Systemimmanente Gewalt in der Altenpflege - Ursachen und

... werden Fach- und Methodenkompetenz, Sozialkompetenz ... Auf der Grundlage konstruktivistischer Überlegungen .... 2.3 Lerntheoretische Überlegungen .
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Silke Wedemeyer

Systemimmanente Gewalt in der Altenpflege Ursachen und Präventionsmöglichkeiten

disserta Verlag

Wedemeyer, Silke: Systemimmanente Gewalt in der Altenpflege - Ursachen und Präventionsmöglichkeiten, Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-668-6 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-669-3 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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KURZFASSUNG Gewalt in der Pflege alter Menschen ist systemimmanent, da nicht nur personelle, sondern auch strukturelle und kulturelle Gewalt wirksam werden. Unter pflegepädagogischem Aspekt stellt sich die Frage, welche Kompetenzen innerhalb der fachtheoretischen Ausbildung gefördert werden können und müssen, um gewaltpräventiv zu wirken. Innerhalb der als Ausbildungsziel formulierten Handlungskompetenz werden Fach- und Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und Personalkompetenz unterschieden. Fehlende Fähigkeiten im Bereich der Personalkompetenz können an der Entstehung von personeller Gewalt beteiligt sein, als relevante Fähigkeiten wurden Reflexions- und Empathiefähigkeit sowie Kreativität identifiziert. Auf der Grundlage konstruktivistischer Überlegungen wurde ein Unterrichtsprojekt mit Altenpflegeschüler/innen im dritten Ausbildungsjahr durchgeführt, welches diese Fähigkeiten steigern sollte. Die Auszubildenden schätzten die eigenen Fähigkeiten vor und nach dem Unterrichtsprojekt anhand eines Fragebogens ein, der mit SPSS 20 ausgewertet wurde. Die Frage nach dem Einfluss des Unterrichtsprojekts auf die Personalkompetenz in der Selbsteinschätzung der Auszubildenden wurde mit dem Ziel formuliert, eine Aussage über den möglichen Erfolg von Maßnahmen zur Gewaltprävention in der theoretischen Ausbildung treffen zu können. Reflexions- und Empathiefähigkeit wurden durch das Unterrichtsprojekt gesteigert, nicht jedoch die Kreativität. Die hohen Werte in allen Subskalen lassen einen Overconfidence Effect in der Selbsteinschätzung der Auszubildenden vermuten. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Gewaltprävention und ethische Entscheidungsfindung in der Altenpflege, sowie für die theoretische und praktische Altenpflegeausbildung interpretiert.

Stichworte: Altenpflege – Gewalt – Ausbildung – Personalkompetenz – Evaluationsstudie

ABSTRACT Violence in caring for old people is system inherent because there is not only personal but also structural and cultural violence. Under the aspect of pedagogic nursing you must answer the question which competences in the training can and must be promoted to avoid all kind of violences. Within the aim of training there you can find acting competences which you can distinguish in personal, social, professional and methodological competences. Insufficant abilities in the field of personal competence can be the reason to produce personal violence, as important abilities are identified: reflexional empathical and creativity abilities. On the principle of constructivistically considerations there was carried out a project with geriatric nurses in their third training period. This should help to increase the abilities written above. The trainees estimated their own abilities before and after the project, they used a questionnaire which was evaluated with SPSS 20. The question after the project`s influence on personal competence was answered in a positive way that means that measures in the training to prevent violence will make sence. The ability of reflexion and empathy increased during the project but not the creativity. The high values in all subscales let suspect an Overconfidence Effect in the self-evaluation of the trainees. The results are interpretated concerning the significance of the prevention of violence and of ethical decision-making in the geriatric care as for the theoretical and practical geriatric care training.

Keywords: Keywords: geriatric care – violence – training – personal competence – study of evaluation

