GED Study
Abkehr vom Schengen-Abkommen Gesamtwirtschaftliche Wirkungen auf Deutschland und die Länder der Europäischen Union
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Abkehr vom Schengen-Abkommen Gesamtwirtschaftliche Wirkungen auf Deutschland und die Länder der Europäischen Union
Autoren Dr. Michael Böhmer, Jan Limbers, Ante Pivac, Heidrun Weinelt
Inhalt
1 Hintergrund
6
2
7
Methodisches Vorgehen
3 Ergebnisse
4 Weiterführende Kosten einer Abkehr vom Schengen-Abkommen
9
13
Weitere ökonomische Auswirkungen
13
Politische Auswirkungen
14
Gesellschaftliche Bedeutung
14
5 Fazit
16
Literatur 17
Impressum 18
5
1 Hintergrund
Das Abkommen von Schengen trat 1995 in Kraft und
Die vorliegende Kurzstudie untersucht, welche volkswirt-
umfasst heute 26 Staaten. Dazu zählen alle EU-Mitglieder
schaftlichen Wirkungen eine dauerhafte Abkehr vom
mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs, Irland, Rumä-
Schengen-Abkommen – also eine dauerhafte Wiederein-
nien, Bulgarien, Zypern und Kroatien sowie die Nicht-EU-
führung von Personenkontrollen an EU-Binnengrenzen –
Länder Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz.
für Deutschland und andere EU-Länder sowie für die Euro-
Das Abkommen sieht die Aufhebung von Personenkont-
päische Union insgesamt hätte. Der Betrachtungshorizont
rollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums vor. Im
erstreckt sich bis zum Jahr 2025.
Schengen-Durchführungsabkommen ist zudem die Vereinheitlichung von Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen geregelt sowie die Ausstellung von Visa für den gesamten Schengen-Raum. Auch auf Maßnahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit sowie auf Asyl-Bestimmungen einigte man sich damals. Im Zuge der stark angestiegenen Flüchtlingsbewegungen nach Europa werden derzeit teilweise wieder Grenzkontrollen durchgeführt. Besonders der Bürgerkrieg in Syrien, aber auch die seit Jahren instabile politische Situation in Ländern wie Afghanistan oder Pakistan sowie die schwierige ökonomische und politische Lage vieler Menschen im westlichen Balkan tragen zu einem deutlichen Anstieg der Asylsuchenden in der Europäischen Union bei. Zu den bevorzugten Ländern des Schengen-Raums zählen dabei Österreich, Deutschland und Frankreich, aber auch Schweden und Dänemark. Während ein vorübergehendes, zeitlich klar befristetes Aussetzen des Schengen-Abkommens rechtlich möglich ist, wird von einigen Seiten diskutiert, wieder dauerhafte Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union einzuführen und damit das Schengen-Abkommen faktisch aufzukündigen. Da Deutschland aufgrund seiner geographischen Lage heute ausschließlich von Schengen-Staaten umgeben ist, ist es besonders vom Abkommen betroffen. Offene Binnengrenzen gelten als zentraler Aspekt eines intensiven grenzüberschreitenden Handels innerhalb der Europäischen Union.
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2 Methodisches Vorgehen
Im Falle einer dauerhaften Wiedereinführung von Perso-
und Tarr (1994) quantifizieren die Kosten von Grenzkon-
nenkontrollen an den EU-Binnengrenzen werden die Rei-
trollen mit einem Aufschlag von 1,7 Prozent. Flam (1995)
sedokumente und gegebenenfalls auch die Fahrzeuge von
modelliert die Transaktionskosten durch Grenzkontrollen
Personen überprüft, die die Grenze überschreiten wollen.
in Form eines Zolläquivalents von 1,4 Prozent. Von Grenz-
Dies wird voraussichtlich zu längeren Wartezeiten für Lkw-
kontrollen ist besonders der auf der Straße transportierte
Fahrer, Berufspendler und Touristen führen. Zur Abschät-
Warenverkehr betroffen.
