einflussfaktoren bei entscheidungen von Staatsanwälten - Alexandria

gien von Staatsanwälten aus psychologischer. Sicht. Im Rahmen dieses Projektes wurden. Online-Fragebögen zur quantitativen Befra- gung an 689 kantonale ...
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Forschung/recherche Revital Ludewig, Juan LaLlave, Bianca Gross-De Matteis

Einflussfaktoren bei Entscheidungen von Staatsanwälten: Zwischen Urteil und Vorurteil – Ausländer, Vorstrafe, Deliktschwere... Zusammenfassung Sind Staatsanwälte in ihren Entscheidungen beeinflusst und wenn ja, sind sie sich dessen bewusst? Im Rahmen einer rechtspsychologischen Studie mit 179 Staatsanwälten aus der Schweiz wurde diese Frage untersucht. Im ersten Teil der Studie wurde geprüft, inwieweit Staatsanwälte Einflussfaktoren bei ihren Entscheidungen bewusst wahrnehmen. Im zweiten Teil wurde anhand eines Experiments überprüft, ob diese Faktoren tatsächlich einen Einfluss auf ihre Entscheidungen haben und insbesondere, inwieweit Moraldilemmata der Beschuldigten das Strafmass beeinflussen. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass sogenannte «rechtlich legitime» Einflussfaktoren wie «Vorstrafen» und «Deliktschwere» sowie «rechtlich nicht legitime» Einflussfaktoren wie ­ «Geschlecht» und «Nationalität» des Beschuldigten in unterschiedlichem Masse Eingang in staatsanwaltliche Entscheidungen finden und Einfluss auf das Strafmass haben. Die Staatsanwälte nehmen diese Einflüsse nur teilweise wahr. Die Bewusstwerdung der Beeinflussbarkeit ihrer Entscheidungsfindung soll den Staatsanwälten ermöglichen, diese ausgewogener zu gestalten. Schlüsselwörter: Staatsanwälte, Entscheidung, Einflussfaktoren, Psychologie, Moraldilemma.

part, they responded to vignettes of offenses with and without moral dilemmas. Prosecutors indicated whether these factors influenced their decisions and particularly, whether offenses with and without moral dilemmas had a different effect on the severity of punishment. The results confirm that “legally legitimate” factors such as “prior criminal record” and the “severity of the offense” strongly influence prosecutors while factors that are “not legally legitimate” such as “sex” and “nationality” of the accused have less of an influence on prosecutor’s decision-making. Their awareness of the differences between legally mandate factors and ethically biasing factors can be observed in how these factors were rated to influence their own and their colleagues’ decision-making. Prosecutors rated that they were more influenced by legally appropriate factors than their colleagues were. Conversely, their colleagues’ decisions were more influenced by non-legitimate biasing factors than their own. Increasing proscecutors’ sensitivity and awareness of factors that influence their decisions would result in better-balanced decision-making. Keywords: Prosecutors, decisions, factors of influence, psychology, moral dilemmas.

Résumé Est-ce que les procureurs généraux sont influencés dans leurs décisions et si oui, est-ce qu’ils en sont conscients? Des procureurs généraux de la Suisse ont répondu à cette question dans une étude de psychologie forensique qui se divise en deux parties. Dans la première partie, les procureurs ont rempli un questionnaire qui évalue dans quelle mesure ils sont conscients des facteurs qui influencent leurs décisions. La deuxième partie examine avec une expérimentation si ces facteurs ont vraiment un effet sur les décisions et notamment dans quelle mesure des dilemmes moraux du prévenu ont une influence sur la peine. Les résultats mettent en évidence que les facteurs qui sont «légalement légitimes» comme des «condamnations antérieures» et la «gravité du délit» ainsi que des facteurs «légalement ne pas légitimes» comme le «sexe» et la «nationalité du prévenu» ont des éffets différents sur la décision du procureur et sur la peine. Les procureurs ne perçoivent ces influences que partiellement. En se rendant compte de l’influençabilité de leur prise de décision, les procureurs pourraient arriver à des décisions plus équilibrées. Mots-clés: Procureur général, décision, facteurs d’influence, psychologie, dilemmes moraux.

1.

Einleitung

Als Organe der Rechtspflege und zentrale Akteure des schweizerischen Rechtssystems wird von Staatsanwälten1 erwartet, dass sie ihre Unabhängigkeit wahren. Mit ihren Entscheidungen gestalten sie die Rechtspflege und bestimmen individuelle Schicksale mit. Ihren Entscheidungen kommt dabei eine enorme gesellschaftliche Bedeutung zu, da ein grosser Teil der Strafverfahren ausschliesslich von der Staatsanwaltschaft mittels Strafbefehl erledigt wird und nicht durch Anklage vor Gericht kommt.2 Von ihnen eingeleitete Massnahmen, wie beispielsweise Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Festnahmen tangieren die Grundrechte und die Lebensläufe der hier-

Abstract Are prosecutors influenced in their decisions and if so, are they aware of it? Swiss prosecutors (N = 179) responded to this question in a two-part study in forensic psychology. In the first part, they completed a questionnaire on the extent to which they are consciously aware of factors that influence their decisions. In the second

1 Aus Gründen der Einfachheit für die Leserin und den Leser wurde für den Beitrag die männliche Schreibweise gewählt. 2 Im Kanton St.  Gallen beispielsweise gab es im Jahr 2010 insgesamt 44 320 Straf­ verfahren (inkl. Spezialgesetzgebung), die durch die Staats­ anwaltschaft mittels Strafbefehl erledigt wurden, während es nur gerade in 539 Strafverfahren zu einer Anklage vor Gericht kam (vgl. http://www.staats anwaltschaft.sg.ch/home/aufgaben/statistik.html, am 3. Februar 2012).

