Florian Demke
Die UN-Behindertenrechtskonvention Auswirkungen auf Sozialpolitik und Behindertenhilfe in Deutschland
disserta Verlag
Demke, Florian: Die UN-Behindertenrechtskonvention: Auswirkungen auf Sozialpolitik und Behindertenhilfe in Deutschland, Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-366-1 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-367-8 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com
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www.un-brk.de
Vorwort
Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession.1 Wenn man diesen Leitsatz ernst nimmt, kommt man nicht darum umhin anzuerkennen, dass eine ernsthafte und professionelle Auseinandersetzung mit den Theorien und der Praxis Sozialer Arbeit nicht
ohne
profundes
Wissen
über
die
aktuelle
Entwicklung
des
Menschenrechtsdiskurses vonstattengehen kann2. Während sich die Menschenrechte von vornherein auf alle Menschen beziehen, gibt es jedoch Bevölkerungsgruppen, die in besonderer Weise von Diskriminierung und Exklusion bedroht und betroffen sind. Die nachfolgenden Seiten beschäftigen sich mit einem Instrument, das aufgrund seiner formalen und inhaltlichen Konzeption dazu beitragen kann, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen zukünftig einen internationalen Standard erreichen.
Die Leser dieser Arbeit seien vorab auf zwei Besonderheiten hingewiesen, die die Entstehung dieses Buches maßgeblich begleitet und geprägt haben. Zum einen befindet sich die Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen3 derzeit in einem Stadium, in dem noch keine gesicherten Angaben über ihre letztendliche Bedeutung bzw. ihre Auswirkungen gemacht werden können. Die nachfolgend dargelegten Gedankengänge beziehen sich daher auf eine Momentaufnahme, die freilich mittels umfangreicher Recherche entstanden ist, ihre Aussagekraft bleibt jedoch beschränkt und sollte daher als Zwischenauswertung der bisher beobachtbaren Entwicklungen und nicht als absolute Aussage verstanden werden.
1
vgl. Staub-Bernasconi 1997, S. 313 ff. Ich habe bereits an anderer Stelle ausführlicher über den Zusammenhang von Menschenrechten und dem Selbstverständnis Sozialer Arbeit geforscht und berichtet; vgl. Demke 2008. Grundsätzlich stellt Wissen über die Menschenrechte einen positiven Faktor für den Einsatz gegenüber der Einhaltung selbiger dar; vgl. Fritzsche 2004, S. 171 f. 3 Ich bezeichne das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Folgenden als UN-Behindertenrechtskonvention bzw. abgekürzt als UN-BRK, weil sich der Begriff aufgrund der besseren Verständlichkeit im allgemeinen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch durchgesetzt hat. 2
-i-
Zum anderen liegt diese Arbeit in vier verschiedenen Versionen vor - in meinen Augen eine Notwendigkeit, um die Zugänglichkeit auch für Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen zu gewährleisten. Diese Vorgehensweise entspricht vielleicht zunächst nicht dem klassisch-wissenschaftlichen Arbeiten, im Zusammenhang mit der UN-Behindertenrechtskonvention setzt sie jedoch eine wesentliche Forderung in Bezug auf Informationszugänglichkeit und inklusive Bildung um. Insofern betrachte ich die aus der UN-Behindertenrechtskonvention resultierenden Rechte als Grundlage für die formale Konzeption dieser Arbeit und hoffe, dass sie daher nicht nur als wissenschaftliches Dokument anerkannt wird, sondern zugleich einen Ansatz aufzeigt, wie Theorie und Praxis miteinander verknüpft werden können, um zur Einhaltung eben jener Menschenrechte beizutragen, die durch die UN-Behindertenrechtskonvention etabliert wurden.
Diese Arbeit hätte niemals entstehen können, wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die mich bei ihrer Erarbeitung begleiteten. Zunächst danke ich Prof. Dr. Petra Focks und Prof. Dr. Axel Bohmeyer, dass sie als Gutachter zur Verfügung standen. Dr. René Fiedler danke ich für seine Unterstützung bei der Informationsbeschaffung und ausführlichen Beratung zum Thema völkerrechtlicher Grundlagen. Meinen Kollegen im Sozialdienst der LWB - Lichtenberger Werkstatt für Behinderte gGmbH, insbesondere Ute Hannemann, danke ich dafür, dass sie mir durch ihre Unterstützung das Verfassen dieses Buches ermöglicht haben und die Geduld hatten, meinen impulsiven Bedürfnissen nach fachlicher Auseinandersetzung Stand zu halten. Dank sei an dieser Stelle auch an meine Eltern, Annette und Werner Demke, gerichtet, die mir immer wieder Mut gemacht haben, meinen akademisch-wissenschaftlichen Interessen auch weiterhin
nachzugehen.