zung der zu erwartenden Kostensteigerungen konzentrieren wir uns auf den Kanal der Grenzkontrollen im Warenver-
Der Literaturüberblick zeigt, dass die Höhe der entstehen-
kehr. Dabei nehmen wir an, dass Kontrollen an sämtlichen
den Transaktionskosten, die aus einer Abkehr vom Schen-
EU-Binnengrenzen stattfinden, dass andere Regelungen
gen-Abkommen resultieren, nur schwer genau zu quanti-
des Europäischen Binnenmarkts wie die Zollfreiheit davon
fizieren ist. Zahlreiche aus heutiger Sicht unbekannte Fak-
jedoch unberührt bleiben.
toren wie beispielsweise die Effizienz und Häufigkeit der Grenzkontrollen oder die Anpassungsfähigkeit der Logistik-
Betriebswirtschaftlich betrachtet müssen Unternehmen
Unternehmen spielen dabei eine Rolle. Vor diesem Hinter-
dann zum Beispiel höhere Personalkosten einkalkulieren
grund definieren wir zwei verschiedene Szenarien, um das
oder ihre Lagerbestände aufstocken, weil eine Just-in-
Spektrum der Auswirkungen einer Abkehr vom Schengen-
time-Lieferung nur noch bedingt möglich ist. Dadurch
Abkommen abzugrenzen. Die Erkenntnisse aus der Litera-
erhöhen sich die Transportkosten bei grenzüberschreiten-
tur zeigen, dass sich die tatsächlich zu erwartenden Kosten
dem Handel in der Europäischen Union.
mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in dieser Bandbreite befinden würden:
Die volkswirtschaftliche Modellierung setzt bei diesen erhöhten Kosten für Importe an. Diese basieren im Wesent-
• Szenario 1 (konservative Annahme): Grenzkontrollen
lichen auf dem zeitlichen Aufwand beim Grenzübergang,
im Schengen-Raum erhöhen die Importpreise im inner-
der in Relation zum Warenwert umgerechnet werden muss
europäischen Handel um ein Prozent.
und dadurch monetär erfasst werden kann. Wissenschaftliche Studien modellieren diese Form der Transaktions-
• Szenario 2 (pessimistische Annahme): Grenzkontrollen
kosten häufig mithilfe von Zolläquivalenten (Smith und
im Schengen-Raum erhöhen die Importpreise im inner-
Venables 1988; Harrison, Rutherford und Tarr 1994; Keusch-
europäischen Handel um drei Prozent.
nigg und Kohler 1996; Aussilloux und Le Hir 2016 u. a.). Zolläquivalente werden prozentual auf Importpreise auf-
Die damit verbundenen Steigerungen der Importpreise
geschlagen. Ältere Analysen der Binnenmarktintegration
werden in VIEW, dem globalen Prognose- und Simulations-
verwenden meist einen Aufschlag von 2,5 Prozent, wobei
modell der Prognos AG, implementiert und ihre gesamt-
darunter häufig auch Zollkontrollen, unterschiedliche Stan-
wirtschaftlichen Folgen simuliert. In diesem Modell können
dards oder zusätzlicher administrativer Aufwand durch
Interaktionen und Rückkopplungen zwischen einzelnen
Ursprungslanderklärungen gefasst werden.
Ländern erfasst werden, die gerade für die engen Handelsverflechtungen innerhalb Europas eine große Rolle spielen.
Aussilloux und Le Hir (2016) veranschlagen eine Steigerung des Warenwerts um drei Prozent, um längere Wartezeiten an den Grenzen allein zu simulieren. Harrison, Rutherford
7
Methodisches Vorgehen
Das VIEW – Modell Die mittel- bis langfristige gesamtwirtschaftliche Wirkungskette im Falle höherer Importpreise ist in VIEW folgendermaßen nachgezeichnet: Importpreise beeinflussen die Preisentwicklung in einer Volkswirtschaft. Steigen die Preise für Importe durch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, so steigt zunächst anteilig das allgemeine Preisniveau. Diese Preissteigerungen verringern das reale Einkommen der privaten Haushalte und Unternehmen, die dann weniger konsumieren und investieren. Als Reaktion auf diesen inflationären Schub nimmt die Lohndynamik zu, um den Preisanstieg auszugleichen. Temporär wird dadurch die Lohn-Preis-Spirale beschleunigt, weil höhere Löhne die Lohnstückkosten und damit erneut die Preise steigen lassen. An dieser Stelle der Wirkungskette kommt auch der Außenhandel ins Spiel, denn höhere Lohnstückkosten schwächen die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Unter der Verschlechterung des realen Wechselkurses leidet die Exportperformance dieser Länder. Als Anpassung an das steigende Preisniveau werden die (nominalen) Zinsen steigen. Damit erhöhen sich die Zinszahlungen.