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durch Betroffenen in erheblichem Masse. Dabei erleben Staatsanwälte im Vergleich zu Richtern eine merklich höhere Arbeitsbelastung. Sie haben zahlreiche Fälle zu bearbeiten und sind bei hohem Zeitdruck bestrebt, diese gut und schnell zu erledigen (Ludewig & De Matteis, 2011a). Insbesondere kann es durch die knappe Zeit dazu kommen, dass unzureichend begründete, inadäquate Kriterien, die den Beschuldigten betreffen, «ein Bauchgefühl», Einfluss auf die Entscheidungen der Staatsanwälte nehmen. Ein intuitives Vorgehen birgt jedoch auch die Gefahr von Fehldeutungen (Gigerenzer, 2007).3 In diesem Beitrag wird untersucht, ob Schweizer Staatsanwälte sich von Einflussfaktoren beeinflussen lassen und inwieweit sie sich über diese in Frage stehende Beeinflussung im Klaren sind. Zu Beginn des Beitrags wird auf das Problem der Urteilsverzerrung aufgrund von Einflussfaktoren bzw. die Wahrnehmungsbeeinflussung im Allgemeinen eingegangen. Anschliessend werden die Fragestellungen und Untersuchungen erläutert und die Ergebnisse vorgestellt und diskutiert.

2.

Wahrnehmungsbeeinflussende Faktoren

In diesem zweiten Kapitel wird auf Literatur zu Einflussfaktoren und insbesondere auf «Moraldilemmata», «Geschlecht», «Nationalität» sowie «Vorstrafen» des Beschuldigten eingegangen, um mögliche Tendenzen zu analysieren.

2.1

Urteilsverzerrungen

Menschen müssen täglich zahlreiche Entscheidungen treffen. Diese werden teilweise umgehend getroffen und setzen die rasche kognitive und emotionale Verarbeitung der betreffenden Informationen voraus. Weil ein gründliches Überdenken häufig nicht möglich ist, bedient sich der Mensch gewisser Abkürzungen, seines Schemawissens. Schemata sind «mentale Strukturen, die Menschen benutzen, um ihr Wissen in Themenbereichen oder Kategorien bezüglich der Welt zu organisieren» (Aronson, 2004, 62). Vorurteile etwa können

3 Wir bedanken uns beim Diplompsychologen Christian Wetzel, bei Staats­ anwalt Thomas Hansjakob und bei Rebecca Wullschleger für die Durchsicht des Beitrags.

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als solche Abkürzungen angesehen werden. So gelten Frauen eher als Opfer denn als Täter und Ausländer werden eher in kriminellem Milieu gewähnt als Einheimische. Obwohl die allgemeine Meinung herrscht, dass Entscheidungen aufgrund von Fakten getroffen werden sollen, zeigen Studien, dass sich sogar erfahrene Juristen von zufälligen Faktoren beeinflussen lassen, wie z. B. dem Anker-Effekt, bei dem die erste (teilweise auch zufällig genannte) Zahl oder das erstgenannte Detail als Ausgangspunkt (Anker) angenommen wird und als zentrale Entscheidungshilfe dient, ohne dass dieser Ausgangspunkt adäquat und bewusst überprüft wird (Englich 2008; Schweizer, 2009). Die möglichen Einflussfaktoren sind zahlreich und wirken auf unterschiedlichste Weise. So zeigte etwa eine Studie, bei der 2000 richterliche Urteile in Israel analysiert wurden, dass Richter milder über Entlassungen urteilen, wenn sie nicht hungrig sind bzw. je satter sie sind; Urteile, die kurz vor dem Mittagessen gefällt wurden, fielen strenger aus (Danziger et al., 2011). Weiter kann beispielsweise auch die grundsätzliche persönliche Einstellung gegenüber Straftaten im Allgemeinen Einfluss auf das Urteil nehmen. Die Einflussfaktoren werden von dem Handelnden selbst oft nicht wahrgenommen, nicht realisiert. Sie nehmen an, dass sie in allen ­Fällen «objektiv» und gleich urteilen und zwar allein aufgrund der Fakten. So untersuchte Schünemann (1983) in einem Experiment, ob die Reihenfolge der Präsentation der schuldentlastenden und schuldbelastenden Informationen Einfluss auf das Urteil hat. Im Experiment wurden die teilnehmenden Richter in zwei Gruppen aufgeteilt und erhielten identische Akten. Zwischen den Gruppen wurde lediglich die Reihenfolge der Informationen in den Akten so variiert, dass Gruppe A zuerst die schuldbelastenden Informationen und die Richter aus Gruppe B zuerst die schuldentlastenden Informationen zu lesen bekamen. Es stellte sich heraus, dass 82% der Richter in Gruppe A den Angeklagten für schuldig hielten. In der Gruppe B waren jedoch nur 47% der Richter dieser Meinung. Einflussfaktoren sind somit mentale Abkürzungen und basieren auf Schemawissen. Sie führen oft zu Fehlern, da sich der Blick des Beurteilenden auf einige wenige Faktoren beschränkt und dabei wichtige Informationen

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ausser Acht gelassen werden. Dabei dürften Faktoren – wie Sättigungsgrade des Richters, die Reihenfolge der Fakten, das Geschlecht oder die Nationalität des Beschuldigten – die Entscheidungen von Richtern und Staatsanwälten nicht beeinflussen. Allgemein kann festgestellt werden, dass Verurteilungen am strengsten sind, je weniger Informationen über einen Sachverhalt vorliegen sowie wenn bei Fehlinformationen vorhanden sind, wie dies beispielsweise in der Studie von McCabe et al. (2011) ersichtlich wurde. So urteilten Geschworene strenger, wenn der Beweis einer Lüge sich auf ein MRT stützte, während eine Kontrollgruppe, die sich auf den «traditionellen Polygraphen» bezog, weniger streng urteilte. Andere Geschworene erhielten Ergebnisse eines MRT und wurden über die Grenzen der Zuverlässigkeit eines MRT bezüglich Wahrheitsfindung hingewiesen. Diese Gruppe milderte ihre Urteile, indem sie die Aussagekraft des MRT begrenzten. Dies reduzierte die Anzahl der Verurteilungen signifikant bzw. sie war identisch wie beim «traditionellen Polygraphen». Dies veranschaulicht die Wichtigkeit, fehlende Informationen zu korrigieren. Es dient dazu, Überlegungen zu vertiefen, senkt den Einfluss heuristischer Vorurteile und schränkt die Möglichkeit von Ungerechtigkeit ein. In unserer Studie stossen wir auf einen ähnlichen Effekt.4 Staatsanwälte urteilten strenger, wenn sie nur die einfachen Fakten eines Vergehens ohne zusätzliche Umstände kannten. Im Gegensatz hierzu sprachen sie für das gleiche Vergehen mildere Strafen aus, wenn dieselben Fakten mit zusätzlichen, mildernden Umständen ergänzt wurden.