INHALTSVERZEICHNIS Kurzfassung ............................................................................................................ 7 Abstract ................................................................................................................... 8 Einleitung ............................................................................................................... 13 Teil I Entwicklung des Unterrichtsprojekts und der Evaluationsstudie ......... 17 1 Forschungsergebnisse zur Gewalt gegen alte Menschen in der Pflege ..... 17 1.1 Definition von Gewalt gegen alte Menschen ....................................... 20 1.2 Ursachen von Gewalt in der Pflege alter Menschen ........................... 21 1.3 Formen von Gewalt in der Pflege alter Menschen .............................. 23 1.4 Prävention von Gewalt in der Pflege alter Menschen ......................... 28 2. Gewaltprävention in der Pflege alter Menschen als Thema in der Ausbildung von Altenpfleger/innen .............................................................. 31 2.1 Gesetzliche Rahmenbedingungen der Altenpflege-Ausbildung .......... 35 2.2 Curriculare Rahmenbedingungen........................................................ 36 2.3 Lerntheoretische Überlegungen .......................................................... 39 2.4 Didaktisch-Methodische Überlegungen zum Unterrichtsprojekt ......... 42 3 Ethische Entscheidungsfindung in der Altenpflege ..................................... 45 3.1 Prinzipienethik...................................................................................... 46 3.2 Ethik in der Pflege ................................................................................ 50 3.3 Berufskodizes ...................................................................................... 53 3.4 Reflexionsmodell.................................................................................. 56 4 Entwicklung der Forschungsfrage und des Studiendesigns........................ 59 4.1 Zugrundeliegende Hypothese ............................................................. 59 4.2 Forschungsfrage .................................................................................. 59 4.3 Studiendesign ...................................................................................... 60 4.4 Forschungsethische Überlegungen ..................................................... 62 Teil II Durchführung des Unterrichtsprojekts und der Evaluationsstudie ..... 65 1 Darstellung des Unterrichtsprojekts ............................................................. 65 1.1 Teilnehmende Auszubildende ............................................................. 66 1.2 Verteilung der Unterrichtsinhalte ......................................................... 67 1.3 Zeitplanung des Unterrichtsprojekts .................................................... 68 1.4 Durchführung des Unterrichtsprojekts ................................................. 69

2 Datenerhebung ............................................................................................ 70 2.1 Der Fragebogen als Erhebungsmethode ............................................ 71 2.2 Situation der Datenerhebung ............................................................... 73 2.3 Zeitstruktur der Datenerhebung ........................................................... 74 3 Datenauswertung ......................................................................................... 76 3.1 Auswertungsmethode .......................................................................... 76 3.2 Regeln der Auswertung ....................................................................... 77 Teil III Darstellung der Forschungsergebnisse ................................................. 79 1 Personalkompetenz in der Selbsteinschätzung durch die Auszubildenden in der ersten Befragung ............................................................................... 79 1.1 Reflexionsfähigkeit ............................................................................... 79 1.2 Kreativität ............................................................................................. 81 1.3 Empathiefähigkeit ................................................................................ 82 1.4 Soziale Erwünschtheit und Lernziele................................................... 84 2. Personalkompetenz in der Selbsteinschätzung durch die Auszubildenden in der zweiten Befragung ............................................................................. 88 2.1 Reflexionsfähigkeit ............................................................................... 88 2.2 Kreativität ............................................................................................. 90 2.3 Empathiefähigkeit ................................................................................ 91 2.4 Soziale Erwünschtheit und Lernziele................................................... 92 3 Unterschiede in den Ergebnissen der ersten und zweiten Befragung ........ 97 Teil IV Interpretation und Fazit ............................................................................ 99 1 Interpretation der Forschungsergebnisse .................................................... 99 1.1 Reflexionsfähigkeit ............................................................................... 99 1.2 Kreativität ........................................................................................... 100 1.3 Empathiefähigkeit .............................................................................. 101 1.4 Soziale Erwünschtheit und Lernziele................................................. 101 2 Potenzielle Bedeutung der Forschungsergebnisse ................................... 103 2.1 Gewaltprävention ............................................................................... 105 2.2 Ethische Entscheidungsfindung ........................................................ 108 2.3 Theoretischer Teil der Altenpflege-Ausbildung.................................. 110 2.4 Praktischer Teil der Altenpflege-Ausbildung...................................... 112

3 Kritische Reflexion der eingesetzten Methoden ........................................ 115 3.1 Planung und Vorbereitung ................................................................. 116 3.2 Durchführung des Unterrichtsprojekts ............................................... 117 3.3 Evaluationsstudie ............................................................................... 118 3.4 Interpretation ...................................................................................... 119 4 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................... 123 Literaturverzeichnis ............................................................................................ 129 Tabellenverzeichnis............................................................................................ 136 Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... 137 Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................... 138 Anhang ................................................................................................................. 139 Anhang I – Lernsituation ................................................................................. 139 Anhang I – Unterrichtsplanung........................................................................ 147 Anhang I - Links zum Thema „Gewalt in der Altenpflege“ .............................. 152 Anhang II – Fragebogen für Auszubildende ................................................... 154 Anhang II - Fragebogen für Dozentin .............................................................. 158 Anhang III - Statistische Ergebnisse (SPSS-Ausgabedatei)........................... 162