Die Ergebnisse der beiden Szenarien „ohne Schengen“ werden dem Resultat unserer Basisprognose (Referenzszenario) gegenübergestellt. Wir betrachten bei den Berechnungen einen mittleren Zeithorizont bis 2025. Die Auswirkungen werden über den ganzen Betrachtungszeitraum analysiert, um die gesamten Kosten einer Abkehr vom SchengenAbkommen abzuschätzen.
8
3 Ergebnisse
ABBILDUNG 1 Kumulierte BIP-Abweichung vom Referenzszenario bis 2025 in ausgewählten Ländern, Angaben in Mrd. Euro
BIP-Abweichung in Mrd. Euro
0 –50 –100 –150 –200 –250 –300 Großbritannien
Österreich
Preisaufschlag in Höhe von drei Prozent
Spanien
Frankreich
Italien
Deutschland
Niederlande
Schweiz
China
USA
Preisaufschlag in Höhe von einem Prozent
Quelle: Prognos AG 2016
Nach der konservativen Annahme (Szenario 1) würde
Auch die Wirtschaftskraft anderer EU-Staaten wäre von
Deutschlands Wirtschaft bis 2025 durchschnittlich um
einer dauerhaften Wiedereinführung von Grenzkontrol-
0,03 Prozentpunkte pro Jahr weniger wachsen als gemäß
len negativ betroffen. Die in Tabelle 1 betrachteten west-
der Basisprognose, in der die offenen Grenzen bestehen
europäischen Länder würden bis 2025 in der konservati-
bleiben. Über den gesamten Betrachtungszeitraum von
ven Prognose zwischen 0,02 und 0,06 Prozentpunkten an
zehn Jahren (2016–2025) würde die Wiedereinführung von
BIP-Wachstum pro Jahr einbüßen (Szenario 1). In Szena-
Grenzkontrollen allein Deutschland rund 77 Mrd. Euro kos-
rio 2 lägen diese Werte zwischen 0,07 und 0,18 Prozent-
ten. Die volkswirtschaftlichen Effekte sind in Szenario 2
punkten. Abbildung 2 zeigt, dass Grenzkontrollen beson-
erwartungsgemäß höher. In diesem Fall würde die Abkehr
ders für die Volkswirtschaften in Österreich, Spanien und
vom Schengen-Abkommen das jährliche BIP-Wachstum in
Großbritannien relativ betrachtet spürbare Konsequenzen
Deutschland im Schnitt um 0,08 Prozentpunkte senken.
hätten. Trotz günstiger Konjunkturentwicklung wäre Großbritannien unseren Berechnungen zufolge von einer lang-
Bis 2025 würden sich diese jährlichen Wachstumseinbußen
fristigen Wiedereinführung von Personenkontrollen an den
auf 235 Mrd. Euro summieren (Abbildung 1). Dass Deutsch-
EU-Binnengrenzen in deutlich höherem Maße betroffen als
land aus derzeitiger Sicht nicht stärker betroffen wäre, ist
Deutschland.
auch dem Umstand zu verdanken, dass sich die Volkswirtschaft gegenwärtig in einer vergleichsweise robusten Lage
Wir erwarten, dass Grenzkontrollen das Vereinigte König-
befindet, in der Belastungen dieser Art besser kompensiert
reich bis 2025 zwischen 87 Mrd. Euro (Szenario 1) und 264
werden können als in anderen historischen Situationen.