2.2

Der Einfluss von Moraldilemmata

Die Beurteilung von Fällen mit gleicher Deliktschwere verläuft nicht immer einheitlich. Als mögliche Einflussfaktoren können etwa Moral­ dilemmata auftreten. Wie wird in Fällen entschieden, bei denen sich der Beschuldigte während der Tatzeit in einem Moraldilemma befand, im Vergleich zu gleichen Delikten ohne Moraldilemma? Wird die Einzelfallorientierung oder die Regelorientierung bevorzugt? Veranschaulichen soll dies das Beispiel einer Frau, die ihre Tochter vor ihrem Schwiegersohn schützen wollte. Er hatte ihre Tochter, bzw. seine Frau, regelmässig geschlagen und drohte seit kurzem damit, die Enkelin zu ent-

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führen. Als sie den Schwiegersohn zur Rede stellt, bedroht er auch sie. Es kommt zu Streit und Handgreiflichkeiten und die Frau erschiesst am Ende ihren Schwiegersohn. Wie erheblich ist der Einfluss dieses Dilemmas, in dem sich diese Frau befand, auf das Strafmass im Vergleich zum Fall einer Frau, die dieselbe Tat ohne diese spezifische Vorgeschichte (Drohung und Gewalt gegenüber der eigenen Tochter) beging? Zu dieser Fragestellung finden sich bis anhin keine Studien und dies, obwohl Moraldilemmata eine äusserst intensive Auseinandersetzung mit einem Fall fordern und als berufliche Herausforderung gelten. Es ist bekannt, dass solche Moraldilemmata im Berufsalltag von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten auftreten (Ludewig & De Matteis, 2011b). Moraldilemmata sind spezifische Wertkollisionen: Kommt es zu einer Kollision von zwei für das Individuum moralisch richtigen Werten, so kann das Individuum vor einem Moraldilemma stehen (Sartre, 1968). Wenn sich der Beschuldigte während der Tat in einer Moraldilemma-Situation befand, besteht die Möglichkeit eines mildernden Einflusses auf das Entscheidungsverhalten und die konkreten Entscheidungen von Staatsanwälten. Eingehendere Untersuchungen, etwa zu einem Einfluss auf das Strafmass durch Moraldilemmata, existieren nicht. Ein Ein­ fluss von Moraldilemmata auf staatsanwaltliche Entscheidungen erscheint jedoch wahrscheinlich. Dies gilt z.  B., wenn ein Staats­ anwalt zwischen der Regelorientierung und der Berücksichtigung einzelfallspezifischer Besonderheiten (Einzelfallorientierung) entscheiden muss. Je nach Gewichtung dieser ­beiden konträren Seiten kann sich ein Moral­ dilemma auf ein Urteil potentiell diametral auswirken.

2.3

Geschlecht des Beschuldigten als Einflussfaktor

Ein weiterer Faktor stellt das Geschlecht des Beschuldigten dar. Werden Frauen und Männer, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder dessen verdächtig sind, gleich behandelt? In der Schweiz werden Frauen deutlich seltener straffällig als Männer. Verglichen mit ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung sind sie signifikant untervertreten (BFS, 2011). So 4 Siehe Kapitel 6.1: Milde durch Moraldilemmata: Einzelfallorientiertheit vor Regelorientiertheit und Abb. 4 und 5, S. 17–19.

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machten Frauen im Jahre 2006 nur 15,8% der Beschuldigten und 9,5% der Personen im Vollzug aus. Dieses geschlechtsspezifische Phänomen ist in verschiedenen Ländern schon lange bekannt (Nagel & Hagan, 1983). Es könnten bei Frauen höhere Strafen (bei schweren Delikten) erwartet werden, weil schweres kriminelles Handeln von Frauen seltener ist und daher als zum weiblichen Wesen unpassend erscheint (Nagel & Hagan, 1983). Zugleich wird die Existenz eines «Frauenbonus» vermutet bzw. wird erwartet, dass die Strafen für Frauen bei gleicher Deliktschwere niedriger ausfallen als bei Männern. Behördliche und wissenschaftliche Untersuchungen zeigen diesbezüglich uneinheitliche Ergebnisse. Das Schweizer Bundesamt für Statistik stellt für das Jahr 2005 fest, dass Frauen in der Schweiz bei grober Verletzung von Verkehrsregeln häufiger Bussen erhielten als Männer (87% bzw. 74,3%), während bedingte Freiheitsstrafen in Verbindung mit Verletzungen von Verkehrsregeln häufiger bei Männern als bei Frauen ausgesprochen wurden (20,4% bzw. 11,1%) (BFS, 2011). Weitere Studien zeigen, dass bestimmte Delikte für Frauen weit kürzere Haftstrafen oder kleinere Bussen zur Folge haben als für Männer (u. a. Bushway & Piehl, 2001; Engen & Gainey, 2000; Mustard, 2001). Andere Studien finden jedoch keinen Unterschied in der für Männer und Frauen ausgesprochenen Straflänge (Albonetti, 1991; Crew, 1991; Wooldredge, 1998) und wieder andere Studien kommen zum Ergebnis, dass Frauen härter bestraft werden. Dies wurde zum ­Beispiel beobachtet bei weiblichen, amerika­ nischen Jugendlichen (Chesney-Lind, 1977; Chesney-Lind & Shelden, 2004) oder bei der Analyse von richterlichen Entscheidungen aus den USA über die Zeit hinweg (Boritch, 1992).5