EINLEITUNG „Ein Pfleger schüttet die passierte Kost für eine Bewohnerin, die aufgrund von neurologisch bedingten Schluckstörungen nur sehr langsam essen kann, in einen Schnabelbecher, hält dieser die Nase zu, drückt ihren Kopf in den Nacken und schüttet die Nahrung auf einmal in den Mund. Der Pfleger sagte mir, dass ich das auch so machen müsse. Ich bin weinend davon gelaufen.“1 Das Verhalten des Pflegers wird im weiteren Text mit Zeitmangel begründet, da die Pflegekräfte unter Druck gesetzt werden, die zu Pflegenden möglichst schnell „abzufüttern“. 2

Dieser kurze Bericht eines Auszubildenden beschreibt eindrucksvoll die Komplexität des Gewaltphänomens in der Altenpflege. Zeitmangel, fehlende Handlungskompetenzen der Pflegekräfte, die Interaktion der an der Situation Beteiligten sowie der soziale Kontext bieten mehrere Perspektiven zur Untersuchung. Unter pflegepädagogischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage, welche Kompetenzen in der Altenpflege-Ausbildung zur Gewaltprävention vermittelt werden müssen und welche didaktischen Methoden dafür geeignet sind.

Die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften in Deutschland sind geprägt von den Folgen des Fachkräftemangels. Dies bekommen auch die Auszubildenden in ihren praktischen Einsätzen zu spüren. Im Zeitraum der Erstellung der vorliegenden Studie waren permanent ungefähr 200 Stellen für Fachkräfte in der Altenpflege allein in der Region Braunschweig unbesetzt.3 Fachkräftemangel im eigenen Team hat für die vorhandenen Pflegekräfte Überstunden zur Folge. Fehlende Pausen zur Erholung über einen längeren Zeitraum hinweg ziehen unweigerlich Überlastungsreaktionen der einzelnen Pflegekräfte nach sich. Eine geringe Verlässlichkeit bezüglich der Dienstplanung verunsichert zusätzlich. Folgen sind typische Stressreaktionen, z. B. Rückenleiden oder psychosomati1

Aus kritischen Ereignissen lernen (2012)

2

Vgl. ebd.

3

Arbeitsagentur (2013)

13

sche Erkrankungen wie Depressionen bis zum Burn-Out. Die daraus entstehende, hohe Fluktuationsrate innerhalb der Institutionen der stationären und ambulanten Pflege sowie eine kurze Verweildauer in diesem Beruf insgesamt verschärfen die Situation weiter. Entsprechende Belastungen werden von den Auszubildenden immer wieder in den Reflexionen der Praxiseinsätze thematisiert. Auch bei engagierten Pflegekräften rückt die Wahrnehmung der Bedürfnisse von den zu pflegenden Menschen bei anhaltender Überforderung weit in den Hintergrund. Wo keine Zeit mehr ist zur Reflexion im vorgegebenen Arbeitstempo, dem die alten und pflegebedürftigen Menschen nicht gewachsen sind, entstehen Vernachlässigung und Misshandlung in vielen, kleinen Handlungen, wie eingangs in dem Bericht eines Auszubildenden beschrieben. Die daraus entstehende Gewaltproblematik wird in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert.

Für die Auszubildenden in der Altenpflege hat die beschriebene Situation in der praktischen Ausbildung Auswirkungen in zwei Richtungen. Zum einen wird unter Annahme, das Lernen am Modell stattfindet, ein ethisch nicht vertretbares Modell vorgelebt und von den Auszubildenden die Nachahmung verlangt, was sowohl der Rechtfertigung des Vorgehens als auch der Wirtschaftlichkeit dienen soll. Zum anderen steht, ebenfalls aufgrund der beschriebenen Situation, für die Auszubildenden zu wenig Zeit und Personal zur Verfügung, um eine fundierte Ausbildung zu ermöglichen, die sich an den Bedürfnissen der zu pflegenden Menschen und einer ethischen reflektierten Grundhaltung orientiert. Die Auszubildenden in der Altenpflege, die die Verfasserin in verschiedenen Lernfeldern unterrichtete, empfinden bei der Beobachtung von gewalttätigen Handlungen durch Pflegekräfte an zu pflegenden Menschen vor allem eine große Hilflosigkeit. Die Wahrnehmung von grenzwertigen oder gewalttätigem Verhalten bei sich selbst führt zu tiefer Verunsicherung und Abwehrreaktionen, die die offene und hilfreiche Reflexion des Geschehenen verhindern können. Das Unterrichtsprojekt ist auch aus dem Wunsch der Auszubildenden nach Enttabuisierung und Prävention der alltäglichen Gewalt in der Pflege alter Menschen sowie der Entwicklung eigener Handlungsstrategien im Umgang damit entstanden.

