Die letzten neun Sekunden - Buch.de

oder riskante Landung? 4. Der Schatten über Katyn. 7 .... der Flugplatz Smolensk-Nord über kein automatisches Anflugsystem (ILS) verfügt. Die Flughöhe betrug ...
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Sergej Amelin

Die letzten neun Sekunden Der Flugzeugabsturz von Smolensk

Sergej Amelin Die letzten neun Sekunden. Der Flugzeugabsturz von Smolensk Vorwort und Übersetzung: Susann Weien ISBN 978-3-00-034504-3 © Informations- und Literaturbüro (ILB), Susann Weien, Leipzig 2011 

Inhalt Vorwort Der Flugzeugabsturz von Smolensk - Unglücklicher Zufall oder riskante Landung?

4

Der Schatten über Katyn

7

Die offizielle Untersuchung der Ursachen des Absturzes der Tu-154

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Die russischen Massenmedien und der Amelin-Blog

17

A��������������� ufzeichnungen, Fakten, �������� Analysen ������� Das Wetter und der Flugplatz

26

Rekonstruktion I: Die Flugbahn

44

Rekonstruktion II: Der Absturz

61

Rekonstruktion III: Die Ursachen der völligen Zerstörung des Flugzeugs Informationschaos nach der Flugzeugkatastrophe

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Rekonstruktion IV: Auswertung des ersten offiziellen Untersuchungsberichts

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88

Vorwort Der Flugzeugabsturz von Smolensk - Unglücklicher Zufall oder riskante Landung? Am 7. April 2010 gedachten der polnische Premierminister Donald Tusk und der russische Regierungschef Wladimir Putin gemeinsam der historischen Tragödie von Katyn. Unter den Gästen der Gedenkfeier waren der Filmregisseur Andrzej Wajda und der ehemalige Präsident Polens und Solidarność-Chef, Lech Wałęsa. Siebzig Jahre zuvor waren im Wald von Katyn 4421 polnische Offiziere und Soldaten vom sowjetischen Geheimdienst NKWD erschossen worden. Die Opfer von Katyn stehen für die insgesamt etwa 22.000 polnischen Armeeangehörigen, Polizisten und Intellektuellen, die 1940 in Katyn und auf Territorien des NKWD bei Twer und Charkow ermordet wurden. Nur drei Tage nach der feierlichen Zeremonie der Premierminister Russlands und Polens ereignete sich am 10. April 2010 wiederum eine polnisch-russische Tragödie und die größte Katastrophe Polens nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwanzig Kilometer vom historischen Schauplatz Katyn entfernt, im west- russischen Smolensk, kam beim Absturz einer polnischen Tu-154 fast die gesamte politische und militärische Elite des Landes, einschließlich des polnischen Präsidenten Lech Kaczyński, ums Leben, insgesamt 96 Menschen. Der Präsident war mit der Unglücksmaschine Tu-154 auf dem Weg nach Smolensk, um an einer weiteren Katyn-Gedenkfeier, organisiert vom polnischen Rat zur Bewahrung des Gedenkens an Kampf und Martyrium, teilzunehmen. Die Maschine des Präsidenten zerschellte beim Landeanflug auf den Flughafen Smolensk-Nord. Das Unglück ereignete sich innerhalb der Stadtgrenzen des russischen Smolensk. Es gab zahlreiche Augenzeugen. Einwohner von Smolensk suchten die Absturzstelle nach dem Bekanntwerden des Unglücks auf. Das Smolensker Internetportal wurde zur Informationsquelle erster Hand. Die ausführlichste und objektivste Diskussions- und Nachrichtenplattform zum Thema war das BlogTagebuch, das der Smolensker Wissenschaftler und Journalist Sergej Amelin von April bis Juni 2010 führte. Im Juli und August 2010 entstand unter dem Titel „Die letzten neun Sekunden“ eine vollständige deutsche Übersetzung seines Blogs. Die gesammelten Informationen und Analysen wurden jedoch immer umfangreicher und wir entschieden uns, die deutsche Übersetzung des 