2.4

Nationalität als Einflussfaktor

In Teilen der hiesigen Medien und der Bevölkerung drückt sich eine Voreingenommenheit

5

Die Frage, inwieweit das Geschlecht des Urteilenden bzw. des Richters und der Richterin Einfluss auf die Entscheidung hat, wurde in zahlreichen Studien untersucht (Gruhl, 1984; Oswald, 1994; Ludewig & Weislehner, 2007). In der vorliegenden Studie wird auf diesen Aspekt nicht näher eingegangen. Die Ergebnisse der Studien sind hier nicht einheitlich. Nach Gruhl und Welch (1984) lassen männliche Richter eher Milde walten, wenn es sich bei dem Beschuldigten um eine Frau handelt. Richterinnen urteilen jedoch über beide Geschlechter, im Falle einer gleichen Deliktschwere, mit der selben Strenge bzw. Milde. Andere Studien kommen zum Schluss, dass das Geschlecht keinen Einfluss auf die Strafhärte hat (Oswald, 1994; Ludewig & Weislehner, 2007).

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gegenüber Ausländern insbesondere auch darin aus, dass diesen, wie bereits erwähnt, eher Kriminalität unterstellt wird als einheimischen Personen. Tatsächlich zeigen zahlreiche Studien, dass der Anteil an Straftaten unter Ausländern höher ist als unter der einhei­ mischen Bevölkerung (Daly & Tonry, 1997; K illias, 1997). Dies belegen Studien u. a. für ­ Deutschland (Albrecht, 1997), England (Smith, 1997) und Schweden (Martens, 1997). In der Schweiz zeigen sich ähnliche Tendenzen. Teilweise handelt es sich bei den delinquenten Ausländern häufig um Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus oder um Durchreisende. Zu erwähnen ist jedoch, dass die Bereitschaft, einen Ausländer anzuzeigen, höher ist (Tonry, 1997) und ausserdem eine Tendenz zur Befürwortung härterer Bestrafung von Ausländern angenommen wird, wie dies für die Niederlande belegt ist (u. a. Junger-Tas, 1997). In einer Studie aus den USA (Mitchell et al. 2005) konnte festgestellt werden, dass Beschuldigte mit schwarzer Hautfarbe 13-mal häufiger für Drogendelikte verurteilt werden als Beschuldigte mit weisser Hautfarbe, obwohl die Rate der Drogenabhängigen mit schwarzer und weisser Hautfarbe identisch ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Broadhurst (1997) in Australien. Laut seiner Studie werden Aborigines 9-mal häufiger festgenommen als die restliche australische Bevölkerung. Ferner zeigt sich, dass Beschuldigte mit schwarzer Hautfarbe nicht nur häufiger, sondern auch deutlich strenger bestraft werden (Mustard, 2001). Es scheint, dass sachverhaltsfremde Aspekte, wie die ethnische Zugehörigkeit des Beschuldigten, das Urteil vor allem dann beeinflussen, wenn die Aufmerksamkeit bzw. die Zeit, die einem Fall gewidmet werden kann, beschränkt ist (van Knippenberg et al., 1999). In welchem Masse die fremdländische Herkunft von Personen möglicherweise die Entscheidungen von Schweizer Staatsanwälten beeinflusst, soll in der aktuellen Studie erforscht werden.

2.5

Vorstrafe als Einflussfaktor

Ebenso wird ein Blick auf den Einfluss des Faktors Vorstrafen geworfen. Die Annahme, dass sie zu einer härteren Strafe führen oder gar zu der bedeutsamsten Determinante bei der Höhe der Strafzumessung gehören, wird in mehreren Studien belegt (Roberts, 1997, Oswald, 1997). Dies lässt sich nicht zuletzt mit der

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Tatsache erklären, dass das Verschulden des Täters als höher wahrgenommen wird, sowie damit, dass die Strafzumessung auch von der vom Täter ausgehenden, zukünftigen Gefahr abhängt (Lurigio et al, 1994). Schliesslich ist es das Ziel von Richtern und Staatsanwälten, den Schutz der Allgemeinheit sicherzustellen und dieser kann je nach Art und Schwere des Delikts besonders erforderlich erscheinen. Schwere Delikte und eine hohe Anzahl an Vorstrafen führen demnach direkt zu höheren Strafen; je höher die Anzahl Vorstrafen, desto strenger ist das Strafmass bei erneutem Delinquieren. Eine Studie mit Strafrichtern in England verdeutlicht, dass bei der Strafzumessung die Orientierung an Vorstrafen vor allem in stressbelasteten Zeiten zunimmt. Da die Folgen der Entscheidungen, die mit Hilfe des Kriteriums Vorstrafe getroffen wurden, oft nicht abschätzbar sind, entsteht bei den betroffenen Staatsanwälten häufig eine Unsicherheit im eigenen Handeln (Dhami & Ayton, 2001; Eisenführ & Weber, 2003).

3.

Fragestellung

Die im vorangehenden Abschnitt erwähnte Literatur gibt keinen Aufschluss über die Art und Weise, wie Staatsanwälte mit verschiedenen Einflussfaktoren umgehen, ob sie diese bewusst wahrnehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Ziel der vorliegenden Studie ist es, diese Einflussfaktoren bei Schweizer Staatsanwälten zu untersuchen. Es soll herausgefunden werden, ob die Erwartung an eine absolute Unabhängigkeit und Objektivität von Staatsanwälten überhaupt realistisch ist. Folgende Fragestellungen werden dazu behandelt: a) Wie schätzen Staatsanwälte den Einfluss von verschiedenen Faktoren (s. u.) auf ihr eige-

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nes Handeln ein (Selbsteinschätzung/MetaEbene)? Wie schätzen sie ihre Berufskollegen in dieser Hinsicht ein (Fremdeinschätzung/ Meta-Ebene)? b) Haben Moraldilemmata Einfluss auf die Entscheidungsfindung und das Strafmass? c) Wie wirken sich die Kriterien Geschlecht, Nationalität des Beschuldigten, Deliktschwere und Vorstrafen tatsächlich auf die Urteile von Staatsanwälten aus, bei Fällen mit und ohne Moraldilemma?