Mrd. Euro (Szenario 2) kosten würden. Die absoluten volks-
9
Ergebnisse
ABBILDUNG 2 BIP-Abweichung vom Referenzszenario im Jahr 2025 in ausgewählten Ländern, Angaben in Prozent
BIP-Abweichung in Prozent
0,0
–0,5
–1,0
–1,5
–2,0 Großbritannien
Österreich
Preisaufschlag in Höhe von drei Prozent
Spanien
Frankreich
Italien
Deutschland
Niederlande
Schweiz
China
USA
Preisaufschlag in Höhe von einem Prozent
Quelle: Prognos AG 2016
wirtschaftlichen Kosten einer Abkehr vom Schengen-Ab-
Höhe von 0,03 bis 0,05 Prozentpunkten bis 2025 für diese
kommen für Frankreich wären vergleichbar mit denen
Länder im Vergleich zur Basisprognose nahe. Tritt Szenario
Deutschlands. Sie lägen kumuliert über den Betrachtungs-
2 ein, würde sich das jährliche BIP-Wachstum dieser Staa-
zeitraum 2016 bis 2025 zwischen 81 Mrd. Euro und 244 Mrd.
ten um 0,10 bis 0,14 Prozentpunkte verringern.
Euro. Besonders stark betroffen wäre Polen. Unter den betrachWie hoch die Auswirkungen in den verschiedenen Volks-
teten osteuropäischen Staaten wären die negativen Aus-
wirtschaften sind, hängt von einem komplexen Zusammen-
wirkungen von Grenzkontrollen innerhalb der EU in Polen
spiel länderspezifischer Charakteristika ab. Dazu gehören
nicht nur absolut, sondern relativ am höchsten (Abbil-
u. a. die konjunkturelle Ausgangslage und Mechanismen der
dung 3). Polen ist gemessen am Bruttoinlandsprodukt mit
Lohnanpassung, die sich beispielsweise je nach Struktur des
Abstand die größte Volkswirtschaft dieser Länderauswahl.
Arbeitsmarkts oder der Verhandlungsmacht der Gewerk-
Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen würde das Land
schaften unterscheiden.
schätzungsweise zwischen 18 Mrd. Euro (Szenario 1) und 54 Mrd. Euro kosten (Szenario 2).
Osteuropäische Volkswirtschaften wären von einer Abkehr vom Schengen-Abkommen ebenfalls spürbar betroffen. Das
Die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn zeich-
jährliche Wirtschaftswachstum in Polen, Slowenien, der
nen sich – auch im Vergleich zu Deutschland – durch hohe
Slowakei, Tschechien und Ungarn würde sinken. Die Ergeb-
Importquoten aus, d. h. sie importieren viele Güter und
nisse von Szenario 1 legen jährliche Wachstumseinbußen in
Dienstleistungen gemessen an ihrer Wertschöpfung.
10
Ergebnisse
ABBILDUNG 3 Kumulierte BIP-Abweichung vom Referenzszenario bis 2025 in ausgewählten Ländern, Angaben in Mrd. Euro
BIP-Abweichung in Mrd. Euro
0 –10 –20 –30 –40 –50 –60 Polen Preisaufschlag in Höhe von drei Prozent
Slowakei
Slowenien
Tschechien
Ungarn
Preisaufschlag in Höhe von einem Prozent
Quelle: Prognos AG 2016
Würden die Preise für importierte Waren im Zuge der
ausfallen als im Referenzszenario. Dieser Wert entspricht
Wiedereinführung von Grenzkontrollen steigen, wären in
nahezu der Wirtschaftsleistung Italiens im vergangenen
diesen Ländern die Auswirkungen auf die Preisentwicklung
Jahr (1,55 Billionen Euro).