Besonderen
Dank
schulde
ich
schließlich
meiner
Lebensgefährtin Linda Malke, die mir ihre Praxisräume für ungestörtes Arbeiten zur Verfügung stellte und mich in sämtlichen Schaffensphasen liebevoll und stets aufmunternd begleitete.
Eichwalde, im Juli 2011
Florian Demke
- ii -
Inhaltsverzeichnis/ Gliederung 1.
Abkürzungsverzeichnis
-v-
2.
Einleitung
-1-
3.
Geschichte der Rechte von Menschen mit Behinderungen
-6-
3.1.
Rechtliche und politische Grundlagen nach 1945
-7-
3.2.
Die Entwicklung der UN-Behindertenrechtskonvention: Von der
- 24 -
Erarbeitung bis zu ihrem Inkrafttreten 3.3.
Zusammenfassung
- 26 -
4.
Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention
- 28 -
4.1.
formale Konsequenzen
- 29 -
4.1.1.
Staatliche Umsetzung
- 32 -
4.1.2.
Staatliche Koordinierung
- 34 -
4.1.3.
Überwachung
- 36 -
4.1.3.1. UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen
- 36 -
4.1.3.2. Rolle der Zivilgesellschaft
- 37 -
4.1.3.3. Institutionalisiertes unabhängiges Monitoring
- 38 -
4.2.
inhaltliche Konsequenzen
- 43 -
4.2.1.
Selbstbestimmt Leben und Einbeziehung in die Gemeinschaft
- 43 -
4.2.2.
Bildung
- 48 -
4.2.3.
Arbeit und Beschäftigung
- 52 -
4.3.
Zusammenfassung
- 57 -
5.
Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention
- 59 -
6.
Zusammenfassung/ Fazit
- 63 -
7.
Literaturverzeichnis
-I-
- iii -
8.
Abbildungsverzeichnis
- XIX -
9.
Anhang
- XXI -
9.1.
Schattenübersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
- XXI -
- iv -
1. Abkürzungsverzeichnis
Abb.
Abbildung
Abs.
Absatz
AEMR
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Art.
Artikel
AV Wohnen
Ausführungsvorschriften zur Gewährung von Leistungen gemäß § 22 SGB II und §§ 29 und 34 SGB XII
BAGüS
Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe
BEB
Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e. V.
bezev
Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e. V.
BMAS
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Bzw.
beziehungsweise
CBM
Christoffel-Blindenmission Deutschland e. V.
CEDAW
Committee on the Elimination of Discrimination against Women [deutsch: Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau]
CESCR
Committee on Economic, Social and Cultural Rights [deutsch: Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte]
CoE
Council of Europe [deutsch: Europarat]
d
Tag
DAHW
Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e. V.
DGVN
Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen
Dr.
Doktor
e. V.
eingetragener Verein
ebd.
ebenda
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
EP
European Parliament [deutsch: Europäisches Parlament]
et al.
et alii/ et aliae/ et alia [deutsch: und andere]
ders.
derselbe
f.
folgende
FH
Fachhochschule
GG
Grundgesetz [der Bundesrepublik Deutschland] -v-
gGmbH
gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung
h
hora [deutsch: Stunde]
Helios
Handicapped people in the European Community Living Independently in an Open Society
Hrsg.
Herausgeber
IGH
Internationaler Gerichtshof
ILO
International Labour Organization [deutsch: Internationale Arbeitsorganisation]
i.S.d.
im Sinne der
ISL
Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V.
i.S.v.
im Sinne von
i.V.m.
in Verbindung mit
lt.
laut
LAG
Landesarbeitsgemeinschaft
Nr.
Nummer
NRO
Nichtregierungsorganisation
o.A.
ohne Angabe
o.g.
oben genannte
o.O.
ohne Ort
OECD
Organisation for Economic Co-operation and Development [deutsch: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung]
OHCHR
Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights [deutsch: Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte]
Prof.