4.

Methoden der Untersuchung

Die im Folgenden dargelegten Ergebnisse, stützen sich auf ein Forschungsprojekt zum Thema Entscheidungsfindung, Moraldilemmata, Berufsschwierigkeiten und Bewältigungsstrategien von Staatsanwälten aus psychologischer Sicht. Im Rahmen dieses Projektes wurden Online-Fragebögen zur quantitativen Befragung an 689 kantonale Staats- und Bundesanwälte versendet. Ausgefüllt und retourniert wurde der Arbeit und Zeit fordernde Fragebogen von 179 Staatsanwälten, was einer sehr guten Rücklaufquote von 26% entspricht. Zudem wurde der Online-Fragebogen in angepasster Form an 160 Rechtsstudenten der Universität St.  Gallen versandt. Retourniert wurde der Fragebogen von 30 Studenten, was einer Rücklaufquote von 19% entspricht. Der Aufbau der Fragen zur Entscheidungsfindung wurde zweigeteilt (a) in einen Befragungsteil und (b) in einen experimentellen Teil. a) Im Befragungsteil wurde von den Befragten die Selbsteinschätzung zu verschiedenen Einflussfaktoren ermittelt. Die Staatsanwälte wurden gebeten, verschiedentliche Angaben zu Aspekten der Entscheidungsfindung (wie z. B. Zeitdruck, Täter zeigt Reue/zeigt keine Reue, Geschlecht, Nationalität etc.) zu machen.

Exkurs: Experiment Mit Hilfe der experimentellen Methode lässt sich überprüfen, ob zwischen zwei Phänomenen eine kausale Beziehung besteht (z. B. Strafhärte und Nationalität des Beschuldigten). Zwei Gruppen von Versuchspersonen werden zwei identische Situationen vorgestellt, die sich lediglich bezüglich einer Variable unterscheiden (schweizer Beschuldigter vs. ausländischer Beschuldigter). Die experimentelle Methode ermöglicht dem Forscher zu bestimmen, ob eine kausale Beziehung zwischen den beiden untersuchten Aspekten vorliegt (in diesem Fall die Nationalität des Beschuldigten und die Strafhöhe/Strafhärte) (Aronson et al., 2004). Durch die Konstanz der experimentellen Bedingungen und die Variierung ausschliesslich des untersuchten Aspekts werden statistisch signifikante Veränderungen in der experimentellen Beobachtung als kausal angenommen (Aronson et al., 2004).

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Tabelle 1: Skala–Strafhärte/ Strafmass 1 = Freispruch,

4 = Freiheitsstrafe 180–360 Tage,

7 = Freiheitsstrafe 3–5 Jahre,

2 = Geldstrafe bis 180 Tagessätze,

5 = Freiheitsstrafe 1–2 Jahre,

8 = Freiheitsstrafe 5–10 Jahre,

3 = Geldstrafe 180–360 Tagessätze,

6 = Freiheitsstrafe 2–3 Jahre,

9 = Freiheitsstrafe mehr als 10 Jahre.

Danach sollten sie beurteilen, in welchem Masse diese vorgegebenen Kriterien, unbewusst oder bewusst, auf ihre beruflichen ­Entscheidungen Einfluss zu nehmen vermögen (Selbsteinschätzung). In einem weiteren Schritt wurden sie gebeten abzuwägen, ob d iese Faktoren ihrer Einschätzung nach die ­ Entscheidungen ihrer Berufskollegen beein­ flussen (Fremdeinschätzung) und falls ja, in welchem Mass (1 = mildere Strafe, 5 = härtere Strafe). b) Im Rahmen des Experiments wurden den Befragten jeweils sechs Fälle präsentiert. Drei «einfache» Fälle bzw. Fälle ohne Moraldilemmata und drei Fälle, die ein Moraldilemma beinhalteten. Die Sachverhalte wurden entsprechend der experimentellen Bedingungen doppelt ausgearbeitet, und die unterschiedlichen Fragebögen wurden Version A und Version B genannt (Version A: 90 Staatsanwälte, Version B: 89 Staatsanwälte). Die Fallbeispiele in den

beiden Versionen waren jeweils identisch und unterschieden sich konsistent über die drei beinhalteten Fälle hinweg lediglich aufgrund der folgenden Kriterien: −− Moraldilemma: Fälle mit Moraldilemma – ohne Moraldilemma. −− Geschlecht: Frau – Mann −− Vorstrafen: vorbestraft – nicht vorbestraft −− Nationalität: Schweizer – Ausländer −− Deliktschwere: Leichtes Verkehrsdelikt – mittelschweres Körperverletzungsdelikt – schweres Tötungsdelikt Die Analyse der Untersuchungsbefunde soll prüfen, ob die Staatsanwälte in ihren Entscheidungen (Strafmass) durch die besagten Kriterien beeinflusst wurden. Die 9-stufige Skala des Strafmasses umfasste das Spektrum vom «Freispruch» (1) bis zur «Freiheitsstrafe von mehr als 10 Jahren» (9) (vgl. Tab. 1)

Rechtlich legitime Aspekte 100% 90%

93,3% 92,7% 87,7% 87,7% 87,7%

80%

Rechtlich nicht legitime Aspekte

85,5% 77,1% 76,0%

70% 60% 50%

56,4% 48,6% 41,9%

40%

38,0% 37,4% 29,6% 29,1% 29,1%

30%

17,9%

20%

15,6%

10%

Vo rs tra fe n

vo rh Tä an te de Tä r te n r z zeig ei tR eu Ge gt k e ei ist ne ig eB Re ue Ps eh yc in hi d e sc ru he ng Tä Kr A te a l n A ko rs kh ffe ho el ei kt bs l t ha t O -/D nd ro pf lu ge er ng np v. Ke r M in iss oble eV m ha or e nd st ra l un fe ge n vo n Sc rh hw an ac de he n s s Zei td oz St r ar ia le uck Au kes sU slä so zia mfe nd l le isc sU d he m rS fe ta ld Ge at sc sb Ei ge hl ü rg ec Ei er ge nes ht ne W w ei s W oh bl ich oh lbe fin lb de ef in de n gu Ge n t sc sc hl hl Sc ec e ch hw ht t ei m ze än rS nl ich ta at sb ür ge r