Amelin-Blogs als Buch zu veröffentlichen. Die offiziellen Untersuchungen und die Veröffentlichung des Abschlussberichts des Zwischenstaatlichen Luftfahrtkomitees im Januar 2011 machten mehrere Überarbeitungen notwendig. Wiederholt verglichen wir die Resultate der Nachforschungen Amelins und die offiziellen Verlautbarungen. Amelins Untersuchungen und Schlussfolgerungen haben den Vergleichen und Nachrecherchen standgehalten. Umso wichiger erscheint es uns, sie hier in deutscher Sprache zu publizieren. Jetzt, ein Jahr nach der Katastrophe, sind die Umstände und der Ablauf des Unglücks im Detail bekannt, die offiziellen Untersuchungen abgeschlossen. Für Verbrechen oder Nachlässigkeiten können Täter und Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Unfälle sind dagegen oft die Folge eines unglücklichen Zusammenspiels von Zufällen. War der Absturz der Tu-154 ein Unfall oder die Folge eines Fehlers der Piloten bzw. der Fluglotsen? Am 10. April kamen eine Reihe von Zufällen zusammen: der plötzliche Nebel zum Zeitpunkt der geplanten Landung, die Unerfahrenheit der Piloten, das schwierige Landschaftsrelief, die Überschneidung mehrerer Flüge am Flugplatz SmolenskNord, die politische Bedeutung des Fluges, die hochrangigen Passagiere und der Zeitdruck aufgrund eines verspäteten Starts in Warschau. Hätte die Besatzung das Flugzeug sicher gelandet, wenn nicht zwei Stunden vor der Landung dichter Nebel aufgezogen wäre? Hätte sie auf eine Landung unter den schlechten Wetterbedingungen verzichtet, wenn politisch weniger auf dem Spiel gestanden hätte? Hätten die Flugleiter am Boden dem Piloten die Landung verbieten können? Und schließlich, wollte der Pilot die Landung ernsthaft zu Ende führen oder war er aufgrund des Nebels und falscher Höhenangaben so desorientiert, dass ein Abbruch der Landung bereits unmöglich geworden war? Die Auswertung der offiziellen technischen Untersuchungsergebnisse, Flugschreiber und die Aufnahmen aller Funk- und Telefongespräche, die vor und zum Zeitpunkt des Unglücks geführt wurden, ergeben folgendes Bild. Das Flugzeug Tu-154, Bordnummer 101, war am 10. April in Warschau um 9.27 Uhr gestartet. Die offizielle Startzeit war um eine halbe Stunde von 8.30 Uhr auf 9.00 Uhr verschoben worden. Außerdem hatte sich der polnische Präsident um etwa eine halbe Stunde verspätet, sodass die Maschine erst um 9.27 Uhr starten konnte. Um 10.22 Uhr und etwa achtzig Kilometer von Smolensk entfernt, erreichte die Tu-154 den russischen Flugraum. Der Erste Pilot trat in Kontakt mit dem Smolensker Fluglotsen. Der Fluglotse informierte die Besatzung der Tu154 über die widrigen Wetterbedingungen auf dem Flugplatz Smolensk-Nord und teilte mit, dass die Sicht nur 400 Meter betrage. Der Pilot erkundigte sich nach den genauen Wetterdaten. Eine polnische Jak-40 war anderthalb Stunden zuvor in Smolensk-Nord gelandet. Auch der glücklich gelandete Pilot der Jak40 beschrieb der Mannschaft über Funk den dichten Neben und die schlechte 