Professor
S.
Seite
SchwbAV
Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung
SEV
Sammlung der Europaratsverträge
SGB
Sozialgesetzbuch
SoVD
Sozialverband Deutschland e. V.
TV Mindestlohn Tarifvertrag zur Regelung eines Mindestlohnes für gewerbliche Arbeitnehmer im Maler- und Lackiererhandwerk - vi -
u.a.
unter anderem
UN
United Nations [deutsch: Vereinte Nationen]
UN-BRK
UN-Behindertenrechtskonvention
vgl.
vergleiche
VN
Vereinte Nationen
WfbM
Werkstatt für behinderte Menschen
WHO
World Health Organization [deutsch: Weltgesundheitsorganisation]
WÜRV
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
www
World Wide Web [deutsch: weltweites Netz]
z.B.
zum Beispiel
- vii -
2. Einleitung
Menschen
mit
Behinderungen
waren
und
sind
weltweit
massiven
Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Dabei wird die Zahl derer, die von einer Behinderung betroffen sind auf ca. 1 Milliarde, knapp 15 Prozent der Weltbevölkerung, geschätzt4 - 80 Prozent leben nach Angaben der WHO in Entwicklungsländern5. Spätestens seit dem Bericht des UN-Sonderberichterstatters Leandro Despouy aus dem Jahr 19936 ist offenkundig, dass die bisher bestehenden rechtlichen Grundlagen nicht geeignet waren, einen internationalen Menschenrechtsstandard und -schutz zu etablieren, der die Lebenslagen behinderter Menschen angemessen berücksichtigt. Neben häufig vorkommenden Ursachen für Behinderungen7 benennt Despouy eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen, von denen insbesondere Menschen mit Behinderungen betroffen sind8, und kommt abschließend zu der folgenden Empfehlung: „Internal legislation should be adapted to international norms and guidelines concerning the treatment of disabled persons. It should be periodically reviewed and constantly improved, for the standard of national legislation is far below the requirements of proper treatment of disabled persons”9.
Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und gilt mittlerweile für fast dreiviertel aller Staaten10 weltweit [siehe Abbildung 1]. Der Vertrag konkretisiert und präzisiert zusammenfassend die bereits 1948 in der Allgemeinen Erklärung der 4
vgl. WHO 2011, S. 29. vgl. WHO 2006, S. 1. 6 vgl. Despouy 1993. 7 Folter, Krieg, unmenschlichen Strafen - z. B. Amputationen, kulturell-tradierten Praktiken - z. B. Genitalverstümmelung bei Frauen. 8 Physische Gewaltakte - z. B. Misshandlungen, Zwangssterilisationen, sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Behinderteneinrichtungen; strukturelle Separation - z. B. Institutionalisierung in Heimen und anderen Sondereinrichtungen, fehlender Zugang zu Bildung und Arbeit und mangelnde Anerkennung vor dem Gesetz. 9 ebd. 1993; vgl. www.un.org/esa/socdev/enable/dispaperdes5.htm [13.06.2011]. Freie Übersetzung F.D.: „Nationale Gesetze sollten an internationale Normen und Richtlinien, die den Umgang mit behinderten Menschen betreffen, angepasst werden. Sie sollten regelmäßig überprüft und kontinuierlich weiterentwickelt werden, da der Standard nationaler Gesetze weit hinter den Anforderungen eines angemessenen Umgangs mit behinderten Menschen zurückbleibt.“ 10 Derzeit haben 149 Staaten die UN-BRK gezeichnet, 101 haben sie ratifiziert. Das Fakultativprotokoll wurde bisher von 90 Staaten gezeichnet und von 61 ratifiziert [Stand: 13.06.2011]. Eine aktuelle Übersicht befindet sich hier: www.un.org/disabilities/countries.asp. 5
-1-
Menschenrechte formulierten Rechte aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen.11
Abb. 1: Übersicht zum aktuellen Stand der Zeichnungen und Ratifikationen der UN-BRK12
Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention zunächst keine abschließende Definition des Begriffes Behinderung enthält13, orientiert sie sich in der Präambel stark am Sozialen Modell des Behinderungsbegriffes14: „Recognizing that disability is an evolving concept and that disability results from the interaction between persons with impairments and attitudinal and environmental barriers that hinders their full and effective participation in society on an equal basis with others“15. Behinderung wird nach diesem Verständnis als dynamisches Konzept begriffen und nicht mehr primär unter einer defizitorientierten medizinischen Perspektive.