0%

Beeinflussung möglich

Abb. 1: Mögliche Einflussfaktoren nach Selbsteinschätzung von Staatsanwälten (179 Staatsanwälte) in Prozent

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Exkurs: Vorstrafe Das Kriterium der Vorstrafe bzw. der Begriff der Vorstrafe gehört zu den «rechtlich legitimen» Einflussfaktoren, wird jedoch im Schweizerischen Strafgesetzbuch unter dem Kapitel der Strafzumessung und auch in den übrigen Teilen des Strafgesetzbuches nicht explizit genannt. Der Einfluss dieses Kriteriums auf richterliche Entscheidungen ist dennoch im Sinne des Gesetzgebers. Dieser Wille des Gesetzgebers lässt sich auf zwei Arten feststellen. Einerseits wird der Begriff der Vorstrafe durch den Terminus des Vorlebens in Art. 47 Abs. 1 StGB erfasst (BSK StGB I – Wiprächtiger, Art. 47 N 100 ff.). Der Begriff der Vorstrafe per se wird zwar durch das Strafgesetzbuch nicht explizit erwähnt, dennoch ist den Strafgesetzbuch-Kommentaren zu entnehmen, dass den Vorstrafen – u ­ nter dem Titel des Vorlebens – eine ausserordentlich wichtige Rolle bei der Strafzumessung zukommt. Bestätigt wird dies andererseits durch die seit dem 1. Januar 2011 in Kraft getretene schweizerische Strafprozessordnung. Diese erwähnt nämlich den Begriff der Vorstrafe in Art. 195 Abs. 2 StPO explizit. Gemäss Art. 27 sowie Art. 47 Abs. 1 StGB wird die Strafe nach dem Verschulden des Täters bemessen, wobei u. a. die persönlichen Verhältnisse berücksichtigt werden. Zur Abklärung der persönlichen Verhältnisse wiederum holen Staatsanwaltschaft und Gerichte gemäss Art. 195 Abs. 2 StPO u. a. Auskünfte über Vorstrafen ein. Der Begriff der Vorstrafe wird somit durch die in Verbindung mit dem Strafgesetzbuch anwendbare Strafprozessordnung explizit genannt. Das Kriterium der Vorstrafe gilt somit als «rechtlich legitimes» Kriterium.

Weiterhin wurde die subjektive Selbsteinschätzung der Staatsanwälte den Ergebnissen des Experiments gegenübergestellt.

5.

Bewusste Wahrnehmung von Einflussfaktoren: rechtlich legitime und rechtlich nicht legitime Einflussfaktoren

Im ersten Teil der Untersuchung wurde geprüft, ob Staatsanwälte Einflussfaktoren in ihrer Tätigkeit wahrnehmen. Dazu wurden den befragten Staatsanwälten 22 mögliche Einflussfaktoren präsentiert, zu denen sie angeben sollten, ob sie ihre Entscheidungen potentiell, bewusst oder unbewusst beeinflussen. Wie weiter unten dargestellt wird, lassen sich diese Einflüsse aufgrund der Angaben der Untersuchungsteilnehmer in solche unterteilen, die sie als eher angemessen oder als eher unangemessen sehen.

5.1

Selbsteinschätzung: «rechtlich ­legitime» Kriterien beeinflussen mehr

Die Mehrheit der befragten Staatsanwälte gibt an, dass Kriterien wie Reue (92,7%), geistige Behinderungen (87,7%) und psychische Krank­ heiten (87,7%) bei ihren Entscheidungen eine Rolle spielen (vgl. Abb. 1). Besonders das Kriterium der Vorstrafen hat Einfluss auf die Entscheidungen. Ist eine Vorstrafe beim Angeschuldigten vorhanden, so hat dies nach Angabe von 93,3% der befragten Staatsanwälte Einfluss auf ihre Entscheidung. Hingegen gibt eine kleinere Gruppe der befragten Staatsanwälte nach eigener Ein­

schätzung an, von den Kriterien Geschlecht (männlich 17,9%, weiblich 29,6%) sowie dem eigenen Wohlbefinden (29,1%) beeinflusst zu werden. Die obigen Einflusskriterien lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Wir bezeichnen diese als (a) sogenannte «rechtlich legitime» Einflussfaktoren und (b) sogenannte «rechtlich nicht legitime» Kriterien. a) Mit der Bezeichnung «rechtlich legitime» Kriterien sind Kriterien gemeint, die vom Gesetzgeber aufgegriffen und in die entsprechenden Gesetze integriert worden sind, da diese eben gerade Einfluss auf das Strafmass haben sollen. Dazu gehören insbesondere Strafmilderungsgründe i. S. v. Art. 48 StGB, wie z. B. Reue oder Affekt, aber auch Schuldvermin­ derungs- bzw. Schuldausschliessungsgründe i. S. v. Art. 19 StGB, wozu bspw. psychische Krankheiten (Schizophrenie, Geistesschwäche etc.), Drogen und Alkohol zählen. b) Bei den «rechtlich nicht legitimen» Kriterien hingegen handelt es sich um Kriterien, die vom Gesetzgeber nicht vorgesehen sind und die mithin die rechtliche Entscheidung nicht beeinflussen sollten. Dazu zählen u. a. Kriterien wie das Geschlecht, die Nationalität oder das Wohlbefinden des urteilenden Staatsanwaltes, um nur einige zu nennen. Fliessen solche «rechtlich nicht legitimen» Kriterien in die Strafmassentscheidung ein, so tangiert dies häufig auch expliziterweise die Grundrechte der betroffenen Person (Diskriminierungsverbot, rechtliches Gehör etc.). Die obige Selbsteinschätzung der Staatsanwälte (vgl. Abb. 1) zeigt, dass die «rechtlich ­legitimen» Einflusskriterien, die staatsanwalt­