Sicht. Trotzdem schlug er der Besatzung der Tu-154 vor, einen Anflug zu versuchen. Gespräche des Piloten mit dem im Cockpit anwesenden Protokollchef des Präsidenten Kazana ergaben, dass die Situation problematisch war und man auf eine Entscheidung des Präsidenten wartete. Soll eine Landung versucht oder ein anderer Flughafen angeflogen werden? Zwanzig Kilometer von Smolensk-Nord entfernt war noch keine Entscheidung des Präsidenten gefallen. Der Pilot überführte die Steuerung in den automatischen Modus, obwohl der Flugplatz Smolensk-Nord über kein automatisches Anflugsystem (ILS) verfügt. Die Flughöhe betrug zu diesem Zeitpunkt 880 Meter. Es war 10.31 Uhr. Auf Bitte des Piloten erlaubte der Fluglotse am Boden einen Landeanflug allerdings unter der Bedingungen, dass die Landung bei Misslingen auf der Minimalhöhe von 100 Metern abgebrochen würde. Beim Landeanflug befanden sich der polnische Luftwaffenchef Andrzej Błasik und der Protokollchef des Außenministeriums, Mariusz Kazana, im Cockpit. Die Tür zum Salon stand offen. Zehn Kilometer vor Smolensk-Nord ging der Flug in die Glissade (Gleitflug) über. Das Flugzeug verpasste die Glissade jedoch. Es befand sich 120 Kilometer über der erlaubten Flughöhe. Der Pilot versuchte daher, auf die normale Anflughöhe sprich auf die Anfluglinie zurückzukehren. Das Manöver hatte zur Folge, dass die Geschwindigkeit des Flugzeuges weiterhin viel zu hoch war, 300 statt 265 Stundenkilometer. Der Flugloste gab das Kommando “Landung zusätzlich“. Das bedeutete, eine Landung war faktisch unmöglich und erforderte eine weitere Anfrage um Landung beim Fluglotsen. Die vertikale Geschwindigkeit des Flugzeugs war enorm hoch. Sie betrug etwa das Zweifache des Normalen. Das Warnsystem reagierte darauf mit dem Ton-Signal „Terrain Ahead“. Als das Flugzeug auf die Höhe von 300 Metern gesunken war, stellte die Mannschaft den elektronischen Höhenmesser auf Normaldruck um und er zeigte nicht mehr die richtige Höhe an. Für die Höhenmessung blieben nur das Höhenbarometer und der Radarhöhenmesser. Die Piloten richteten sich nach dem Radarhöhenmesser, der jedoch das Landschaftsrelief, einschließlich einer tiefen Schlucht vor der Start- und Landebahn, nicht berücksichtigte. Die vom Steuermann ab diesem Zeitpunkt angesagte Höhe war nicht mehr unbedingt identisch mit der wirklichen Höhe, sondern lag zeitweise 60 Meter darüber. Auf der Höhe von 100 Metern, d.h. auf der minimalen und letzten Entscheidungshöhe, setzte der Pilot die Landung fort bzw. stürzte aufgrund der vertikalen Geschwindigkeit weiter in die Tiefe. Das Flugzeug befand sich jetzt direkt über einer Schlucht vor dem Flugplatz. Die Besatzung konnte zu diesem Zeitpunkt keinen Sichtkontakt mit der Start- und Landebahn herstellen. Das Flugzeug stürzte weiter bis auf eine reale Höhe von 15 Metern und zuletzt von rund 3 Metern. Es tauchten erste Hindernisse am Boden vor dem Flugzeug auf. Spätestens zu diesem Zeitpunkt schaltete der Pilot rein mechanisch den 

Autopiloten ab, indem er das Steuerruder heftig an sich riss, um Höhe zu gewinnen und den Hindernissen auszuweichen. Eine Birke, Stammdurchmesser 30 bis 40 Zentimeter, wurde der Maschine zum Verhängnis. Beim Zusammenstoß mit der Birke brach das Ende der linken Tragfläche ab. Mit hoher Geschwindigkeit und mit auf vollen Touren laufenden Triebwerken drehte sich das Flugzeug um mehr als 200 Grad zur eigenen Achse, bohrte sich in der Nähe der Start- und Landebahn in den Boden und zerschellte.

Der Schatten über Katyn Katyn ist für die Polen ein Unglücksort, ein Symbol des Leids. Die Geschichte zieht Kreise und kehrt siebzig Jahre nach den Massenerschießungen im Wald von Katyn wieder an den Tatort zurück, wie um zu betonen, dass es keine Ruhe an diesem Ort geben darf, hier wo einst 4421 polnische Offiziere und Soldaten per Genickschuss erschossen wurden. Um die historische Konstellation am 10. April zu verstehen und die Bedeutung der Gedenkveranstaltungen im April zu ermessen, genügt ein Blick zurück auf die letzten zwanzig Jahre Katyn. In der Endphase der Perestroika, im April 1990, hatte der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow erstmals in der sowjetischen Geschichte öffentlich eingestanden, dass die Sowjetunion die Alleinschuld an dem Massaker in Katyn trage. Auf Regierungsebene befasst sich seit 2002 die Polnisch-Russische Kommission für schwierige Angelegenheiten mit der Untersuchung des Massakers von Katyn und dem Hitler-Stalin-Pakt. Unter Premier Tusk ist die Kommission auf polnischer Seite 2008 mit hochrangigen Historikern besetzt worden, schreibt Piotr Buras von der Gazeta Wyborcza. Neu ist die Teilnahme einer breiten Öffentlichkeit an den Diskussionen. Polnische und russische Historiker und Menschenrechtler fordern von der polnischen und der russischen Politik, die Aufklärung voranzutreiben und die Täter und Verantwortlichen für die Ermordung polnischer Offiziere, Soldaten und Zivilisten zur Rechenschaft zu ziehen. Fast fünfzehn Jahre führte die russische Militärstaatsanwaltschaft einen Prozess gegen die verantwortlichen sowjetischen Beamten. 2004 stellte das Oberste Militärgericht Russlands die Ermittlungen im Falle Katyn allerdings ein. Zur Begründung hieß es, die Mehrzahl der Akten seien weiterhin geheim und die Verantwortlichen bereits verstorben. Die Ergebnisse der Ermittlungen zum Prozess sorgten für Misstrauen. Die Untersuchung hatte laut Gerichtsurteil ergeben, dass mit Sicherheit der Tod von 1803 polnischen Militärangehörigen Folge der Beschlüsse der Troika war. 22 von ihnen konnten identifiziert werden. Die von polnischer Seite vertretene Version, es habe sich bei den Ereignissen im Frühjahr 1940 um einen Genozid am polnischen Volkes gehandelt, verwarf 