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Entsprechend der Entwicklung der Bevölkerungszahlen, die in allen europäischen Ländern, aber auch in Nationen wie Indien oder Japan tiefgreifende demographische Veränderungen mit sich bringt, gewinnt dieses Thema weltweit zunehmend an Relevanz.4

Die vorliegende Studie stellt ein Unterrichtsprojekt zum Thema „Gewaltprävention in der Altenpflege“ und dessen Evaluation vor. Das Projekt wurde an der Berufsfachschule für Altenpflege der Oskar Kämmer Schule in Braunschweig/ Niedersachsen durchgeführt, an der die Verfasserin in dieser Zeit unterrichtete. Teilnehmende waren insgesamt 35 Auszubildende im dritten Ausbildungsjahr.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, auf Basis der aktuellen Forschungsergebnisse, das durchgeführte Unterrichtsprojekt dahingehend zu untersuchen, welchen Einfluss es auf die Personalkompetenz der Auszubildenden hat hinsichtlich der Fähigkeiten, die als relevant zur Gewaltprävention in der Altenpflege angesehen werden. Fach-/Methodenkompetenz und soziale Kompetenz als weitere Bestandteile der Handlungskompetenz werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt. Ebenfalls wurde auf die Darstellung des Kontexts von Zivil-, Straf- und Arbeitsrecht verzichtet.

In Teil I wird das Thema „Gewaltprävention in der Altenpflege“ als Thema in der Ausbildung von Altenpfleger/innen in seinem theoretischen und ethischen Bezugsrahmen vorgestellt. Anhand der Ergebnisse aus der Literaturübersicht wird begründet, welche Kompetenzen der Auszubildenden für die Gewaltprävention in der Altenpflege gefördert werden müssen und wie diese für eine Evaluierung des Unterrichtsprojekts operationalisiert werden. Weiterhin wird die Auswahl der Unterrichtsform lerntheoretisch begründet, sowie die Entwicklung der Hypothese und der Forschungsfrage dargestellt. Der Einfluss der Personalkompetenz auf die ethische Entscheidungsfindung in der Pflege wird an Praxisbeispielen erläutert. Die Vorstellung des Unterrichtsprojekts, der Datenerhebung und auswertung sowie des Zeitplans folgen in Teil II. In Teil III werden die Ergebnisse 4

Vgl. WHO (2011)., S. 5-12

15

der Selbsteinschätzung der Auszubildenden dargestellt, in Teil IV erfolgt die Interpretation der Ergebnisse in Bezug auf die Forschungsfrage und ihrer möglichen Bedeutung für die theoretische und praktische Ausbildung in der Altenpflege hinsichtlich der Gewaltprävention. Im Anschluss daran werden die eingesetzten Methoden kritisch reflektiert.

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TEIL I ENTWICKLUNG DES UNTERRICHTSPROJEKTS UND DER EVALUATIONSSTUDIE 1

Forschungsergebnisse zur Gewalt gegen alte Menschen in der Pflege

Gewalt ist in allen Kulturen ein Kennzeichen menschlicher Interaktion. Im westlichen Kulturkreis besteht jedoch eine moralische Übereinstimmung in der Ablehnung von Gewalt gegenüber hilflosen Personen, wie sie ein großer Prozentsatz der zu Pflegenden in der ambulanten und stationären Altenpflege in Deutschland darstellt. Nationale und internationale Organisationen arbeiten daher seit Jahrzehnten an der Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema Gewalt gegenüber alten bzw. pflegebedürftigen Menschen. Daran sind die EU und WHO ebenso beteiligt wie z. B. „The International Network for the Prevention of Elder Abuse Inc.“ (INPEA).

Von wissenschaftlicher Seite wird gefordert, die Sicht der alten Menschen in künftigen Studien mehr zu berücksichtigen bzw. zu untersuchen.5 Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Krisen-, Beratungs- und Beschwerdestellen für alte Menschen in Deutschland (BAG) berücksichtigt in ihren Forderungen zur Prävention von Gewalt die in gewalttätige Handlungen verstrickten Menschen auf Seiten der Pflegekräfte und der zu Pflegenden.6

Auf der Grundlage der Forderung der BAG nach regelhaftem Deeskalationstraining für alle Mitarbeiter in der ambulanten und stationären Altenpflege7 fand die weitere Literaturrecherche statt. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) bot mit seinem Schwerpunktthema zur Gewalt in ambulanten und stationären

5

Vgl. Erlingsson, C. L., Saveman, B.-I. und Berg, A. C. 2005, S. 214f

6

Vgl. BAG 2011

7

Vgl. ebd.