besonders stark. Aufgrund enger Handelsverflechtungen wären von einer Ausgehend von den Berechnungen für einzelne Länder las-
Abkehr vom Schengen-Abkommen nicht allein die Mit-
sen sich die Effekte auf europäischer Ebene quantifizieren
gliedstaaten der Europäischen Union betroffen. Auch auf
(Tabelle 1). Wir erwarten bei Szenario 1 für die EU-241 jähr-
die beiden größten außereuropäischen Volkswirtschaften,
liche Wachstumseinbußen in Höhe von 0,04 Prozentpunk-
die USA und China, hätte eine Wiedereinführung von Per-
ten im Vergleich zur BIP-Entwicklung im Referenzszenario
sonenkontrollen an den EU-Binnengrenzen indirekte, aber
mit offenen Grenzen. Fasst man die Jahreswerte zusam-
spürbare Auswirkungen. Die Unterschiede in der BIP-Ent-
men, ergäben sich für die EU-24 kumuliert bis zum Jahr
wicklung zwischen den Szenarien „ohne Schengen“ und
2025 gesamtwirtschaftliche BIP-Einbußen in Höhe von
dem Referenzszenario fielen bei diesen Ländern jedoch
471 Mrd. Euro. Im pessimistischen Szenario 2 ergeben sich
niedriger aus als bei Staaten der Europäischen Union.
erwartungsgemäß stärkere Effekte. Über den Betrachtungszeitraum 2016 bis 2025 würde die Wirtschaftsleistung der
Das durchschnittliche Wachstum der US-amerikanischen
Europäischen Union um rund 1,43 Billionen Euro niedriger
Wirtschaft läge pro Jahr zwischen 0,01 (Szenario 1) und 0,03
1 Die EU-24 umfasst alle EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Luxemburg, Malta, Zypern und Kroatien.
(Szenario 2) Prozentpunkten unter dem prognostizierten BIP-Wachstum im Falle offener EU-Binnengrenzen. Für
11
Ergebnisse
Tabelle 1 BIP-Abweichungen Westeuropa, 2016–2025 Westeuropa
Szenario 1 Differenz Referenzszenario, in %-Punkten p. a.
Szenario 2 Kumulierter Effekt, in Mrd. Euro
Differenz Referenzszenario, in %-Punkten p. a.
Kumulierter Effekt, in Mrd. Euro
Deutschland
–0,03
–77,2
–0,08
–234,8
Frankreich
–0,04
–80,5
–0,13
–244,3
Großbritannien
–0,06
–87,2
–0,18
–264,3
Italien
–0,03
–48,9
–0,11
–148,5
Österreich
–0,05
–14,2
–0,14
1–43,2
Schweiz
–0,02
–9,4
–0,07
1–28,7
Spanien
–0,05
–46,2
–0,14
–140,8
EU-24
–0,04
–470,5
–0,12
–1430,1
Quelle: Prognos AG 2016
China ergäbe sich je nach Szenario eine Spanne zwischen 0,01 und 0,04 Prozentpunkten Unterschied. Die absoluten Wachstumseinbußen bei diesen großen Volkswirtschaften fielen dennoch hoch aus. Die Kosten, die sich aus nicht realisiertem Wirtschaftswachstum für die USA ergäben, lägen absolut betrachtet sogar höher als in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Über den gesamten Zeitraum von 2016 bis 2025 erwarten wir für die USA insgesamt Einbußen zwischen 91 Mrd. Euro und 276 Mrd. Euro. Für China ergäben sich Kosten zwischen 95 Mrd. Euro und 288 Mrd. Euro.
12
4 Weiterführende Kosten einer Abkehr vom Schengen-Abkommen
Eine Aufkündigung des Schengen-Abkommens hätte nicht
besonders stark betroffen. Bei Grenzgängern liegen Wohn-
nur ökonomische Kosten zur Folge, sondern auch weitge-
ort und Arbeitsplatz in unterschiedlichen Ländern. In der
hende gesellschaftliche und politische Konsequenzen. Auch
Regel erfolgt die An- und Abreise zur Arbeitsstätte am sel-
von den ökonomischen Kosten lässt sich nur ein Teil quan-
ben Tag. Durch die Grenzkontrollen würde sich die Pendel-
tifizieren.