11
vgl. Aichele 2010a, S. 1. vgl. www.un.org/disabilities/documents/maps/enablemap.jpg [13.06.2011]. 13 vgl. Aichele 2008, S. 5. 14 vgl. von Bernstorff 2007, S. 1047. 15 Präambel (e) UN-BRK. Der Verfasser zitiert die Behindertenrechtskonvention bewusst im Original, da die amtliche deutsche Übersetzung des Bundesgesetzblattes 2008 in ihrer sprachlichen Korrektheit angezweifelt wird; vgl. Aichele 2008, S. 11 f.; Hervorhebungen in fetter Schrift F.D. Schattenübersetzung: „In der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungsund umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen und wirksamen Teilhabe auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen an der Gesellschaft hindern“. 12
-2-
Ein weiterer Paradigmenwechsel, der sich bereits seit dem Beginn der 1990er Jahre abzeichnet und durch die Verabschiedung der UN-BRK weithin diskutiert wurde, findet sich in der Debatte um den Begriff Inklusion wieder.16 Im Kontext dieser Arbeit erscheint es mir wenig sinnvoll, dieser Diskussion noch etwas hinzuzufügen; Inklusion begreife ich im Rahmen der folgenden Ausführungen als gedankliche Grundlage für die Umsetzung der UN-BRK, da sie die Inbezugnahme aller Menschen ohne Differenzierung nach möglicherweise abweichenden Merkmalen meint.17
Die Verabschiedung der UN-BRK und der anschließende Ratifizierungs- und Umsetzungsprozess haben eine globale Diskussion ausgelöst, wobei der Konvention grundsätzlich eine hohe Bedeutung beigemessen wird: „Das Übereinkommen ist ein bahnbrechendes Dokument: Als erstes universelles Rechtsinstrument, das auf die Lebenssituation von weltweit über 600 Millionen [lt. WHO beläuft sich die Zahl auf ca. 1 Milliarde; F.D.] behinderten Bürgerinnen und Bürgern zugeschnitten ist, definiert es soziale Standards, an denen die Vertragsstaaten ihr politisches Handeln zukünftig messen lassen müssen. Ein gesellschaftlicher Wandel ist damit vorgezeichnet"18.
Die Umsetzung der UN-BRK ist, unabhängig von ihrer völkerrechtlichen Verbindlichkeit, Aufgabe der einzelnen Vertragsstaaten. In Deutschland kann seit der Ratifizierung der Konvention eine intensive Auseinandersetzung beobachtet werden, wobei sich die gesellschaftlichen Positionen gegenüber den inhaltlichen Schwerpunkten, wie die nachfolgenden Ausführungen darlegen werden, in einem Prozess der Aushandlung befinden: „Am 26.03.2009 ist in Deutschland die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen […] in Kraft getreten. Da Deutschland diese und das dazugehörige Fakultativprotokoll vorbehaltlos ratifiziert hat, ist die BRK in vollem Umfang wirksam geworden und die Bundesregierung verpflichtet, auch in Deutschland eine
auf
Inklusion
ausgerichtete
Teilhabepolitik
zu
betreiben
und
den
Paradigmenwechsel vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von
16
Stark-Angermeiner geht sogar so weit und bezeichnet die UN-BRK als initialen Motor des Inklusionsdiskurses; vgl. Stark-Angermeier 2011, S. 3. 17 Eine umfassende Definition des Begriffs findet sich für den Bereich der Sonderpädagogik bei Hinz/ Boban 2008, S. 205. Eine ethische Reflexion des Begriffs findet sich z. B. hier: vgl. Spiess 2011, S. 11 ff. 18 von der Leyen 2010, S. 2.
