Die Stunde des Kraken

dete ein Klacken den Anruf, und das Display erlosch. ... bereits beim ersten Anruf des Phantoms wieder schlagartig .... wäre die ganze Aufregung umsonst.«.
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Peter Glowotz

Die Stunde des Kraken

Peter Glowotz

Die Stunde des Kraken Ein Fall für Lara Gropius

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2015 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Herstellung: Mirjam Hecht Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © full image – Fotolia.com und © flas100 – Fotolia.com Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-8392-4857-7

Das Lied vom Tod Es ist ein Schnitter, heißt der Tod, hat G’walt vom großen Gott! Heut wetzt er das Messer, es schneidt schon viel besser, bald wird er drein schneiden, wir müssen’s erleiden. Hüt dich, schön’s Blümelein! Deutsches Volkslied, 17. Jahrhundert

Prolog

Kalter Schweiß perlte auf der Stirn des Mannes, als er den leisen Summton vernahm. Obwohl er den Anruf erwartet hatte, fuhr ihm das Geräusch durch Mark und Bein. Mit flatternden Lidern starrte er auf das Telefon, als habe er eine zum Angriff aufgerichtete Giftnatter vor sich. Wie paralysiert von der entsetzlichen Vorstellung, dass der, dessen Stimme er gleich vernehmen würde, eigentlich ein Toter war. Ein Phantom, das die unüberwindliche Mauer zwischen Sein und Nichtsein eingerissen hatte und wie selbstverständlich den Trümmern entstiegen war, als habe es die Vergangenheit nie gegeben. Erneut bohrte sich der Summton in das Dunkel des Zimmers. Mit panischem Blick musterte er das grün leuchtende Display: »Unbekannt.« Wie bereits die vergangenen Male attackierte ihn das Phantom auch diesmal wieder aus der Anonymität heraus. Blieb nur die Hoffnung, dass die Fangschaltung, die er über die Gruppe in Auftrag gegeben hatte, diesmal funktionierte. Ein neuerliches Summen. »Drecksack!«, kommentierte er heiser. Noch immer zögerte er, zum Hörer zu greifen. Dabei wusste er, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis er vor dem Geräusch kapitulieren würde; er konnte nicht anders. Obwohl er wusste, was ihn erwartete, wenn er abnahm. Zuerst würde eine geisterhafte Melodie an sein Ohr dringen. Eine alte Volksweise, scharf und schrill gespielt auf einer Blockflöte. Dann würde das Phantom wieder diesen Namen flüstern. Jenen verdammten Namen, den er bis vor weni7

gen Wochen noch von der Vergangenheit zermalmt und vom Wind der Zeit in alle Richtungen verweht wähnte, was ein verhängnisvoller Irrtum gewesen war. Abermals fuhr ihm der Summton in die Knochen. Mit einer heftigen Bewegung nahm er den Hörer auf. Es ist ein Schnitter, heißt: der Tod … Der grelle Klang der Flöte vermittelte ihm das Gefühl, durch das Gehör hindurch gepfählt zu werden. Längst schon hatte sich sein Asthma zurückgemeldet, wie immer, wenn er erregt war. Sein Atem wurde schneller, begann zu pfeifen. Gleich würde die Melodie abrupt enden, das Phantom würde diesen elenden Namen flüstern und dann einfach auflegen. Und ihn seiner Panik überlassen. Wie die letzten Male auch. Widerstand regte sich in ihm. »Gib dich endlich zu erkennen, du Schwein! Was willst du? Wer bist du?«, bellte er keuchend in den Hörer, mitten in das Klagen der Flöte hinein. Ein verzweifelter Versuch, sich gegen das Entsetzen zu stemmen. Doch das Phantom ließ sich nicht beirren. Erst nachdem die Melodie zu Ende war und er den geflüsterten Namen zur Kenntnis genommen hatte, beendete ein Klacken den Anruf, und das Display erlosch. Vollkommene Dunkelheit umgab ihn jetzt. Sie drückte auf seinen Brustkorb, presste ihn in den Stuhl, in dem er saß, und zwang wieder dieses furchtbare Bild aus längst vergangenen Zeiten vor sein inneres Auge. Eine Illustration aus der alten Bilderbibel seiner katholischen Großmutter, in der er als Kind hatte hin und wieder blättern dürfen. Ein bedrückend realistisch gezeichnetes alttestamentarisches Szenario, das sich in sein kindliches Gehirn regelrecht hineingebrannt hatte. Im Laufe der Jahrzehnte 8

war es in den Tiefen seiner Erinnerung versandet, aber bereits beim ersten Anruf des Phantoms wieder schlagartig an die Oberfläche seines Bewusstseins getreten. Obwohl er mit Religion nie etwas am Hut gehabt hatte, verfolgten ihn die Wucht dieses Bildes und die dazu gehörenden Bibelverse nun schon seit Wochen mit einer Intensität, die bis in seine Träume hineinreichte und ihn regelmäßig schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken ließ. Die Vision des Sehers Ezechiel. Ein Tal, angefüllt mit Totengebeinen. Soweit das Auge reicht, ausgebleichte Schädel und Skelette. Ein Geräusch, das das gesamte Tal erfüllt. Ein Klappern, das immer mehr anschwillt. Auf unheimliche Weise setzen sich die Gebeine plötzlich in Bewegung, finden zueinander, überziehen sich zusehends mit Sehnen, Fleisch und Haut … … und der Odem des Herrn kam in sie, und sie begannen zu leben, und sie stellten sich auf ihre Füße, eine sehr, sehr große Streitmacht … Die Armee der Toten. Sie war zurückgekehrt. Und sie marschierte geradewegs auf ihn zu. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