zeit insbesondere in den gerade von Berufspendlern stark frequentierten Hauptverkehrszeiten spürbar verlängern. Eingeschränkte Arbeitsmobilität, eine stärkere Heterogeni-
Weitere ökonomische Auswirkungen
tät der regionalen Arbeitsmärkte und eine ungleichere Entwicklung der Immobilienpreise könnten die Folge sein. Die
Bei den ökonomischen Kosten zeigt der Importpreis durch
Grenzkontrollen würden die bereits existierenden Schwie-
die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen nur
rigkeiten (soziale Sicherungssysteme, direkte Besteuerung,
einen – wenn auch gewichtigen – Teil der Auswirkungen
Sozialleistungen etc.), die mit einer Tätigkeit im EU-Aus-
auf. Durch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen
land verbunden sind, weiter verstärken. Aktuelle statisti-
wären Just-in-time-Lieferungen und dezentrale Produk-
sche Erhebungen über die Zahl der Grenzgänger, die alle
tionsprozesse – durch passgenaue Zulieferung von Vor-
Staaten des Schengen-Raums einschließen, gibt es derzeit
leistungen entfallen hierbei weitestgehend Lagerkapazitä-
nicht. Potenzielle Auswirkungen auf die Höhe und Struktur
ten – über europäische Binnengrenzen hinweg schwieriger
der Pendlerbewegungen, die sich durch die Einführung von
zu bewerkstelligen. Moderne Wertschöpfungsketten, bei
Personenkontrollen ergeben könnten, lassen sich nur
denen die Vorleistungen aus verschiedenen europäischen
schwer schätzen bzw. ableiten.
Ländern stammen, wären mit höheren Kosten verbunden. Dies hätte Einfluss auf die Struktur und das Niveau der
Die Aufhebung der Binnengrenzkontrollen ist die bekann-
Wertschöpfungsketten, von ausländischen Direktinvestiti-
teste und wahrnehmbarste Säule des Abkommens von
onen, Standortentscheidungen von Unternehmen sowie auf
Schengen. Gleichwohl ist für Unternehmen des Beherber-
die preislichen Wettbewerbsfähigkeiten. Diese Auswirkun-
gungsgewerbes ein anderer Faktor oft bedeutender: das
gen lassen sich nur bedingt beziffern.
Schengen-Visum. Es umfasst eine einheitliche VisumErteilung und eine gegenseitige Anerkennung innerhalb der
Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen hätte auch Fol-
Schengen-Staaten. Bürger aus Drittstaaten, die zur Ein-
gen für den Tourismus. Bei EU-Staatsbürgern dürfte der
reise in den Schengen-Raum ein Visum benötigen, können
sich durch effektive Grenzkontrollen ergebende Zeitver-
mit einem Schengen-Visum eines Landes auch alle ande-
lust zumindest bei Kurzreisen und Tagestouristen zu einem
ren Schengen-Länder innerhalb einer bestimmten Zeit-
Rückgang führen. Die dadurch entfallene Wertschöpfung
spanne besuchen. Werden diese Regelungen im Zuge einer
würde insbesondere bei grenznahen Destinationen zu ver-
Abkehr vom Schengen-Abkommen aufgehoben, müssen
mutlich spürbar rückläufigen Besucherzahlen führen. Durch
Visa-Anträge erneut separat auf nationaler Ebene bearbei-
die Definition geeigneter Annahmen lassen sich diese Aus-
tet werden. Der Verwaltungsaufwand würde dadurch erheb-
wirkungen quantitativ abschätzen.
lich zunehmen, obwohl zugleich die Zahl der ausländischen Besucher voraussichtlich zurückgehen würde. Das Ausmaß
Des Weiteren wären interstaatliche Berufspendler (Grenz-
des Rückgangs und die ökonomischen Auswirkungen lassen
gänger) von einer Wiedereinführung der Grenzkontrollen
sich nicht quantifizieren.
13
Weiterführende Kosten einer Abkehr vom Schengen-Abkommen
Ohne das Schengen-Abkommen ergeben auch grenzüber-
Die Aufkündigung des Schengen-Abkommens wäre ein ein-
schreitende Verkehrsinfrastruktur-Projekte wenig Sinn
maliger Vorgang in der europäischen Nachkriegsgeschichte.