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Staatsanwälte (Selbsteinschätzung) Härtere 5 Strafe

4,51 4,24 4 3,68 3,67 3,41 3 2,63

2,55

2,35 2,34 2,31 2,29 2,25

2

2,2 1,93 1,84 1,74

1,66

1,56

Mildere Strafe

Vo rs tra fe Tä vo Au ter rh ze slä an i g de nd tk n isc ei ne he rS Re Ei ta ue G ge ne esch atsb sW ür le ch g oh t m er Sc lb ä e hw nn fin ac lic de he h n sc ss h oz Sc l e ia ch hw le Tä ei sU t te z e rs m rS fe el ld bs Ge taa t tO sc sb hl pf ü rg ec er e ht v. we r M iss St ib ar lic ke han h dl ss un oz g ia en le sU Ei ge m fe ne sW Ze ld Al i o t ko dr hl ho be uc k l-/ fin Dr de og n gu en t pr o Af bl f e e m Ps kt e ha yc hi nd sc l u he ng Kr Ke an Tä in eV kh te rz ei or t ei st g ra t fe Re n Ge ue vo ist rh ig a eB n eh den in de ru ng

1

Abb. 2: Einflussfaktoren und Strafmass: Der Einfluss verschiedener Faktoren auf das Strafmass (1 = milde Strafe, 5 = härtere Strafe) (179 Staatsanwälte, Mittelwert).

liche Entscheidungen beeinflussen dürfen und z. T. sollen, dies auch tatsächlich tun. Es wird ersichtlich, dass Staatsanwälte häufiger diese sogenannten rechtlich legitimen Einflussfaktoren nennen. 56% bis 93% der befragten Staatsanwälte nennen diese Einflussfaktoren. Die «rechtlich nicht legitimen Einflussfaktoren» werden von 15% bis 48% der befragten Staatsanwälte genannt. Hier werden beispielsweise die Einflussfaktoren «Zeitdruck» (48%) und «ausländischer Staatsbürger» (29%) genannt. Diese Ergebnisse könnten im ersten Schritt darauf deuten, dass Staatsanwälte in unterschiedlichem Masse rechtlich und nicht rechtlich legitime Einflussfaktoren wahrnehmen, ihnen ausgesetzt sind und über diese offen berichten. Darauf wird später zurückzukommen sein. Des Weiteren wurden die Staatsanwälte gefragt, in welche Richtung die genannten Aspekte sie beeinflussen würden bzw. ob sie «mildere» oder «härtere» Strafen zur Folge haben können (1 = mildere Strafe, 5 = härtere

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Strafe). Härtere Bestrafung wird durch die folgenden Einflüsse bewirkt: «Vorstrafe» (4,51), «Täter zeigt keine Reue» (4,24), «ausländische Staatsbürger» (3,68) «männliches Geschlecht» (3,67) und «schlechtes eigenes Wohlbefinden» (3,41). Dagegen gibt es auch eine Reihe von Faktoren, die eher Milde bewirken können, wie «psychische Krankheit» (1,84) oder «geistige Behinderung» (1,56) (vgl. Abb. 2). Auch diese Ergebnisse lassen sich in sogenannte rechtlich legitime und rechtlich nicht legitime Einflussfaktoren unterteilen. Während «Vorstrafe» und «Täter zeigt keine Reue» rechtlich legitime Einflussfaktoren sind, die zu härteren Strafen führen sollen, gilt dies nicht für die rechtlich nicht legitimen Einflussfaktoren wie «ausländischer Staatsbürger», «Geschlecht männlich» oder «eigenes Wohlbefinden schlecht». Doch es zeigt sich, dass die letzten drei rechtlich nicht legitimen Einflussfaktoren nach Einschätzung der ­befragten Staatsanwälte zu härteren Strafen führen (Skala 1 = milde Strafe, 5 = härtere

R. Ludewig et al. Einflussfaktoren bei Entscheidungen von Staatsanwälten

Rechtlich legitime Aspekte 100%

93,3%

92,7%

75,4%

73,2%

71,5%

70% 60%

Rechtlich nicht legitime Aspekte 87,7%

90% 80%

56,4%

Forschung/recherche

55,9%

54,2%

50% 40%

37,4%

30%

26,8%

29,6% 27,6%

17,9%

20%

30,2%

15,6%

10% 0% Vorstrafen vorhanden

Keine Vorstrafen vorhanden

Täter zeigt Reue

Täter zeigt keine Reue

Staatsanwälte (Selbsteinschätzung)

Geschlecht männlich

Geschlecht weiblich

Schweizer Staatsbürger

Ausländischer Staatsbürger

Berufskollegen (Fremdeinschätzung)

Abb. 3: Beeinflussbarkeit durch «rechtlich legitime» und «rechtlich nicht legitime» Aspekte (179 Staatsanwälte). Vergleich der Selbsteinschätzung (Staatsanwälte) und Fremdeinschätzung (Berufskollegen).

Strafe) (Mittelwerte: «ausländischer Staatsbürger» 3,68, «Geschlecht männlich» 3,67, «eigenes Wohlbefinden schlecht» 3,41). Die Einflussfaktoren «geistige Behinderung» oder «Affekthandlung» gehören zu den legitimen Einflussfaktoren, die Milde bewirken sollen und es nach Einschätzung der Befragten auch tun (Mittelwerte: «Geistige Behinderung» 1,56, «Affekthandlung» 1,93).