das Gericht folgerichtig ebenfalls. Enttäuscht vom Moskauer Prozess und auf Bitte der Angehörigen der Opfer begann das polnische Institut für nationales Gedenken (INP) eigene Nachforschungen, an denen 16 Ermittler und Juristen beteiligt sind. 10.000 Zeugen sollen befragt werden. Außerdem forderte das polnische Parlament 2005 von Russland, die Vorgänge 1940 als Genozid am polnischen Volk anzuerkennen. Auf jeden Fall waren die Massenerschießungen aus Sicht des INP ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Völkerrechts, da es sich bei den polnischen Offizieren um Kriegsgefangene handelte. Im April 2006 reichten die Angehörigen der Opfer beim Europäischen Gerichtshof für Menschrechte Klage gegen Russland ein. In Polen spricht man in Zusammenhang mit Katyn (Charkow und Twer) von mindestens 30.000 ermordeten Offizieren und Zivilisten. Literatur und historische Recherchen führen die Zahl von 21.857 Armeeoffizieren, Staatsbeamten, Geistlichen und Akademikern (Reserveoffiziere der polnischen Armee) an. Allein in den ersten Tagen der sowjetischen Besetzung Ostpolens waren bis zu einer halben Million Polen verhaftet worden. Viele wurden wieder freigelassen, aber etwa 130.000 blieben in den Lagern des NKWD, wurden in die Sowjetunion deportiert oder wie 40.000 Militärs, die aus den von den Deutschen besetzten Landesteilen stammten, an die Deutschen übergeben. Im Herbst 1940 deportierte die Sowjetunion die restlichen Kriegsgefangenen sowie 26.000 ihrer Familien nach Sibirien und Kasachstan. Im Januar 2009 bestätigte das Oberste Gericht Russlands erneut die Entscheidung des Obersten russischen Militärgerichts über die Einstellung des Prozesses gegen die Urheber des Erschießungsbefehls vom März 1940. Das Jahr 2010 und der 70. Jahrestag der Erschießungen in Katyn sollten jedoch den Durchbruch bringen. 2010 startete die russische Regierung eine Kampagne der russisch-polnischen Aussöhnung und einen weiteren Versuch der Aufklärung. Im Vorfeld der Gedenkfeierlichkeiten im April zeigte das russische Fernsehen erstmals den Film „Katyn“ von Andrzej Wajda. Ende April 2010 veröffentlichte das Russische Staatsarchiv auf Anweisung des Präsidenten Dmitrij Medwedjew erstmals historische Dokumente der Massenerschießungen in Katyn im Internet. Es handelt sich um Dokumente, die bestätigen, dass tausende polnische Offiziere zum Tode verurteilt worden waren und dass russisches Militär an den Hinrichtungen beteiligt war. Im Mai 2010 distanzierte sich der auf Modernisierung setzende russische Präsident Medwedjew in der Tageszeitung Izwestia von Stalins Verbrechen am eigenen Volk und bezeichnete das politische System unter Stalin als totalitär. 2010 debattierte das russische Parlament über Katyn und verabschiedete die Erklärung „Über die Katyn-Tragödie und ihre Opfer“. Darin heißt es, dass die Erschießung auf Befehl Stalins und anderer sowjetischer Anführer verübt wur