– wie die Magistrale für Europa (TEN-Projekt 17), das die
Zum ersten Mal würde im Europäischen Integrationsprozess
Errichtung einer Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsachse
eine zentrale Säule des europäischen Einigungsprozesses
zwischen Paris und Budapest/Bratislava anstrebt. Eine Fahrt
ersatzlos verschwinden. Damit käme es nicht wie in der
von Paris ins Rheinland würde sich beispielsweise erheblich
Vergangenheit zu einem vorübergehenden Stillstand im
verlängern, wenn Grenzkontrollen eingehalten und durch-
Einigungsprozess, sondern zu einem wahrnehmbaren
geführt werden müssten. Vertreter europäischer Verkehrs-
Rückschritt.
unternehmen bezweifeln, dass internationaler Zugverkehr ohne die Freizügigkeit des Schengen-Abkommens in die-
Aber nicht nur für EU-Staaten, sondern auch für westeuro-
sem Maße überhaupt tragbar wäre.
päische Länder, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind, hätte die Abschaffung des Schengen-Systems erhebliche Folgen. Das Schengen-Abkommen und die Teilnahme
Politische Auswirkungen
am Binnenmarkt waren bisher Möglichkeiten für Drittstaaten, sich an den Fortschritten und Errungenschaften
Neben den ökonomischen Auswirkungen brächte die Auf-
des Europäischen Einigungsprozesses zu beteiligen. So ist
kündigung des Schengen-Abkommens auch politische
beispielsweise die europaskeptische Schweiz Mitglied des
Effekte mit. Der Austausch sicherheitsrelevanter Daten,
Schengen-Raums. Norwegen, Island und das Fürstentum
der derzeit über das Schengen-Informationssystem (SIS)
Liechtenstein sind sowohl Mitglieder des Schengen-Raums
erfolgt, müsste künftig wieder bilateral geregelt werden.
als auch des EU-Binnenmarktes. Ohne das Schengen-
Das SIS ist ein Informationssystem für die Sicherheitsbe-
Abkommen wären Anknüpfungspunkte mit europäischen
hörden der Schengen-Länder. Es dient der automatisierten
Nicht-EU-Ländern ausschließlich über den Binnenmarkt
Personen- und Sachfahndung. Ohne das SIS wären automa-
möglich.
tische Eintragungen und Zugriffe quer über alle Mitgliedstaaten nicht mehr möglich. Die Koordination zur Bekämpfung der Schleuser- und Rauschgiftkriminalität sowie des
Gesellschaftliche Bedeutung
organisierten Verbrechens und internationalen Terrorismus würde schwieriger werden. Auch die justizielle Zusammen-
Das Schengen-Abkommen und die daraus resultierenden
arbeit der Länder wäre von einer Abkehr vom Schengen-
Vorteile, wie beispielsweise der grenzfreie Reiseverkehr
Abkommen betroffen.
sind für die europäische Bevölkerung wahrnehmbar und werden begrüßt. Dies bestätigen auch demoskopische Er-
Zudem stellt das Schengen-Abkommen die Grundlage für
hebungen (Allensbach 2014). Der grenzfreie Reiseverkehr
eine einheitliche Asyl- und Flüchtlingspolitik dar. Ohne das
ist neben dem Euro die für Bürger wahrnehmbarste Form
Schengen-Abkommen ist die Verwirklichung einer europa-
des Europäischen Einigungsprozesses. Die erneute Einfüh-
weiten Koordination der Flüchtlings- und Migrationsströme
rung von Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums
de facto und de jure kaum möglich.
hätte dementsprechend große Symbolkraft.
14
Weiterführende Kosten einer Abkehr vom Schengen-Abkommen
Die Trennung von Arbeits- und Lebensräumen oder der kurzfristige Ausflug zum Einkauf ins Nachbarland sind in den europäischen Grenzregionen bei einer dauerhaften Wiedereinführung von Grenzkontrollen nur schwer vorstellbar. Kultureller Austausch, grenzüberschreitende Bewegungen und länderübergreifende Erfahrungen würden zurückgehen. Die gesellschaftlichen und politischen Kosten einer Aufkündigung des Schengen-Abkommens lassen sich nicht beziffern.
