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KONSUMVERHALTEN
75 JAHRE MARKENARTIKEL
Die Zukunft ist Multichannel Das veränderte Kauf- und Informationsverhalten der Konsumenten stellt die Industrie und den stationären Handel vor neue Herausforderungen. Ohne eine klare Multichannel-Strategie laufen sie Gefahr, die Kunden zu verlieren. E-COMMERCE und neue digitale Vertriebswege haben das Einkaufsverhalten in den vergangenen Jahren nachhaltig verändert. So ist der Umsatz des interaktiven Handels von 28,6 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf fast 40 Milliarden Euro im Jahr 2012 gestiegen (Abb. 1). Dabei werden heute bereits über 70 Prozent des Warenvolumens im interaktiven Handel über digitale Bestellwege umgesetzt, das heißt vor allem über das stationäre Internet (Abb. 2). Während es in den Anfangszeiten des digitalen Handels vor allem die Internet Pure Player (IPP) verstanden haben, ihre – oft spezialisierten – Angebote einer breiten Masse via Internet zu präsentieren und Anbieter wie Amazon von der Goldgräberstimmung Anfang des Jahrtausends profitieren konnten, hat sich der Markt in den vergangenen fünf Jahren deutlich diversifiziert. Es haben inzwischen auch diejenigen Anbieter den Online-Vertriebskanal für sich entdeckt, die ihre Heimat im stationären Handel haben. Allein 2012 ist der Um-
satzanteil in diesem Segment im Vergleich zu 2011 um mehr als ein Drittel gestiegen (Abb. 3)
Die Qualität von Beziehungen zählt Mit dieser Entwicklung verbunden ist die Frage, wie sich die Handelslandschaft weiter verändern wird. Wird der schon oft proklamierte Tod des Einzelhandels schon bald Realität? Zugegeben, aus Sicht von Händlern und Industrie war früher alles einfacher. Im Zeitalter der Industrieökonomie wurden Produkte kommunikativ in Werbespots und Anzeigen inszeniert und im Handel platziert. Die zentralen Währungen: Aufmerksamkeit und Platzierung. Je größer die Aufmerksamkeit für ein Produkt, desto besser die Platzierung im Handel – und desto größer der wirtschaftliche Erfolg von Unternehmen beziehungsweise ihren Marken. In der Netzwerkökonomie und mit den neuen technischen und medialen Möglichkeiten der Konsu-
ABB. 1: DER INTERAKTIVE HANDEL WÄCHST
TNS Infratest
Der Umsatz des interaktiven Handels ist von 28,6 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf fast 40 Milliarden Euro im Jahr 2012 gestiegen.
Quelle: bvh.info
MARKENFÜHRUNG
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ABB. 2: BESTELLT WIRD ÜBER DAS STATIONÄRE INTERNET Volumina im Interaktiven Handel 2011 vs. 2012
Quelle: bvh.info
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Über 70 Prozent des Warenvolumens im interaktiven Handel werden heute über digitale Bestellwege umgesetzt
menten, sich zu organisieren und zu verbinden, sind es nicht mehr die klassischen Hierarchien – hier auch verstanden als Beziehung zwischen Marke, Händler und Kunde –, die für Kontinuität und Planbarkeit sorgen, sondern die Qualität von Beziehungen. Transparenz und Vertrauen werden zu entscheidenden Ressourcen, für die gemeinsame Werte die Grundvoraussetzung sind.
Multichannel ist der Weg der Zukunft Die damit verbundene Herausforderung in der Führung und im Vertrieb von Marken ergibt sich aus der hohen Dynamik in fast allen Märkten. Insbesondere die gestiegene Angebotsvielfalt und veränderten Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten beeinflussen Kauf und Markenbindung mehr
als je zuvor. Dies stellt Unternehmen und Händler vor große Herausforderungen und erfordert ein konsequentes Umdenken. Fast alle aktuellen Studien belegen, dass es bereits heute und damit auch zukünftig dem Konsumenten nicht um die Wahl eines bestimmten Vertriebskanals geht, sondern um die Möglichkeit, Vertriebskanäle zu kombinieren. So wünschen sich Kunden vor allem integrierte Vertriebskonzepte (Multi-/Omni-Channel), wie eine repräsentative Untersuchung des Bundesverband Direktvertrieb Deutschland e.V. (BDD) in Zusammenarbeit mit TNS Infratest Consumer & Retail zeigt. Während heute noch der stationäre Einzelhandel – mit deutlichem Abstand – den Kanon der Einkaufskanäle bestimmt, führen Direktvertriebsformen wie der Kontakt mit Verkäufern in der eigenen Wohnung oder
ABB. 3: ENTWICKLUNG DER VERSENDER-TYPEN E-COMMERCE
Quelle: bvh.info
Angaben in Mio. Euro
Auch Anbieter, die ihre Heimat im stationären Handel haben, haben den Online-Vertriebskanal für sich entdeckt. Allein 2012 ist der Umsatzanteil in diesem Segment im Vergleich zu 2011 um mehr als ein Drittel gestiegen.