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Kapitel 1

Augsburg | 11. September 2007 | DI »Bitte setzen Sie sich doch!« Privatdetektivin Dr. Lara Gropius wies mit einer einladenden Geste auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, während sie selbst dahinter auf einem Drehstuhl Platz nahm. Groß, mindestens 1,80. Figur wie ein Model, Alter etwa Mitte 40. Eigentlich sehr hübsch. Kurzhaarfrisur, blondiert, sehr gepflegt. Ziemlich mondän: Outfit vom Feinsten, sogar die Accessoires: Allein die Gucci-Handtasche muss ein Vermögen gekostet haben, scannte Dr. Gropius im Stillen die Erscheinung, die soeben in ihr Büro getreten war. Die Frau hatte gestern Nachmittag angerufen und um einen Termin gebeten, ohne näher auf ihr Anliegen einzugehen. Sie hatte sich als Carmen Demuth, Ehefrau von Dr. Lothar Demuth, dem Inhaber einer großen Augsburger Werbeagentur, vorgestellt. Beheimatet war die Familie in Inning am Ammersee. Über das Unternehmen war in den letzten Wochen mehrfach im Wirtschaftsteil der Süddeutschen berichtet worden. Demuth & Partner hatte sich für einen millionenschweren Werbeetat der bayerischen Staatsregierung beworben und befand sich zusammen mit zwei weiteren Mitbewerbern aus München in der engeren Auswahl. Es war das erste Mal, dass eine Agentur außerhalb der bayerischen Landeshauptstadt da mitmischen durfte. Ganz schön vulgär! Hockt da wie ein Bierkutscher, resümierte Lara Gropius in Gedanken, nachdem ihre 10

Besucherin sich breitbeinig auf dem Stuhl niedergelassen hatte. Kurz berockt, die langen, wohlgeformten Beine in feinste Nylons mit schwarzer Netzoptik gehüllt, gab sie einen Anblick preis, der in der Lage gewesen wäre, den Puls eines Voyeurs in beängstigende Höhen zu treiben. Dann aber erreichte sie ein Blick aus den Augen der Frau. Ein Blick aus dunklen Tiefen, den sie aus vielen Jahren Polizeidienst nur zu gut kannte. Angst. Sie ist regelrecht durch den Wind vor Angst, da gibt man auf solche Dinge nicht Acht, korrigierte sie sich sofort. In den Jahren als Hauptkommissarin bei der Kriminalpolizei hatte sich ihre Fähigkeit, Blicke zu deuten, geschärft. Eine überdurchschnittliche Gabe, über die sie schon in jungen Jahren verfügte und die ihr im Präsidium den Spitznamen »Miss Eye« eingebracht hatte. »Danke, dass sie mich empfangen«, begann Carmen Demuth leise, unterbrach sich aber sofort wieder. Ihre Rechte fingerte eine Zigarette aus der Handtasche, während ihre Linke nach einem Feuerzeug kramte. »Moment bitte.« Lara Gropius rollte mit ihrem Drehstuhl ein Stück zur Seite und öffnete die Balkontür direkt hinter ihr. »Wenn Sie rauchen wollen, dann bitte hier«, bemerkte sie lächelnd und deutete mit einer Kopfbewegung nach draußen. »Sie können den leeren Blumenkasten da am Geländer als Ascher benutzen.« »’tschuldigung, ich hätte wahrscheinlich erst fragen sollen, … aber … na ja, Sie wissen ja, wie das so ist: Macht der Gewohnheit«, rechtfertigte sich die Gemaßregelte verlegen. Mit einem säuerlichen Lächeln ließ sie die Zigarette in die Handtasche zurückgleiten. »Ich bitte Sie, das macht doch nichts. Eingefleischte Gewohnheiten sind nun mal nicht leicht zu ändern. Ich 11