15
5 Fazit
Die dauerhafte Wiedereinführung von Personenkontrollen
Die vorliegende Studie identifiziert außerdem diverse
an den EU-Binnengrenzen würde spürbar negative Auswir-
politische und gesellschaftliche Wirkungskanäle und
kungen auf die Volkswirtschaften der Europäischen Union
Konsequenzen. Der grenzfreie Reiseverkehr innerhalb der
nach sich ziehen. Der Zeitverlust durch Grenzkontrollen im
EU wäre nicht mehr möglich. Darüber hinaus erschwert
Warenverkehr stößt eine komplexe volkswirtschaftliche
eine Abkehr vom Schengen-Abkommen den grenzüber-
Wirkungskette an, deren Effekte für die einzelnen Länder
schreitenden Datenaustausch der nationalen Sicherheits-
unterschiedlich hoch ausfallen. Je nach konjunktureller
behörden. Schließlich dürfte besonders die politische
Ausgangslage, Importquote oder Lohn-Preis-Dynamik sind
Symbolkraft einer Aufkündigung des Schengen-Abkom-
einige Staaten stärker von Grenzkontrollen betroffen als
mens für den europäischen Einigungsprozess von enormer
andere.
Bedeutung sein.
Unseren Szenarienrechnungen zufolge wären allein in Deutschland Wachstumseinbußen in Höhe von mindestens 77 Mrd. Euro bis zum Jahr 2025 zu erwarten. Unter pessimistischeren Annahmen summieren sich die gesamtwirtschaftlichen Kosten auf bis zu 235 Mrd. Euro. Andere EU-Staaten wie Frankreich, Spanien, Großbritannien, Österreich oder Polen wären von einer Abkehr vom Schengen-Abkommen ebenfalls stark betroffen. Bis 2025 wäre die kumulierte Wirtschaftsleistung der EU insgesamt zwischen fast 500 Mrd. Euro und rund 1,4 Billionen Euro niedriger als im Falle offener EU-Binnengrenzen. Zusätzliche negative ökonomische Effekte auf Berufspendler in Grenzregionen, auf die Tourismusbranche oder auf die mittelfristigen Anpassungen der internationalen Wertschöpfungsketten sind dabei noch nicht berücksichtigt. Unsere Berechnungen zeigen, dass die Auswirkungen nicht auf Europa beschränkt wären. Aufgrund enger Handelsverflechtungen wären auch China und die USA spürbar von Grenzkontrollen innerhalb der EU betroffen.
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Literatur
Aussilloux, Vincent, und Boris Le Hir. “The Economic Cost of Rolling Back Schengen”. La Note d’analyse Nr. 39. France Stratégie, Paris 2016. (www.strategie.gouv.fr/ sites/strategie.gouv.fr/files/atoms/files/the_economic_ cost_of_rolling_back_schengen_0.pdf). EU Kommission. EU transport in figures – Statistical pocketbook 2014. EU-Kommission, Luxemburg 2014. (http:// ec.europa.eu/transport/facts-fundings/statistics/ doc/2014/pocketbook2014.pdf). Flam, Harry. “From EEA to EU – Economic consequences for the EFTA countries”. European Economic Review 39 1995. 457–466. Harrison, Glenn, Thomas Rutherford und David Tarr. “Product Standards, Imperfect Competition, and Completion of the Market in the European Union”. Policy Research Working Paper Nr. 1293. Weltbank, Washington DC 1994. (www.gtap.agecon.purdue.edu/resources/ download/3524.pdf). Keuschnigg, Christian, und Wilhelm Kohler. “Austria in the European Union – Dynamic Gains from Integration and Distributional Implications”. Economic Policy 11 (22) 1996. 155–211. Petersen, Thomas. „Ein veränderter Blick auf Europa?“ FAZMonatsbericht des Institut für Demoskopie Allensbach. Frankfurter Allgemeinen Zeitung 111 vom 14. Mai 2014. (www.ifd-allens-bach.de/uploads/tx_reportsndocs/ FAZ_Mai_2014_Europa.pdf). Smith, Alasdair, und Anthony J. Venables. “Completing the Internal Market in the European Community”. European Economic Review 32 1988. 1501–1525.
17
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