de. Zugleich bleibt das Problem der Täter und der konkreten Verantwortung. So wirft der russische Historiker und Menschenrechtler Arseni Roginski Russland vor, die eigene Geschichte zu stark im „Passiv“ zu formulieren, d.h. das Volk und den russischen Staat als Opfer der stalinistischen Politik zu betrachten und daraus das patriotisch-nationale Geschichtsbild eines „Großrussland“ konstruieren zu wollen. Die Organisation Memorial und polnische Angehörige der Opfer fordern die Freigabe weiterer geheimer Dokumente und die Fortsetzung der Ermittlungen der russischen Staatsanwaltschaft. Der Streit um Katyn, das hier ganz grob für das Schicksal polnischer Staatsangehöriger im von der Sowjetunion besetzten Ostpolen stehen soll, hat nicht nur eine russisch-polnische, sondern auch eine innenpolitische Dimension sowohl in Russland als auch in Polen. Die Geschichtspolitik in beiden Ländern ist umstritten. Zuletzt hatten kommunistische Abgeordnete des russischen Parlaments im November 2010 Dokumente, die Berijas Schuld am Tod der polnischen Kriegsgefangenen beweisen, mit großartig organisierten Expertisen in Frage gestellt. Auch in Polen geriet Katyn in den letzten Jahren zunehmend in einen politischen Machtkampf innerhalb der polnischen Elite, zuletzt bei den Vorbereitungen auf die Gedenkfeierlichkeiten im April 2010. Als Reaktion auf den Vorschlag des russischen Premierministers Putin an den polnischen Premier Donald Tusk gemeinsam am 7. April der Opfer von Katyn zu gedenken, erklärte der dazu nicht eingeladene, russlandkritische polnische Präsident Lech Kaczyński, auch er werde nach Katyn reisen. Deshalb wurden zwei Gedenkfeiern anberaumt, eine polnisch-russische der Premierminister Putin und Tusk am 7. April und eine Gedenkfeier des polnischen Präsidenten am 10. April, organisiert vom polnischen Rat zur Bewahrung des Gedenkens an Kampf und Martyrium. Katyn war in den politischen Machtkampf zwischen den polnischen Führungsspitzen, Tusk und Kaczyński, geraten. Dabei ging es nicht allein um die Frage, wer in der Republik Polen für die Außenpolitik und die Repräsentation des Staates im Ausland zuständig sei, sondern auch um die Inhalte der polnischen Außenpolitik. Mit dem Beitritt Polens zur EU und der Wahl des nationalkonservativen Kaczyńskis zum Präsidenten 2005 war Polen bestrebt gewesen, sich außenpolitisch sowohl in der EU als auch gegenüber dem östlichen Nachbarn Russland unabhängig zu positionieren. Kaczyńskis Strategie beruhte auf besonderen Beziehungen Polens zu den USA. Innerhalb der EU versuchte der polnische Präsident, sich zum Fürsprecher der osteuropäischen Staaten zu machen und eine Annäherung der EU und der Russischen Föderation zu verhindern. Eine herausgehobene ideologische Stütze der Außenpolitik des Präsidenten war die Geschichte. Im Rahmen der in Polen sprichwörtlich gewordenen „Geschichtspolitik“ sollten historische Argumentationsmuster eine starke und unabhängige Position Polens in der EU 