kann ein Lied davon singen. Ich rauche nicht, dafür nerve ich meine Zeitgenossen mit … Aber lassen wir das. Sagen Sie mir lieber, was ich für Sie tun kann, Frau Demuth«, sagte Lara Gropius und versuchte bewusst, die in langen Jahren im Polizeidienst erworbene Distanz aus ihrer Stimme zu nehmen. Eine engagierte Privatermittlerin nahm Anteil am Anliegen ihrer Klienten, ließ sie Vertrauen spüren und gab ihnen das Gefühl, sich bei ihr in guten Händen zu befinden. Carmen Demuth schlug die Beine übereinander und faltete die Hände über der Gucci-Tasche auf den Knien. Ihre Worte kamen leise und zögernd. »Es … geht um meinen Schwiegervater. Er wohnt nur wenige Kilometer von uns entfernt am Wörthsee. Genauer gesagt in Bachern. Er ist verschwunden.« »Und?« Die Frau sah sie ärgerlich an. »Wie und! Das können Sie sich doch denken. Nun suche ich jemanden, der ihn sucht. Sie sind doch Privatdetektivin, oder?« Lara Gropius ignorierte den aggressiven Ton. »Wie alt ist Ihr Schwiegervater, Frau Demuth? Und seit wann vermissen sie ihn?«, fragte sie sanft nach. »In einem Monat wird er 87. Verschwunden ist er vor vier Wochen. Das ist er.« Carmen Demuth griff in das Seitenfach ihrer Handtasche und zog ein farbiges Porträtbild hervor, das sie Lara reichte. Es zeigte einen distinguierten älteren Herrn mit weißem, dünnem perfekt geschnittenem Schnauzer, ebenso weißem beneidenswert vollem Haar und einem verhaltenen, fast schüchternen Lächeln. Was besonders ins Auge stach, war die stark gebogene Nase. »Wie alt, sagten Sie, ist Ihr Schwiegervater?«, vergewisserte sich Lara. 12

»87.« »Dann ist dieses Bild schon mindestens zehn Jahre alt, wenn nicht älter!« Carmen Demuth schüttelte den Kopf. »Es ist erst letztes Jahr gemacht worden. Er sieht bedeutend jünger aus, als er ist.« Lara hob anerkennend die Brauen. »Alle Achtung! – Und verschwunden ist er vor vier Wochen?« Die Frau nickte. »Sie werden sich vielleicht fragen, warum wir die Polizei nicht einschalten. Aber das wollen weder ich noch mein Mann. Wir möchten nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. In unserem Bekannten- und Freundeskreis würde das für … nun für gewisse Irritationen sorgen. Außerdem fürchtet mein Mann eine negative Presse. ›Vater von Dr. Lothar Demuth verschwunden‹ – wenn so was in der Zeitung stünde, könnte dies seiner Reputation schaden. Gerade jetzt, wo alle darauf warten, wer den Etat der Staatsregierung bekommt.« »Verstehe«, murmelte Lara Gropius, was absolut nicht der Wahrheit entsprach. Dass jemand die Interessen seiner Firma über die der eigenen Angehörigen stellte, kam sicher des Öfteren vor, lag jedoch jenseits ihres Verständnishorizontes. Allerdings schienen weder Carmen Demuth noch ihr Mann die genaue Gesetzeslage zu kennen. Lara lehnte sich in ihren Stuhl zurück und spielte mit einem Bleistift, während sie die Frau aufklärte. »Frau Demuth, jeder Erwachsene, der im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte ist, hat das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Es ist nicht notwendig, dass er diesen seinen Angehörigen oder Freunden mitteilt. Das heißt, die Polizei ermittelt nur, wenn eine erwachsene Person ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hat, ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist und eine Gefahr 13

für Leib und Leben besteht. All drei Faktoren zusammen ergeben erst die Notwendigkeit, polizeilich zu ermitteln.« Carmen Demuth wirkte überrascht. Aber auch erleichtert. »Ach so«, murmelte sie. »Vermuten Sie denn eine Gefahr für Leib und Leben Ihres Schwiegervaters?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »So weit würde ich auf keinen Fall gehen. Aber ich meine, wenn jemand einfach so verschwindet, … dann macht man sich halt Sorgen.« »Ihr Mann und Sie sind also übereingekommen, einen privaten Ermittlungsdienst einzuschalten und …« »Nein!« Carmen Demuth schüttelte energisch den Kopf. Lara Gropius sah sie zweifelnd an. »Nein? Sie sagten doch eben selbst, Sie suchen jemanden, der …« »Mein Mann weiß nicht, dass ich hier bin. Und er braucht es vorerst auch nicht zu erfahren, verstehen Sie?« Lara Gropius seufzte. »Noch nicht. Aber Sie werden mich sicherlich aufklären.« »Wie ich schon sagte: Mein Mann will auf keinen Fall, dass die Sache an die Öffentlichkeit gelangt. Er glaubt, dass der Alte irgendwann wieder auftauchen wird, und dann wäre die ganze Aufregung umsonst.« »Und woher rührt dieser … Optimismus? Immerhin ist Ihr Schwiegervater 87.« »Sie müssen wissen, dass der alte Demuth noch unglaublich rüstig ist. Sowohl körperlich als auch geistig. Außerdem fuhr er immer wieder mal weg. Einfach so, ohne Ankündigung.« »Ohne Ankündigung? Das heißt, er fuhr einfach weg, ohne Bescheid zu sagen?« »Ja. Früher war das noch anders. Da hat er zumindest mich oder die Kinder informiert. In den letzten Jah14