-3-
Behinderung zu vollziehen. Welche Auswirkungen dies auf die bestehende Rechtsordnung und Rechtsanwendung hat und welche weiteren Maßnahmen dies erforderlich macht, ist noch weitgehend ungeklärt. So steht die Diskussion, wie sich das deutsche Rehabilitationssystem unter Geltung der BRK verändern muss, noch am Anfang“19. Mittlerweile scheinen sich im professionellen und politischen Diskurs einzelne Standpunkte herauszubilden, die punktuelle Kritik an den deutschen Umsetzungsstrategien beinhalten - grundsätzlich ablehnende Haltungen gegenüber der Konvention lassen sich jedoch zunächst nicht finden: „Die Botschaft der UNBehindertenrechtskonvention hat aufgerüttelt. Alle Organisationen, Institutionen und Verbände, die in irgendeiner Weise mit der pädagogischen Förderung von Kindern mit Behinderungen befasst sind, fühlen sich zu einer Stellungnahme herausgefordert. Eine kaum noch überschaubare Anzahl von Positionspapieren, Resolutionen und Memoranden bezeugt die lebhafte Auseinandersetzung mit der Konvention. Eine erste Sichtung der Reaktionen führt zu einem höchst überraschenden Ergebnis: Die Behindertenrechtskonvention wird allerorten einhellig ‚begrüßt‘! Kritische oder gar ablehnende Stellungnahmen sind nicht bekannt. Es gibt also - so scheint es - keine Gegner der Inklusion. Auf der Ebene der Bekenntnisse sind wir ‚ein einzig Volk von Brüdern‘ (Schiller)“20.
Die folgenden Ausführungen setzen sich grundlegend mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen die Ratifizierung der UN-BRK auf die sozialpolitischen Gegebenheiten in Deutschland und auf die Angebote der Träger der Behindertenhilfe haben kann21. Zunächst werden in Kapitel 3 die historischen Grundlagen der UN-BRK skizziert,
wobei
insbesondere
Vorarbeiten
19
verschiedenster
internationaler
Willig/ Ramm/ Groskreutz 2010, S. 1. Wocken 2010, S. 25. 21 Wenn ich im Folgenden die Auswirkungen der UN-BRK auf die Bereiche „Sozialpolitik“ und „Behindertenhilfe“ untersuche, muss vorangestellt werden, dass es eine fehlende Trennschärfe zwischen den beiden Konstrukten gibt, sie sich in der Praxis zu einem nicht auflösbaren Konzept verbinden. Dennoch erscheint es mir im Rahmen dieser Arbeit sinnvoll eine derartige Unterscheidung zu vollziehen: Mit Sozialpolitik meine ich zunächst staatliche Aufgabenbereiche wie das Schaffen entsprechender rechtlicher und finanzieller Rahmenbedingungen, während die praktische Umsetzung in Form von Angebotsstrukturen aufgrund des Subsidiaritätsprinzips zuvörderst bei den Trägern der Behindertenhilfe verortet bleibt. Auch wenn die UN-BRK zunächst die Gesamtheit aller staatlichen Institutionen betrifft, sind die Träger der Behindertenhilfe aufgrund ihrer inhaltliche Nähe zu den in der UN-BRK festgeschriebenen Rechten von dem im Folgenden beschriebenen Paradigmenwechsel meines Erachtens am dringlichsten betroffen. 20
-4-
Institutionen nach 1945 betrachtet werden, um aufzuzeigen, dass die UN-BRK in ihrer Konzeption sicherlich als Novum betrachtet werden kann - den Rechten von Menschen mit Behinderungen wurde jedoch auch schon vorab internationale Aufmerksamkeit geschenkt. Aufgrund dieser Sachlage wird anschließend kurz erläutert, inwiefern sich die bereits verabschiedeten Empfehlungen, Beschlüsse und Verträge von der Verfasstheit der UN-BRK unterscheiden. Kapitel 4 setzt sich mit der Frage nach den Auswirkungen der Ratifizierung der UN-BRK auseinander. Grundsätzlich werden hierbei zwei verschiedene Perspektiven eingenommen: Zum einen werden die durch die Implementierung der Konvention ausgelösten Impulse aufgezeigt und in ihrer derzeitigen Umsetzung beurteilt, zum anderen werden drei Kernbereiche der UN-BRK Wohnen, Arbeiten und Bildung - betrachtet und auf der Grundlage aktueller sozialpolitischer Tendenzen reflektiert. Kapitel 5 nimmt abschließend eine Beurteilung der Bedeutung der UN-BRK vor. In Kapitel 6 werden die Ergebnisse der einzelnen Ausführungen zusammengefasst und offene Fragen, die für die weitere Umsetzung der UN-BRK in Deutschland relevant erscheinen, benannt.
-5-