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ABB. 4: EINZELHANDEL VOR ORT IST WICHTIGSTER EINKAUFSKANAL Top-2-Werte 14 - 39 Jahre
40 - 59 Jahre
60 + Jahre
n=354
n=352
n=298
93
91
83
40
66
32
7
40
37
21
13
0
2
5
2
1
2
2
1
2
Total N=1.004
Quelle: TNS Infratest, »BDD-Studie 2012«
Einkäufe im Einzelhandel vor Ort
89
Einkaufen über das Internet
37
Kauf über den Postweg
24
Einkäufe per Telefon
2 12
Kauf über den Kontakt mit dem Verkäufer in der Wohnung
28
Verkaufsveranstaltungen bei Freunden, Bekannten
2
7 4
23 35 85 90
19
Top-2 (1;2)
79
Middle-2 (3;4)
Bottom-2 (5;6)
Basis: Total; Daten in %; 6er-Skala: 1= „sehr wichtig“ bis 6 = „überhaupt nicht wichtig“ Q1.1: Wenn Sie einmal an untersch. Möglichkeiten des Einkaufens denken, welche Bedeutung haben dann für Sie persönlich die folgenden Möglichkeiten bzw. Kanäle beim Einkaufen? Bitte sagen Sie es mir anhand einer Skala von 1= sehr wichtig bis 6 = überhaupt nicht wichtig.
89 Prozent der Verbraucher schätzen die Bedeutung des Einzelhandels als sehr wichtig/wichtig ein – zukünftig sind es nur noch 62 Prozent.
Verkaufsveranstaltungen bei Freunden ein Nischendasein. Dies wird sich aus Konsumentensicht zukünftig deutlich verändern. So schätzen heute 89 Prozent der befragten Verbraucher die Bedeutung des Einzelhandels als sehr wichtig/wichtig ein (Abb. 4) – zukünftig sind es nur noch 62 Prozent. Gewinnen wird Online – das belegen die Daten zur Entwicklung im Bereich ECommerce. Diesen Kanal schätzen heute 37 Prozent als sehr wichtig/wichtig ein, zukünftig sind es 57 Prozent. Zu den Gewinnern zählen auch die Direktvertriebsformen. Der Verkäufer in der Wohnung und Verkaufveranstaltungen bei Freunden gewinnen aus Sicht der Verbraucher mit +15 Prozent beziehungsweise +19 Prozent deutlich in der Gunst der Konsumenten. Diese Zahlen sind wenig überraschend. Bei einer weiter zunehmenden Ausdünnung oder Verarmung des Einzelhandels insbesondere in ländlichen Regionen bleibt die Sehnsucht nach Erlebnis, Inszenierung und Austausch. Dieses Bedürfnis können Direktvertriebsformen erfüllen.
Jens Krüger ist Sectorhead und Geschäftsführer von TNS Infratest Consumer & Retail, Hamburg. Er ist bereits seit 16 Jahren in verschiedenen Positionen bei TNS Emnid, danach TNS Infratest, beschäftigt. Zuletzt war er Sales Director für Consumer & Retail.
Kooperation statt Wettbewerb Wer aber glaubt, dass der stationäre Handel in Zeiten von Internet und Mobile in Zukunft gar nicht mehr gefragt ist, ist auf dem Holzweg. Marken werden auch weiterhin Inszenierung brauchen – eine Inszenierung, die die Phantasie anregt und Produkte erlebbar macht. Gerade im richtigen Zusammenspiel mit den neuen Medien liegt dabei die Zukunft. Auch wenn bereits ein Gros der Anbieter im Stationären Einzelhandel angefangen hat, entsprechende Online-Angebote zu platzieren, stehen sich viele Vertriebsdisziplinen allerdings noch selbst im Weg. Die Zeiten von Gattungsmarketing sind vorbei, aber noch haben es nicht alle gemerkt. Nur diejenigen Vertriebskanäle, die auf den Wettbewerb zugehen, sich den Wandlungsprozessen öffnen und intelligente und gemeinsame Formate entwickeln und aufeinander abstimmen, werden in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Jens Krüger, Iris Tweer
Iris Tweer ist seit 2008 bei TNS Infratest beschäftigt und verantwortlich für den Bereich der Retail & Shopper Marktforschung. Zuvor war sie als Leiterin von Category Management bzw. InStore Innovation Teams in der Konsumgüterindustrie tätig.
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