5.2

Fremdeinschätzung: «Rechtlich nicht ­legitime» Kriterien beeinflussen vor ­allem Berufskollegen

Bei der Einschätzung ihrer Berufskollegen beurteilen die befragten Staatsanwälte die Rolle der Einflussfaktoren anders als bei sich selbst. Bei knapp der Hälfte aller Kriterien (z. B. Geschlecht, Nationalität, Druck der Öffentlichkeit etc.) schätzen die Befragten ihre Berufskollegen als signifikant beeinflussbarer ein.6 Es handelt sich hierbei durchweg um Kriterien, die als «rechtlich nicht legitim» klassifiziert wurden und die demnach keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Staatsanwälte haben sollten/dürfen. Dagegen halten die Staatsanwälte bezüglich der anderen Hälfte der Kri­ terien – den «rechtlich legitimen» Einflussfaktoren, die von den Staatsanwälten selbst als legitim bewertet werden – sich selbst für beeinflussbarer (z. B. Vorstrafen, Reue des Täters,

psychische Krankheit etc.) (vgl. Abb. 3). Die Befragten tendieren somit signifikant häufiger dazu, sich selbst als eher angemessen, ihre Kollegen als eher unangemessen beeinflussbar zu beurteilen. Psychologisch lässt sich dieses Verhalten auf die Wirkung von «sozialer Erwünschtheit» und den Wunsch nach Selbstwert beziehen (Zimbardo & Gerrig, 2008). Bei Betrachtung der in diesem Vergleich gefundenen Werte zeigt sich, dass sie bei den «rechtlich legitimen» Faktoren höher ausfallen als bei den «rechtlich nicht legitimen» Faktoren.7 Die befragten Staatsanwälte sehen sowohl sich selbst, als auch ihre Berufskollegen, grundsätzlich häufiger durch rechtlich legitime Aspekte als durch rechtlich nicht legitime beeinflusst. Die Wahl der Richtung ist somit bei Fremd- und Selbsteinschätzung die gleiche, die Kollegen werden jedoch stets ungünstiger beurteilt.

6 Signifikanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung gemäss WilcoxonTest: Vorstrafen p = 0.000; Keine Vorstrafen p = 0.555; Täter zeigt Reue p = 0.000; Täter zeigt keine Reue p = 0.000; Geschlecht männlich p = 0.014; Geschlecht weiblich p = 0.029; Schweizer Staatsbürger p = 0.000; Ausländischer Staatsbürger p = 0.000. 7 Hier sind die Unterschiede zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung gemäss Wilcoxon-Test signifikant (p ≤ 0.05).

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Forschung/recherche

R. Ludewig et al. Einflussfaktoren bei Entscheidungen von Staatsanwälten

Fall Verkehrsdelikt ohne Moraldilemma Doris Eberle – 30-jährig – streifte mit ihrem Auto einen Velofahrer, als sie abends mit 90 km/h durch ein kleines Dorf jagte (erlaubt wären lediglich 50 km/h). Der Velofahrer kam dabei zu Fall und zog sich eine Oberschenkelfraktur zu, sodass er im Krankenhaus medizinisch versorgt werden musste. Die Autofahrerin bemerkte, dass sie den Velofahrer gestreift hatte, hielt aber nicht an. Am nächsten Tag wurde Frau Eberle identifiziert und der Staatsanwaltschaft zugeführt, woraufhin sie ihre Tat zugab.

Fall Verkehrsdelikt mit Moraldilemma (Die Mutter der Beschuldigten liegt im Sterben) Doris Eberle – 30 jährig – streifte mit ihrem Auto einen Velofahrer, als sie abends mit 90 km/h durch ein kleines Dorf jagte (erlaubt wären lediglich 50 km/h). Der Velofahrer kam dabei zu Fall und zog sich eine Oberschenkelfraktur zu, sodass er im Krankenhaus medizinisch versorgt werden musste. Die Autofahrerin fuhr gedankenverloren weiter und hielt nicht an. Bei ihrer Festnahme durch die Polizei gab Frau Eberle zu Protokoll, dass ihre herzkranke Mutter sie kurz zuvor angerufen habe und ihr mitgeteilt habe, dass es ihr nicht gut ginge und sie ihre Hilfe bräuchte. Daraufhin sei sie auf der Stelle losgefahren und habe die Tachoanzeige völlig vergessen. Den Velofahrer habe sie dabei nicht bemerkt, sagte sie und betonte, dass sie ihn aber hätte bemerken sollen. Sie brachte ihre Mutter ins Spital. Diese verstarb am nächsten Morgen. Die Beerdigung findet in zwei Tagen statt.

6.

Experiment

Im vorangehenden Abschnitt wurden mögliche Einflussgrössen durch Befragung auf der Meta-Ebene überprüft: die Staatsanwälte wurden gebeten, ihr eigenes Verhalten einzuschätzen. Diese Einschätzungen sollten nun anhand der experimentellen Ergebnisse überprüft werden. Hierzu wurden die Angaben zu den drei Fallbeispielen ohne und zu den dreien mit Moraldilemmata variiert. Sie unterschieden sich durch die Kriterien Deliktschwere, Geschlecht, Vorstrafen und Nationalität des Beschuldigten. Eine Abweichung zwischen der Selbsteinschätzung und diesen Ergebnissen aus dem experimentellen Teil würde darauf deuten, dass die Selbsteinschätzung entsprechend zu relativieren wäre. Im Folgenden werden die Ergebnisse des Experiments bezüglich Moraldilemmata (6,1) und dann bezüglich der Faktoren Deliktschwere, Geschlecht, Nationalität und Vorstrafe (6,2) untersucht.

6.1

Milde durch Moraldilemmata: Einzelfallorientiertheit vor Regelorientiertheit

Im Rahmen der Untersuchung sollte die Annahme überprüft werden, ob das Phänomen Moraldilemma einen Einfluss auf die Entscheidungen der befragten Staatsanwälte hat. Wäre dies so, könnte erwartet werden, dass Fälle, die

8 Dieser Unterschied ist statistisch signifikant: T-Test: t = 36.578 bzw. 35.614, df = 175 bzw. 169, p