und gegenüber Russland legitimieren. Berechtigte Forderungen, die polnische Leidensgeschichte während des Zweiten Weltkriegs aufzuarbeiten, wurden zum Ausgangspunkt einer Strategie gemacht, die unversehens Geschichte in den Mittelpunkt des politischen Handels in der EU stellte. War es für die jungen osteuropäischen Staaten und deren Identitätsbildung nach 1990 geradezu notwendig, sich der eigenen Geschichte zu erinnern, so erwies sich die Strategie für die Durchsetzung polnischer Interessen innerhalb der EU nur zeitweise als produktiv. Interessenpolitik in der EU, etwa in Budgetfragen, ließ sich nicht über die Deportationen und Ermordung polnischer Bürger 1940/41 definieren, ebensowenig wie sich ein Block osteuropäischer Staaten in der EU unter der Führung Polens über historische Legate und Ansprüche schmieden ließ. Katyn und der Molotow-Ribbentrop-Pakt (Hitler-Stalin-Pakt) haben für die polnische Geschichte eine einzigartige Bedeutung. Die Aufarbeitung der Verbrechen während der sowjetischen Besetzung Ostpolens 1939 bis 1941 ist für die Polen Vorbedingung einer Normalisierung der polnisch-russischen Beziehungen. Der Richtungswechsel in der polnischen Geschichtspolitik unter dem 2007 gewählten pragmatischeren Premierminister Tusk bedeutete auf lange Sicht und entgegen der Strategie des polnischen Präsidenten Kaczyński eine Depolitisierung der historischen Themen. Das wurde spätestens nach der Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten offenbar, als sich auch die Ausrichtung der Sonderbeziehungen Polens zu den US wandelte und nicht mehr explizit gegen eine historisch belegbare „Bedrohung durch ein russisches Imperium“ gerichtet war. Der in der semi-präsidialen Verfassung Polens angelegte Konflikt innerhalb der Exekutive, zwischen dem Präsidenten Kaczyński und dem Premier Tusk vor allem in der Außenpolitik war vorprogrammiert.. Premier Tusk verzichtete auf das Junktim, Geschichtspolitik und aus der Geschichte abgeleitete „Entschädigungen“ einerseits gegen politische Zugeständnisse andererseits aufzuwiegen oder aus der Geschichte, Ansprüche und Schlussfolgerungen abzuleiten, die einer modernen und pragmatischen Außenpolitik im Wege stehen. Die auf Tusks Politikwechsel folgende Annäherung der polnischen und der russischen Eliten bedeutete für die weitere Untersuchung der historischen Ereignisse in Katyn jedoch keinesfalls das Ende. Aber auch hier vollzog sich ein Wandel. Die für Polens Selbstfindung so immanente Geschichtspolitik gewann sogar an Fahrt, nunmehr unter dem Vorzeichen einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und Polen sowie einer stärkeren Orientierung auf die EU. Für Präsident Kaczyński waren und blieben die Beziehungen zu Russland problematisch. Seine Sicht auf die historischen Ereignisse in Katyn richtete sich gegen die Konstruktion einer verbindenden und versöhnlichen russischpolnischen Opferperspektive. Bei den Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des 10

Kriegsbeginns im Herbst 2009 hatte er mit einem Seitenhieb in Richtung Russland die Erschießung der polnischen Offiziere in Katyn mit dem Holocaust verglichen. Der Hitler-Stalin-Pakt bezeichnete er als Dolchstoß in den Rücken Polens. Bereits beim EU-Gipfel in Brüssel 2009 war es zwischen den polnischen Regierungsspitzen zum Eklat gekommen, als sich für den Präsidenten kein Platz im polnischen Regierungsflugzeug gefunden hatte. Die Einladung des russischen Premierministers Wladimir Putin an Donald Tusk zur KatynGedenkfeier war für den polnischen Präsidenten eine weitere Brüskierung. Die Geschichtspolitik galt als wichtigste Stütze seiner außenpolitischen Strategie und seiner außenpolitischen Kompetenzen. Deshalb entschied sich Kaczyński, auf jeden Fall ebenfalls nach Katyn zu reisen und wenn nötig, mit einer eigenen Gedenkfeier an die historische Wahrheit des Zweiten Weltkriegs zu erinnern.

Die offizielle Untersuchung der Ursachen des Absturzes der Tu-154 Zur vom polnischen Präsidenten anberaumten Gedenkfeier am 10. April 2010 kam es nicht. Um 10.41 Uhr Moskauer Zeit stürzte das Flugzeug des polnischen Präsidenten, die Tu-154, Bordnummer 101 ganz in der Nähe des Smolensker Militärflugplatzes Sewernyj (Smolensk-Nord) ab. Noch am selben Tag traten das Zwischenstaatliche Luftfahrtkomitee (MAK) und eine Staatliche Kommission zur Untersuchung des Flugzeugunglücks in Aktion. Mitte Mai 2010 veröffentlichte das MAK eine erste Bestandsaufnahme seiner Untersuchungen zum Unglückshergang. In dem am 19. Mai 2010 präsentierten vorläufigen Bericht konnten keine technischen Ursachen für den Absturz der Maschine angegeben werden. Die sehr kurz gehaltene Darstellung konzentrierte sich demzufolge auf den Ablauf der Katastrophe selbst. Trotz schlechter Wetterprognose und der Erklärung der Fluglotsen am Boden, die Bedingungen für eine Landung seien nicht gegeben, setzte die Besatzung zu einer Landung an. Der Versuch, das Flugzeug durch einen Aufstieg doch noch aus der Gefahrenzone zu bringen, scheiterte dann am Landschaftsrelief. Vor dem Flugplatz befindet sich eine Schlucht, die dem Flugzeug zum Verhängnis wurde. Wegen eines Abhangs stieg die Maschine real nicht, sondern sank zunächst weiter. Beim ersten Zusammenstoß mit einem Hindernis befand sich das Flugzeug real 15 Meter unter der Stirnseite der Landebahn. Ein weiterer Zusammenstoß mit einer Birke (Durchmesser 30-40 cm) führte zur Zerstörung und Auflösung der Flugzeugkonstruktion. Fünf bis sechs Sekunden später schlug das Flugzeug verdreht und mit dem Flugzeugdach zuerst auf dem Boden auf. 11

