Denkens/ Ergebnisse des Wissenstests in den Versuchsklassen 3 & 4 ......................................................................................219
Abbau des antinomischen Denkens/ Ergebnisse des Interviews in den Versuchsklassen ............................219
Abbildungsverzeichnis Abb. 66. Abb. 67.
Abb. 68.
Abb. 69.
Abb. 70.
Abb. 71.
Abb. 72.
Abb. 73.
Abb. 74.
Abb. 75.
Abb. 76.
Abb. 77.
Abb. 78.
Abb. 79.
13
Vergleich des Abbaus antinomischen Denkens/ Ergebnisse des Interviews in den Versuchsklassen 3 & 4 ...................................................................................... 220 Vergleich der Motivation in Bezug auf Bewegung in den Versuchsklassen (Pre-Post-Postposttest) ............................................... 223
Vergleich der Motivation in Bezug auf Ernährung in den Versuchsklassen (Pre-Post-Postposttest) ............................................... 224
Vergleich der Motivation in Bezug auf Bewegung & Ernährung in den Versuchsklassen (Pre-Post-Postposttest).......... 224
Vergleich der Motivation in Bezug auf Bewegung & Ernährung in den Versuchsklassen (Pre-Post-Postposttest).......... 225
Vergleich der Motivation in Bezug auf Bewegung in den Versuchs- & Kontrollklassen ........................................................................ 225
Vergleich der Motivation in den Versuchs- & Kontrollklassen in Bezug auf Ernährung ................................................. 226
Vergleich der Motivation in den Versuchs- und Kontrollklassen in Bezug auf Bewegung & Ernährung ...................... 226
Vergleich der Motivation in den Versuchsklassen 3 & 4 in Bezug auf Ernährung & Bewegung (getrennt) ................................. 227
Vergleich der Motivation in den Versuchsklassen 3 & 4 in Bezug auf Ernährung & Bewegung (gesamt) .................................... 227
Vergleich der Motivation in den Versuchsklassen 3 & 4 in Bezug auf Ernährung & Bewegung (gesamt) .................................... 228
Vergleich der Motivation in den Versuchsklassen ............................... 228
Vergleich der intrinsischen Motivation in Abhängigkeit vom Geschlecht ....................................................................................................229
Vergleich der intrinsischen Motivation in Abhängigkeit vom sozialen Status ........................................................................................... 229
Vorwort Salutogenese und die Lehrstrategie des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten Hartmut Giest
Die vorliegenden Arbeit verbindet zwei Gegenstände, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen: a) die Gesundheitsbildung und b) die Lehrstrategie des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten. Diese beiden Gegenstände zusammengedacht, ihren, unserer Überzeugung nach, untrennbaren Zusammenhang aufgedeckt und in ein Forschungsdesign umgesetzt zu haben, darin liegt gerade ihre Innovativität.
Aber der Reihe nach: Zunächst werde ich auf das Problem der Gesundheitsbildung, dann auf jene der Lehrstrategie und ihrer Erforschung eingehen, um schließlich den Zusammenhang zwischen beiden Problemen und damit die Bedeutung der vorliegenden Untersuchung für den Grundschulunterricht darzustellen.
Gesundheitsbildung
Gesundheit ist eine wichtige Grundbedingung und ein zentrales Element unseres Lebens. Bedauerlicherweise leiden auch Kinder unter Gesundheitsproblemen; gewachsen ist in den letzten Jahr(zehnt)en insbesondere das Auftreten von psychischen Problemen, von Übergewicht und Allergien. Diese sind zu einem großen Teil durch eine Lebensweise bedingt (Über- bzw. Fehlernährung, Bewegungsmangel, Reizüberflutung bzw. ein unausgewogenes Verhältnis von Anspannung und Entspannung), die nicht unseren natürlichen körperlichen Bedürfnissen entspricht (RKI 2008).
Gesundheit hängt von verschiedenen Faktoren (Exposition – Umwelt, Disposition – Veranlagung, Konstitution – körperliche und geistige Verfassung des Menschen) ab, ist kein selbstverständliches Gut, sondern ist durch unser Handeln und Verhalten erheblich beeinflussbar. Unter Gesundheit versteht man daher die Fähigkeit (und nicht die Eigenschaft!) eines Menschen, ein Gleichgewicht zwischen den Abwehrmechanismen und Potenzialen des Organismus und der Psyche (den vorhandenen Ressourcen) und den krankmachenden Einflüssen der natürlichen und sozialen Umwelt zu erhalten bzw. immer wieder herstellen zu können (vgl. Antonovskij 1997, siehe auch Hurrelmann 2006). Diese Definition betont die Bedeutung sowohl biotischer
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als auch psychischer und sozialer Faktoren für unsere Gesundheit und orientiert auf das Gesamtverhalten, die Persönlichkeit des Menschen.