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Versorgungsbereichen einen ersten Anhaltspunkt.8 Als nächster Schritt erfolgte eine kritische Auseinandersetzung mit den im Literaturverzeichnis des o. g. Beitrags enthaltenen Studien. Als weiterführende Literatur wurden folgende, publizierten Studien der WHO genutzt: - Toronto Declaration on the Global Prevention of elder abuse (2002)9 - European report on preventing elder maltreatment (2011).10 Anhand der darin enthaltenen Quellen erfolgte die weitere Recherche mit der Berrypicking-Technik. Zusätzlich erfolgte eine Recherche bei Pubmed mit den Schlagwörtern ("elder abuse" [MeSH Terms] OR ("elder"[All Fields] AND "abuse"[All Fields]) OR "elder abuse"[All Fields]) AND ("nursing homes"[MeSH Terms] OR ("nursing"[All Fields] AND "homes"[All Fields]) OR "nursing homes"[All Fields]) NOT neglect[All Fields] AND "loattrfree full text"[sb]. Aufgrund der kulturellen und daraus folgenden moralisch-ethischen Differenzen und der sich daraus ergebenden, mangelnden Übertragbarkeit der Ergebnisse wurden bei der weiteren Auseinandersetzung mit der gefundenen Literatur keine Studien aus dem außereuropäischen Raum berücksichtigt.

Frau Prof. Hildegard Graß vom rechtsmedizinischen Institut der Universität Düsseldorf, die das Unterrichtsprojekt in der Planungsphase begleitete, stellte ihre eigene Literaturliste zum Thema „Gewalt in der Pflege“ zur Verfügung. Die Inititative „HSM – Handeln statt Misshandeln e. V.“ Bonn bietet eine eigene Schriftenreihe wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema, die ebenfalls genutzt wurde.11

Außerdem erfolgte eine Recherche in der „Gesundheitsberichterstattung der Bundesregierung“ von 2010, die Zugang zu regionalen, nationalen und internationalen Daten bietet, unter dem Stichwort „Gesundheitsverhalten und -

8

Sowinski, C./Michell-Auli, P., 2012, S. 22 9

WHO, 2002

10

WHO Europe, 2011

11

HSM Bonn, 2009

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gefährdungen“12, sowie im internationalen Online-Register von Springer-Medizin mit den Schlagworten „Gewalt“, „alte Menschen“ und „Pflege“.13 Weitere Quellen ergaben sich jeweils bei der Durchsicht der gefundenen Literatur.

Die WHO geht von einer Fallzahl von ca. vier Millionen älterer Menschen aus, die jährlich in Europa von Gewalt betroffen sind, ca. 2500 Menschen sterben an den Folgen.14 Eine Untersuchung in Deutschland ergab, dass 6,9 % der Frauen über 60 Jahre und 6,2 % der Männer der gleichen Altersstufe Opfer von Gewalt wurden. Diese Zahlen beziehen sich auf allgemeine Gewalt, aus der gleichen Untersuchung stammen jedoch Zahlen, die die Situation in der Pflege verdeutlichen: 53,2 % der pflegenden Angehörigen äußerten, innerhalb eines Jahres gewalttätig gegen die zu pflegenden Angehörigen geworden zu sein, 19,4 % gaben physische, 47,6 % psychische Misshandlung an. 72 % der Pflegekräfte in der stationären Altenpflege äußerten, physische oder psychische Gewalt gegen zu Pflegende ausgeübt zu haben.15 In der ambulanten Altenpflege haben die Pflegekräfte neben der Pflege alter Menschen auch den Auftrag, deren Angehörige zu betreuen und zu beraten. In der stationären Altenpflege sind die Pflegekräfte oft die einzigen Bezugspartner für die zu Pflegenden. Qualität und Erfolg der Pflegemaßnahmen sind dabei in großem Maße abhängig von gelungener Kommunikation, Vertrauen und Beziehung. Gewalttätiges Handeln gehört nicht in das Repertoire professionellen Handelns von Pflegekräften und geschieht dennoch überall in der Pflege, im institutionellen wie im häuslichen Umfeld. Da Gewalt nicht per se existiert, sondern im Kontext sozialer Beziehungen geschieht, soll nachfolgend untersucht

werden, wie sich der Gewaltbegriff im

Kontext der Pflege alter Menschen in der aktuellen Literatur darstellt.

12

Statistisches Bundesamt (2010)

13

www.springer-medizin.de (Registrierung erforderlich)

14

Vgl. WHO (2011), VII

15

BMFSFJ (Hrsg.) (2012)

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