Das Zwischenstaatliche Luftfahrtkomitee übergab am 21. Mai 2010 die Aufzeichnungen des Flugschreibers der Tu-154 an die polnische Seite, die sie unter dem Druck der polnischen Öffentlichkeit allen Bürgern im Internet zugänglich machte. Von den Aufzeichnung erhoffte man sich Antwort vor allem auf eine Frage: Was geschah im Flugzeug Minuten und Sekunden vor dem Absturz? Hatte der Präsident auf einer Landung bestanden? War ein Pilotenfehler die Ursache des Unglücks? Wie aus den Aufzeichnungen des Flugschreibers hervorgeht, befanden sich während der missglückten Landung zwei Personen im Cockpit der Tu-154, die nicht zur Besatzung gehörten, der polnische Luftwaffenchef Andrzej Błasik und der Protokollchef des Außenministeriums, Mariusz Kazana. Laut Flugschreiber wurde die Besatzung 17 Minuten vor dem Unglück von einer kurz zuvor gelandeten Jak-40, einem Regierungsflugzeug, mit dem Journalisten nach Katyn unterwegs gewesen waren, gewarnt. Die Sicht betrage 400 Meter. Tiefe Wolken würden über dem Flugplatz vertikal nur eine Sicht von weniger als 50 Meter erlauben. Der Fluglotse in Smolensk teilte der Besatzung ebenfalls mit, dass die Bedingungen für einen Empfang der Maschine auf dem Flugplatz derzeit nicht gegeben seien. Der Pilot bat trotzdem um Erlaubnis, einen Testanflug in Höhe von 100 Metern zu versuchen. Fünfzehn Minuten vor dem Absturz teilte der Pilot dem Protokollchef Kazana mit, dass eine Landung nicht möglich sei und man eventuell auf einen Flughafen in Witebsk oder Minsk ausweichen müsse. Die Antwort von Kazana lautete, der Präsident habe noch nicht entschieden, was zu tun sei. Auch der im Cockpit anwesende Luftwaffenchef Błasik traf keine Entscheidung. Man hört ihn nur sagen „100 Meter“, als die Entscheidungshöhe für einen eventuellen Abbruch erreicht worden war. Für ein Abdrehen war es zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits zu spät. „’Keine Entscheidung’: Das Wort könnte zum Schlüsselbegriff dieser Katastrophe werden“, schrieb Konrad Schuller am 4. Juni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Laut den Daten des Flugschreibers sei auf die Besatzung offensichtlich, zumindest verbal, keinerlei Druck ausgeübt worden. Aber es sei eben auch keine Entscheidung getroffen worden, die Landung abzubrechen. Die aufgeschobene Entscheidung hatte für alle Flugzeugpassagiere tödliche Folgen. Mit dem vorläufigen Bericht und der Veröffentlichung der im Flugschreiber aufgezeichneten Gespräche lag vorerst nur eine erste Bestandsaufnahme vor. Der Abschließende Bericht des MAK wurde am 20. Oktober 2010 an die polnische Regierung übergeben. Der Schlussbericht stieß in Polen auf Unverständnis. Er sei einseitig und berücksichtige lediglich Fakten, die Fehler in der Vorbereitung des Flugs von polnischer Seite sowie Fehler der Piloten beim Anflug belegen. Der Bericht der MAK hatte klargestellt, dass es sich um einen internationalen Flug handelte und die entsprechenden Richtlinien der 12

AIP (Handbuch: Informationen zur Flugnavigation - Sbornik aeronawigazionnoj informazii) gelten. Demnach führen die Piloten den Flug und die Landung in eigener Verantwortung durch. Sie entscheiden auch selbständig über Start und Landung auf einem Flugplatz. Laut Abschlussbericht der MAK hatten die polnischen Piloten zu wenig Flugerfahrung auf einer Tu-154.