Die gegenwärtig und wohl auch in Zukunft sich schnell verändernde gesellschaftliche (und teilweise auch natürliche) Umwelt, die neue Krankheitsbilder bzw. veränderte Tendenzen in der Gesundheitsentwicklung hervorbringt, erfordert mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Denn einerseits sind die Freiheitsgrade im Handeln auch bei Kindern prinzipiell erhöht – Freizügigkeit in den Familien, Konsummöglichkeiten, Medien, gewachsene Finanzkraft der Kinder und Jugendlichen –, und andererseits verlieren tradierte Werte und Normen (im Zusammenleben der Menschen auch mit Bezug auf Gesundheit – vgl. u.a. die Esskultur) an Bedeutung bzw. sind einer dramatischen Wandlung unterzogen. Deshalb wird seit einiger Zeit in der Literatur darüber debattiert, ob der Fokus schulischer Bemühungen um die Gesundheitsförderung nicht mehr auf die Gesundheitserziehung sondern vielmehr auf die Gesundheitsbildung zu richten sei (vgl. Hurrelmann & Wulfhorst 2009, Raithel, Dollinger & Hörmann 2009). Während Gesundheitserziehung darauf gerichtet ist, dass der gesundheitlich erzogene Schüler in der Lage ist, anerzogene Verhaltensweisen richtig anzuwenden, so will Gesundheitsbildung Schüler befähigen, die „richtige“ Verhaltensweise für sich selbst finden zu können. Dazu bedarf es Verhaltensorientierungen, die es erleichtern bzw. ermöglichen, Verhaltensentscheidungen bewusst und sachgerecht zu treffen (vgl. zum Unterschied von Gesundheitserziehung und -bildung, Blättner 1998, Knörzer 1994).
Mit Blick auf die Grundschule ist daher eine Gesundheitsbildung erforderlich, die auf die Stärkung der Persönlichkeit gerichtet ist und Kindern ein aktives gesundheitsbewusstes und gesundheitsförderliches Handeln ermöglicht. Dieses integriert Gesundheitswissen (als Kernkonzept einen adäquaten Gesundheitsbegriff), Gesundheitsmotivation und Gesundheitsverhalten im Sinne der bewussten und z.T. auch gewohnheitsmäßigen Anwendung des Wissens im Handeln.
Wie ordnet sich die vorliegende Arbeit in diese Problemlage ein? Das Ziel der Untersuchungen bestand in der Erforschung der Wirkungen eines besonderen unterrichtlichen Vorgehens auf die Aneignung des Gesundheitsbegriffes durch Kinder und die Qualität begrifflichen Operierens, des begrifflichen Transfers, die handlungsorientierende Wirkung des begrifflichen Wissens sowie die Motivation zum gesundheitsrelevanten Handeln. Der theoretische Hintergrund des Untersuchungsansatzes besteht einerseits in der konsequenten Bezugnahme auf das Konzept der Salutogenese (Antonovskij) und den entsprech-
Vorwort
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enden (aktiven, nicht dichotomen) Gesundheitsbegriff, seine Konkretisierung (Anwendung, Wissenstransfer) auf gesundheitsrelevante Bereiche (Ernährung/ Bewegung), deren Bedeutung in der Kiggs-Studie (2006) erneut deutlich wurde. Wir haben es hier mit einem Gegenstandbereich zu tun, der begrifflich auf einem klar abgrenzbaren Kernkonzept, dem der Salutogenese, beruht. Der salutogenetische Gesundheitsbegriff bildet daher ein ideales Ausgangsabstraktum für die gedankliche Konstruktion (unter ontogenetischer) und Rekonstruktion (unter phylogenetischer Perspektive) einer modernen Sicht auf Gesundheitsprävention – einer überaus dringlich zu lösenden Aufgabe. Die Bedeutung und Aktualität der hier behandelten Fragestellung und des inhaltlichen und forschungsmethodischen Ansatzes wurde vor allem im Rahmen verschiedener Präsentationen auf wissenschaftlichen Konferenzen von Experten der Gesundheitsbildung (z.B. Klaus Hurrelmann) als auch von Seiten der im Gesundheitsbereich tätigen Verantwortlichen (Krankenkassen, Ministerien) besonders hervorgehoben. Interessant war jedoch, dass Grundschulpädagogen eher an einer Gesundheitserziehung mit ihren vermeintlich schnellen Resultaten hinsichtlich des Gesundheitsverhaltens interessiert waren und das, obwohl die hier praktizierten Konzepte sich als weitgehend unwirksam erwiesen haben (vgl. Franken 2010).
Die Lehrstrategie des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten
Der psychologisch-didaktische Ansatz des „Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten“ (AK) oder auch der „Entwickelnde Unterricht“ bezeichnen eine Strategie oder pädagogische Orientierung, aus der vor allem Konsequenzen für die Stoffanordnung und Anlage von Unterricht, seine Planung (Giest 2010) und Gestaltung abzuleiten sind. Es handelt sich nicht um eine in sich mehr oder weniger geschlossene, ausgearbeitete didaktische Theorie, wie sie beispielsweise Klafki (1964, 1985) vorgelegt hat. Die im Ansatz formulierten Orientierungen wurden vor allem aus Bezugstheorien gewonnen, die auf dem Hintergrund der kultur-historischen Theorie entstanden sind. Als solche sind zu nennen: Die Theorie der Bildung wissenschaftlicher Begriffe (Vygotskij 2002) sowie deren Weiterentwicklung durch die Theorie des theoretischen Denkens, der dafür adäquaten Form der Verallgemeinerung (Davydov 1977, 1996), die Theorie der geistigen Handlung (Gal‘perin 1980, 2004), die Theorie der Orientierungstätigkeit (Talysina 2002), die Theorie der Lerntätigkeit (Lompscher 1989, Giest & Lompscher 2007) sowie die Theorie der pädagogischen Handlungsregulation (El’konin 1998). Eine erste umfassendere theoretischer Darstellung hat Davydov (1977, 1996) ausgearbeitet.