Zwischenstaatliches Luftfahrtkomitee. Abschlussbericht vom 12. Januar 2011

Ihr Verhalten bei der Landung habe gezeigt, dass sie die Steuerung der Tu-154 nicht ausreichend beherrschten und dass sie außerdem mit den Landebedingungen schlecht vertraut waren, was wiederum vor allem auf eine schlechte Vorbereitung des Fluges und die Unerfahrenheit der Piloten zurückzuführen sei. Laut Bericht versuchte der Erste Pilot, das Flugzeug manuell auf die erforderliche Höhe bringen, als er bemerkt hatte, dass er sich über der Glissade befand. Das führte dazu, dass er, wie bei der manuellen Steuerung üblich, übersteuerte und von diesem Moment an die Sinkgeschwindigkeit um vieles höher war, als bei einem standardmäßigen Anflug vorgesehen. Ein weiterer wichtiger Punkt in der Darstellung der Ursachen des Flugzeugunglücks betraf den psychischen Zustand des Piloten und die Situation in der Pilotenkabine während des Anflugs auf Smolensk. Die Anwesenheit des Luftwaffenchefs Andrzej Błasik und des Protokollchefs des Außenministeriums, Mariusz Kazana, 13

im Cockpit verstärkten den Druck auf den Piloten, die Landung zu versuchen und ab einem bestimmten Punkt ohne Rücksicht auf Sichtbedingungen und auf die Aufforderung der Smolensker Fluglotsen, fortzusetzen. Nach Abschluss der Ermittlungen und Übergabe der Ergebnisse an die polnische Regierung, verfassten polnische Experten Anmerkungen. Die Verfasser der Anmerkungen bestritten, dass es sich um einen internationalen Flug gehandelt habe, vielmehr war der Flug aus ihrer Sicht militärischer Art und deshalb hätten die Fluglotsen in Smolensk größeren Einfluss auf den Verlauf der Landung nehmen, ja die Landung verbieten müssen. Die polnischen Spezialisten bemühten sich ihrerseits nachzuweisen, dass die Fluglotsen in Smolensk zu wenig Erfahrung hätten und bestimmte Routineabläufe wie medizinische Untersuchungen, Angaben zu Höhe und Lage des Fluges nicht ordnungsgemäß erfolgt seien. Die polnische Seite kritisierte außerdem, dass weder die polnischen Piloten noch die Fluglotsen am Boden gewusst hätten, ob sich das Flugzeug auf der richtigen Anfluglinie befand. Von dem mehr als 157 Seiten umfassenden polnischen Text berücksichtigte die MAK unter der Leitung von Tatjana Anodina (Vorsitzende der MAK, Vorsitzender der technischen Kommission des MAK Aleksej Morozow) etwa zwanzig Anmerkungen vor allem technischer Art. An den wichtigsten Schlussfolgerungen der MAK änderte sich durch die Berücksichtigung des polnischen Textes nichts. Die Anmerkungen wurden dem offiziellen Bericht in polnischer Sprache beigefügt und gemeinsam mit dem Abschließenden Bericht veröffentlicht. Am 12. Januar 2011 fand in Moskau eine Pressekonferenz aus Anlass der Präsentation des Berichtes statt. Das MAK stellte die wichtigsten Aussagen des Berichtes vor und präsentierte ein Video, das den Flug rekonstruierte und alle Gespräche, die an Bord der Tu-154 geführt wurden, parallel zum Flugverlauf zu Gehör brachte. Auch die Bordinstrumente der Tu-154 wurden eingespielt, sodass sich die Zuschauer einen detaillierten Überblick über den Verlauf des Fluges verschaffen konnten. Der Abschlussbericht des MAK vom 12. Januar wurde in Polen sehr zwiespältig aufgenommen. Regierungschef Donald Tusk erklärte jedoch nur einen Tag nach der Präsentation des Berichts, dass die polnische Seite die größere Schuld an dem Unglück trage. Er bestätigte auch, dass es sich aus seiner Sicht tatsächlich um einen internationalen Flug handelte und die Untersuchungen deshalb entsprechend der AIP geführt wurden. Laut den russischen Flugvorschriften für internationale Flüge führen die Piloten den Anflug selbständig durch. Außerdem geht bei der Entscheidung des Piloten, trotz nicht gegebener minimaler Landebedingungen einen Landeversuch zu starten, die Verantwortung vollständig an die Besatzung des Flugzeugs über. Tusk sagte in seinem Kommentar zum Bericht aber auch, dass der Abschlussbericht 14